Kunst und Religion im poetischen Dialog

26. April 2011 | von

Was kann Kunst zu den drängenden Gegenwartsfragen wie Klimawandel, Flüchtlingsströme und Religionsfrieden sagen? Poetische Antworten gibt die finnische Künstlerin Maaria Wirkkala in ihrer Ausstellung SHARING, derzeit im Kulturzentrum bei den Minoriten in Graz zu sehen. Tiere vollführen einen Drahtseilakt über den Kreuzgang des Minoritenklosters hinweg und halten, pünktlich zum 400-Jahr-Jubiläum der Mariahilferkirche, Einzug in die Räume des Konvents. Der Leiter des Kulturzentrums,

Dr. Johannes Rauchenberger, gibt Einblicke in das inspirierende Spannungsfeld zwischen Gegenwartskunst und spiritueller Tradition.



Graz, 25. März 2011: In der Mariahilferkirche geht die Messe des Patroziniumsfestes zu Ende. Die Dunkelheit ist gerade hereingebrochen. Die Türen öffnen sich in den historischen Kreuzgang hinein. Einen Stock höher versammeln sich auf der gegenüberliegenden Seite KunstbesucherInnen zur Vernissage einer international arrivierten Künstlerin. In dem Moment, als die Eröffnungsansprache anheben will, dringen von unten her Stimmen hoch, die den Klang der Marienlitanei „Mutter Go-ottes, wir ru-ufen zu dir“ freigeben. Ein Responsorium. Wieder alle. Abwechselnd. Lichter. An eine Eröffnungsansprache ist nicht zu denken. Die Fensterläden aus Holz hat die Künstlerin daraufhin kurzerhand geöffnet, und wir sehen die Prozession mit Kerzen in der angebrochenen Dunkelheit durch den Kreuzgang ziehen, einen Stock unterhalb jener Tiere, die auf einem Stahlseil in die Ausstellung wandern. Wir warten die Litanei-Gesänge ab. „This is sharing“, sagt Maaria Wirkkala. Geplant hätte die Performance so sicher nicht funktioniert.

SHARING, der Titel ihrer Ausstellung (bis 22. Mai zu sehen), heißt teilen. Oder aufteilen? Zuteilen? Vermehren? Gemeinsam nutzen? Anteil haben? Anteil nehmen? Einen Tag zuvor begannen einfache Tiere, das „Sharing“ des öffentlichen Raumes des Minoriten-Kreuzgangs in Anspruch zu nehmen – mit einem klaren Ziel. Sie schienen den Gittern über den Arkaden zu entkommen, um prekär balancierend in schwindelnder Höhe ins Kloster zu ziehen. Die Gefährlichkeit ihres Unternehmens ist augenscheinlich, die Festigkeit ihres Zugs beklemmend. Hoch oben, hinter den Klosterfenstern, die auch nach 400 Jahren noch keine Fensterscheiben aufweisen, treten sie in einen Raum, in den sie offenkundig wollen. Es wäre gelogen, dass die Kunst bei den Minoriten in Graz den Mönchen bei den Minoriten und den Messbesuchern bei den Minoriten zur Erhebung gereicht. Aber es reicht Respekt, der eine Tugend ist, die Menschen adelt. Was berechtigt also dazu, ausgerechnet anlässlich des 400-Jahr-Jubiläums der Grazer Minoritenkirche dieses Zentrum für zeitgenössische Kunst der Diözese Graz-Seckau, das seit 36 Jahren an diesem historischen Ort beheimatet ist, vorzustellen? Vielleicht ist es bloß diese Geschichte der Eröffnung von SHARING, denn auch das Eröffnungsdatum selbst war von mir aus symbolisch gewählt. Zwei Welten meinen etwas Ähnliches, auch wenn es in der je eigenen Sprache nicht so erscheinen mag. Und genau da haben die Chancen der Inspiration zwischen Kunst der Gegenwart und traditionsgetränkter Religion ihren Anfang.

Ich möchte also weniger dem Kulturzentrum bei den Minoriten als einer internationalen Schnittstelle von Kunst, Gegenwartskultur und Religion das Wort reden, als vielmehr einer Kunst, die auf die Atmosphäre, den Glanz und die Brüchigkeit dieses Ortes eingegangen ist. Daran wird etwas sichtbar, wie Zeitgenossenschaft, Geschichte und aktuelle Frömmigkeitspraxis in eine Kommunikation eintreten, die sie scheinbar trennt. Es ist vor allem eine solche Kunst, die auf dem Boden der Gastfreundschaft der Minoriten möglich war, nicht im vertragsabgesicherten Galerieraum selbst. Gerade weil sie damit auf unsicherem Ort Platz genommen hat, gibt sie Erkenntnismomente frei über den franziskanischen Impuls dieses Ortes.



Flucht der Tiere

Im Frühling 2011 ist der Grazer Minoriten-Kreuzgang zwar spärlich, aber umso deutlicher von dem genannten Zug der Tiere der finnischen Künstlerin Maaria Wirkkala belegt. Man könnte den balancierenden Tieren höchstens eine Luftbenutzungssteuer abverlangen, wie das im öffentlichen Raum üblich ist. Aber ansonsten sind diese Tiere friedlich. Der Löwe scheint zu grollen, die Elefanten geben sich Mühe, nicht aus dem Gleichgewicht zu fallen, einzig der Hippo schreit seine Einsamkeit hinaus, als ob er den größten Schmerz zu schreien hätte. Alles in allem ist der Zug geordnet, aber er findet auf sehr gefährlichem Wege statt. Es geht ein Befreiungsprozess vom vergitterten Halbstock – baugeschichtlich einzigartig, doch nur von Menschen bis zu einer Größe von 1,65 cm zu betreten – zum Kloster vor sich.

Wer ins Innere der Mauern dringt, wird sehen, dass die Tiere weitergehen, hinein in einen Raum, der im Schatten dreier Zebras sein Ende findet. Daneben befindet sich ein geöffnetes Fenster, das den Blick in den Nachthimmel freigibt, und die von der Künstlerin im Alter von sechs Jahren gezeichneten Engel, die seit fast einem halben Jahrhundert auf der ganzen Welt als Wandtapete unzählige Kinderzimmer bekleidet haben, hereindrängen lässt. „ESCAPE“, so der Titel des Raumes, ist die andere Seite des Entkommens der Tiere aus dem Verlies ihrer Herkunft. Am Ende der Gangflucht der Tiere steht eine Leiter aus Glas: Diese ist wohl für uns für einen mentalen Aufstieg gedacht. Ein Ort wie dieser unterstützt eine Sprache der Kunst, die mit den Mitteln der Poesie und der Sprache des Kindlichen Geschichten der Befreiung und der Emanzipation erzählt. Es ist offensichtlich, dass es bei diesen Tieren nicht einfach um Spielzeug geht.

Und wer nicht lächeln kann, wenn er durch den Kreuzgang huscht, wenn er verstohlen zu den Tieren blickt, der muss sein Kindsein noch einmal ausgraben lernen. Mag ihm/ihr Franziskus, der, so sagt man, mit den Tieren gesprochen hat, dabei helfen. Für die Künstlerin Maaria Wirkkala, die drei Mal an der Biennale von Venedig teilgenommen hat, ist es der Versuch, mit Hilfe dieser kleinen Tiere das Unaussprechbare, das Menschen erdulden oder das ihnen angetan wird, zu sagen, ohne dass es entwertet wird. Es ist der Versuch, einen Zug der Tiere zu zeigen, der dieses Erstaunen zum Ausdruck bringt: SO WHAT. So was. Und jetzt?



Kunst legt frei

Ein Jahr zuvor, zur Eröffnungsausstellung der neuen Räume mit dem Titel PROMETHEUS!, war dieser Innenhof des Kreuzgangs Ort für eine Säule, die sich zu den zahlreichen der Arkaden auf der Wiese dazugesellte. Die Säule zeigte Hunderte Menschensilhouetten aus Metall, die sich nach oben immer mehr verjüngten. Die österreichische Künstlerin Marianne Maderna hat damit den Entrechteten, die sich zur Befreiung hin nach oben öffnen, ihre eigene Art der Siegessäule verschafft. Für sie war es ein Akt der Solidarität an einem Ort, der spirituell für Befreiung steht. Vier Jahre vorher war der Hof ein Friedhof für Grabplatten der letzten Worte der deutschen Künstlerin Madeleine Dietz: „Deine Augen, Deine Lippen, Deine Haare…“ waren dem Witterungswandel von Winter und Frühling ausgesetzt. Kunst, so gedacht, legt frei, was diesen spirituell konnotierten Orten anhaftet: Möglichkeiten zu eröffnen, einen Überstieg zu schaffen, heraus aus der Enge in eine transzendente Welt der Erlösung und der Entfesselung von Zwängen, denen wir täglich ausgeliefert sind.

Kunst, die in historischen Gemäuern von Kirchen und Klöstern ihre ästhetische Kraft entfalten kann, führt aber immer auch einen Dialog mit Geschichte, selbst wenn Orte säkularisiert worden sind, was in Graz ja nicht der Fall ist. Aber keine Generation steht für sich alleine da, als ob es jene vor ihr nicht gegeben hätte. Gerade an historischen Orten gibt es die Macht des Ortes. 400 Jahre Minoritenkirche Mariahilf in Graz, das bedeutet auch: Sich die Daten des Anfangs zu vergegenwärtigen. 1611 war jene Zeit, als die Gegenreformation in Graz voll zum Tragen kam. Der Baumeister des Mausoleums Ferdinands II., Pietro de Pomis, liegt in der Mariahilferkirche begraben. Er hat auch das Bild gemalt, zu dem Abertausende in den folgenden Jahrhunderten pilgerten, bis heute: Maria Hilf! Wundertätig war es von Anfang an, und es hat den Maler selbst geheilt. Die begüterten Eggenberger haben nicht nur einen zweiten Escorial nach Graz gestellt, sondern den Minoriten damals auch eine neue Wohnstatt erbaut, Kloster wie Kirche, und 100 Jahre später auch noch den prächtigen Minoritensaal, der auch für das Kulturzentrum in den letzten 35 Jahren das Herzstück seines Wirkens gewesen war – in Form von Konzerten, Lesungen, Vorträgen und Diskussionen. Unübersehbar das Schild an der Stirnseite des Saales: „SILENTIUM!“

Das Einfordern der Stille galt zwar dem Vorgang des Essens im opulenten Saal, samt seinen Heiligen und der Speisung der 10.000 von Johann Baptist Raunacher, aber bereits an der Wegkreuzung am Kreuzgang weist das Schild an den Füßen des Johannes Nepomuk auf die Stille hin. Diese gilt freilich nicht der Gedankenlosigkeit des Alltagsgeschwätzes, sondern der Hütung des Beichtgeheimnisses. Johannes war ein Propagandaheiliger des Barock im Habsburgerreich. Beichte ein Identitätsmerkmal katholischer Konfession.

Im Zuge des Umzugs des Kulturzentrums bei den Minoriten 2009/2010 vom II. in den I. Stock des Klostergebäudes hat der in Wien lebende steirische Künstler Norbert Trummer den Umzugsprozess mit dem Zeichenstift auf Postkartengröße festgehalten. Er wählte seine Motive des Umbruchs aus freien Stücken. Doch manche von ihnen hatten längere Halbwertszeiten. Eines davon: Johannes Nepomuk. Aber im Zuge der weiteren Bearbeitung – über Zeichnung, Eitemperabild aus sechs Motiven bis hin zu dem daraus entstandenen Trickfilm beginnt dieser Heilige mit seinem Wissen zu ringen, das Video verrät den inneren Kampf, das ihm anvertraute Sündenwissen freizugeben. Doch der Putto an seinen Füßen warnt beharrlich: „Psst!“ Geschichte hat Tiefendimensionen, die aus der Kraft scheinbar abgelegter Stücke kommen. Niemand lebt für sich allein, auch die jeweilige Zeit mit ihren Moden nicht.

Orden kamen nie ohne finanzielle Mittel aus, auch wenn sie einmal mittellos begonnen hatten. Was die Eggenberger den Minoriten schenkten, hat auch seine Schattenseiten. Dieses Problem kann man bei den Minderbrüdern schon in San Francesco in Assisi auch nach Jahrhunderten nachfühlen. Es muss ein Konflikt begraben liegen: Hier der Anspruch des Gründers und dort dessen Verherrlichung in der Kunst. Wie sich Franziskus und Giotto im Himmel wohl vertragen? Die unterschiedlichen Richtungen des Ordens, wie das Armutsgelübde aufzufassen sei, haben auch in Graz die diesbezüglich radikaleren Franziskaner (Observanten) und die den Besitz als Gemeinschaft auffassenden Minoriten (Konventualen) entzweit. Die Minoriten hatten schließlich von ihrem ersten Ort, an dem sie bereits wenige Jahre (1230!) nach der Ordensgründung angekommen waren, 1515 endgültig gehen müssen. Doch 100, 200 Jahre später wurden sie eben mit einem Sponsor reich belohnt.



Bereichernde Zwiesprache

Auf den majestätischen Stiegenaufgang zum Minoritensaal haben seit 1964 bis zur Vertragsveränderung im Jahre 2009, an dem das gesamte Klosterareal von der Diözese wieder ganz in die Verwaltung des Ordens zurückgegeben wurde, Hunderte von Künstlerinnen und Künstlern mit ihrer Kunst reagiert. Immer wieder war das Franziskanische dabei ein Thema – unter jenem Fresko, das die Apotheose des Franziskus zeigt. Es wurden dabei arme Materialien im Sinne der Arte Povera ausprobiert – Wursthäute auf Eimer zum Beispiel. Es wurde die radikale Reduktion gewählt, es wurden Pflanzen mit Kunst beseelt, es wurden die Fenster mit Zellenstrukturen zugemalt, es wurden die Schatten des Lusters nachgezeichnet, es wurden Legotechnikuhren angebracht, es wurden weitere Fenster virtuell geöffnet, es wurden sechs Kilometer Kabel verlegt, an dessen einem Ende ein Stecker und am anderen eine Lampe leuchtete, hinter zugerußten Bildern von Hitlers Vernichtungslagern, es wurden Spaliere erstellt und der Luster mit Bastborten verziert, es wurden die Engel gezeichnet, inszeniert, zugemalt, abgegossen. Es war in der Kreativität der Kunstschaffenden kein Ende abzusehen, wie man zeitgenössisch mit einem pathetischen Raum umgehen kann – wie man dessen Haltung durchschauen kann, ihn aufwerten, schätzen, würdigen, aber auch im Namen des in unserer Zeit so akzeptierten Heiligen Franziskus kritisieren kann. Auch wenn das alles für den genannten Ort derzeit Geschichte ist: Bilder graben sich ins Gedächtnis ein, auch ins kollektive. Nur wer zu Bildern eine positive Einstellung hat, wird ein Erneuerungspotential entfachen. Das würde selbst Franziskus unterstreichen. SHARING! Seine Sprache, seine Art der Predigt und sein Beten vor Bildern, die lebendig werden, bürgen dafür. Insofern sind sich „die Minoriten“ (so wird das Kulturzentrum in Graz in der Öffentlichkeit genannt) und die wirklichen Minoriten näher als man bisher angenommen hat.

Zuletzt aktualisiert: 06. Oktober 2016