Leben in einer Welt ohne Erinnerung

18. September 2008

Das Thema Demenz wird in der Öffentlichkeit zunehmend präsenter. Viele Menschen fühlen sich verunsichert: Was, wenn ich selbst betroffen sein werde? Woran erkenne ich die ersten Symptome? Wie verhalte ich mich im Umgang mit Erkrankten? Unsere Autorin, Leiterin des Sozialen Dienstes einer Kölner Seniorenresidenz, klärt auf.


R onald Reagan, Helmut Zacharias, Charlton Heston, Helmut Schön, Herbert Wehner: Man könnte diese Aufzählung prominenter Menschen noch erweitern. Was sie gemeinsam haben? Sie alle erkrankten an unterschiedlichen Formen von Demenz.

Lange Zeit war dieses ein Tabu-Thema. Seit Ronald Reagan 1994 einen offenen Brief über seine Erkrankung schrieb und Charlton Heston sich 2002 öffentlich vor der Kamera verabschiedete, hat sich viel getan. „Demenz" ist ein Thema für die Medien geworden, die Erforschung der Krankheit wird vorangetrieben,

Forschungszentren wurden eingerichtet. Auch die Krankenkassen reagieren zunehmend mit Broschüren zur Aufklärung, Patienteninformationen, Gesprächsangeboten sowie Hilfen für Angehörige. Übrigens berücksichtigt auch das gerade überarbeitete Pflegeversicherungsgesetz den besonderen Hilfe- und Betreuungsbedarf von Demenzkranken. Studien zufolge gibt es in Deutschland circa 1,2 Millionen an Demenz erkrankte Menschen (im Vergleich: in der Schweiz leben knapp 90.000, in Österreich gut 100.000), das sind immerhin etwa 1,5 Prozent der Bevölkerung.



Definition. Der Begriff „Demenz" leitet sich ab von lateinisch de (= ab, weg) und mens (= Geist, Verstand) und ist der Oberbegriff für eine unheilbare Hirnleistungsstörung. Man versteht darunter eine langfristige Gedächtnisstörung, verknüpft mit Einbußen wie Probleme, Worte zu finden bis hin zum Verlust der Sprache, dem Verlust der Fähigkeit zu planen oder zu entscheiden, Alltagsprobleme zu lösen oder trotz intakter Sinnesorgane Wahrgenommenes zu erkennen. Eine Verschlechterung der Leistung im beruflichen oder sozialen Bereich ist erkennbar. Das heißt, es handelt sich um anhaltende Störungen höherer Gehirnfunktionen mit unterschiedlichen Ursachen, die aber alle auf körperliche Erkrankungen zurückzuführen sind.



Man unterscheidet außerdem primäre und sekundäre Demenzen. Als primäre Demenzen werden solche bezeichnet, die auf direkter Hirnschädigung basieren (zum Beispiel durch die Alzheimer-Krankheit, mit circa 60 Prozent die häufigste Ursache). Sekundäre Demenzen sind Folgeerscheinungen anderer Grunderkrankungen (zum Beilspiel Tumore, Kopfverletzungen). Eine sichere Diagnose zu stellen ist nicht einfach.



Je bekannter die Krankheit wird, desto größer ist auch die Angst, sie zu erleiden. Wichtige Gebiete der Forschung sind daher die Identifizierung und Beeinflussung von Risikofaktoren, die Verbesserung der Früherkennung und die Entwicklung von Behandlungsstrategien. In keinem dieser Bereiche sind die Ergebnisse bisher eindeutig.



Schleichender Verlauf. Obwohl Faktoren wie (Schul-) Bildungsniveau und Schichtzugehörigkeit immer wieder untersucht werden, kommen Wissenschaftler diesbezüglich zu keiner eindeutigen Aussage. Als Hauptrisikofaktoren gelten vielmehr genetische Faktoren und das Alter sowie viele Arten körperlicher Erkrankungen. Daher wird empfohlen, allgemein auf eine gesunde Lebensweise zu achten und Übergewicht, Rauchen, Bluthochdruck und hohen Cholesterinspiegel zu vermeiden. Körperliche (sportliche) Betätigung sowie geistige Anregung und das Pflegen sozialer Kontakte sind mindestens ebenso wichtig. Nach einer amerikanischen Langzeitstudie wird dadurch das Auftreten von Demenz vermindert beziehungsweise verzögert.



Vor allem die Alzheimer-Krankheit hat eine lange Verlaufsphase: bis zu 30 Jahre. Zu Beginn gehen über mehrere Jahre meist unbemerkt Nervenzellen im Gehirn verloren. Daher ist die Früherkennung schwierig. Der Erkrankte selber und seine Umwelt bemerken es meistens an Kleinigkeiten, die zu Beginn von einer altersbedingten Vergesslichkeit kaum zu unterschieden sind: Dinge werden vergessen, Gegenstände verlegt, Neues kann kaum noch erlernt werden, Organisation und Konzentration fallen schwer. Der Betroffene bemerkt seine Defizite und entwickelt Strategien, damit sie der Umwelt nicht auffallen. Er leugnet möglicherweise, reagiert gereizt oder überspielt Situationen mit Floskeln. So erlebte ich, dass Frau G. ihre Brille suchte. Ihre Vergesslichkeit war ihr wohl unangenehm und sie erklärte plötzlich: „Ach, ich brauche sie im Moment sowieso nicht."



Was ist Zukunft? Im fortgeschrittenen Stadium bemerkt die Umgebung eine erhebliche Veränderung im Denken und Verhalten des Erkrankten: Gesagtes wird unmittelbar wieder vergessen, dieselben Fragen oft wiederholt, auf das Langzeitgedächtnis kann nicht mehr willkürlich zugegriffen werden (obwohl es viel besser funktioniert als das Kurzzeitgedächtnis), Situationen können nicht gedeutet und eingeschätzt werden. Ich sehe oft Demenzkranke in unserem Speiseraum reglos vor einem Teller mit ihrer Mahlzeit sitzen. Sie essen nicht, weil sie mit dem Besteck oder dem Essen nichts anzufangen wissen. Die Zukunft wird zu einem unverständlichen Zeitbegriff, ihre Planung ist nicht möglich.



Bei einer schweren Demenz ist die sprachliche Äußerung von Wünschen und Gedanken oft nicht mehr möglich, selbst die Sprache wird vergessen. Die Fähigkeit, abstrakt zu denken, ist nicht mehr vorhanden, der Sinn von Dingen kann nicht erfasst werden. Oft habe ich erlebt, dass Erkrankte Blumen zerpflückten und das Blumenwasser trinken wollten. Das Zeitgefühl geht verloren, bekannte Personen, auch die eigenen Kinder, werden nicht erkannt, eine räumliche Desorientierung („Verirren" in Straßen oder der Wohnung) nimmt zu. Bewegungen sind oft eingeschränkt, Schwierigkeiten beim Essen und Schlucken treten auf.



Derselbe Kern. Mit diesen Symptomen kann sich die gesamte Persönlichkeit verändern, was sich im Verlust der Kontrolle von emotionalen Äußerungen und Verhaltensauffälligkeiten zeigt. Wir sollten aber immer bedenken: Was dem Erkrankten dabei erhalten bleibt, sind der Persönlichkeitskern, seine Gefühle und Bedürfnisse (sowohl körperliche als auch soziale).



Es gibt einige Behandlungsmöglichkeiten, die sich nicht nur auf die Erkrankung beziehen, sondern auch auf die Situation des Erkrankten und seiner Angehörigen. Der Einsatz von Medikamenten ist wie die Krankheit sehr vielfältig, wobei es nicht das Medikament gegen Demenz gibt. Es spielt eine grundlegende Rolle, welche Art der Demenz vorliegt. Ist sie auf Schlaganfälle zurückzuführen, werden andere Wirkstoffe benötigt als zur Behandlung der Alzheimer-Krankheit. Verschiedene Arzneimittel sowohl chemischer als auch pflanzlicher Natur (Ginkgo, Knoblauch) werden zur Förderung der Durchblutung und dadurch zur Verbesserung der Gedächtnisleistung verschrieben. Sie erhöhen die Lebensqualität, können die Krankheit jedoch nicht heilen.



Zu den nicht-medikamentösen Behandlungen gehören verschiedene Arten von Therapien zur Erhaltung der Alltagskompetenzen: Krankengymnastik, um die Beweglichkeit zu fördern; Ergotherapie, um beispielsweise den Umgang mit Hilfsmitteln zu üben; vielfältiges (Gedächtnis-) Training zur Orientierung; Musiktherapie, um Gefühle auch ohne Worte auszudrücken. Auch kleine Übungen für die Merkfähigkeit, wenn sie oft und regelmäßig angewendet werden, sind hilfreich. Darüber hinaus ist eine strukturierte, möglichst nicht überfordernde Umgebung sinnvoll: klare Linien und Farben sowie Orientierungshilfen (Uhren, Kalender, und so fort). Wichtig für Demente sind konstante Bezugspersonen, Regelmäßigkeit im Tagesablauf und die Vermeidung von Überforderung. Denn sie können vieles, was für gesunde Menschen klar und selbstverständlich ist, nicht mehr verstehen. Dadurch sind sie ständigem Stress ausgesetzt, den es zu vermeiden oder zumindest zu vermindern gilt.



Eine eigene Welt. Als Immanuel Kant 1804 starb, lautete die Todesursache auf „Geistesschwäche mit Wahnsinn". Ein dementer Mensch ist jedoch nicht „verrückt", wie in früherer Zeit angenommen wurde, sondern er ist krank und versteht seine Umwelt nicht. Daher reagiert er, wie es „in seiner Welt" sinnvoll erscheint. Er reagiert nicht auf den Sinn von Worten, die er nicht mehr erkennt, sondern auf den Klang einer Stimme, wofür er sehr sensibel ist. Er reagiert nicht auf Bitten oder Anweisungen, die er nicht mehr versteht, sondern eher auf Zeichen und bekannte Gesten. Er reagiert nicht auf sprachliche Höflichkeiten, mit denen er nichts anfangen kann, sondern auf vorsichtige Berührungen. Denn seine Gefühle und Bedürfnisse sind weiterhin vorhanden und müssen beachtet und respektiert werden. Herauszufinden, was ein dementer Mensch möchte oder braucht oder wie er sich fühlt – gerade wenn er sich sprachlich nicht mehr konkret ausdrücken kann –, ist oft schwierig, denn auch die Mimik, Körperhaltung und Gesten verändern sich während der Krankheit und geben auf das Befinden keine eindeutigen Hinweise mehr. Zwei Aspekte im Umgang mit dementen Menschen sind daher besonders wichtig. Möglichst viel aus seinem Leben zu wissen, hilft ihn zu verstehen. Handlungen, die er sein Leben lang geübt und verinnerlicht hat und die er jetzt „automatisch" ausführt, geben so auch außerhalb ihres eigentlichen Zusammenhangs für Außenstehende einen erkennbaren Sinn. Über Herrn W. wurde mir berichtet, dass er nach dem Kaffeetrinken immer seine Tasse hinter sich warf. Das Pflegepersonal ärgerte und wunderte sich über diese immer wiederkehrende Handlung, bis Angehörige den Hintergrund erklärten: Er hatte im Bergwerk gearbeitet, wo jeder Kumpel im Aufenthaltsraum hinter sich an der Wand einen Haken hatte, an dem er seine Tasse nach der Kaffeepause aufhängte.



Der zweite Punkt ist, seine eigene Wahrnehmung zu schulen und in Ruhe auf den Kranken einzugehen. Der Krankheitsverlauf und damit verbunden die Verhaltensweisen sind von Mensch zu Mensch sehr unterschiedlich. Eine individuell angepasste Betreuung ist notwendig.



Respekt und Geduld.Ein Handbuch zum „richtigen" Umgang mit Demenzkranken gibt es weder für Angehörige noch für Pflegekräfte. Übrigens auch nicht für Seelsorger, die in dieser Situation ja ebenfalls dringend gebraucht werden. Jedoch sollten wir einige einfache Dinge beachten, um den Menschen in ihrer Krankheit mit Wertschätzung zu begegnen, sie verständnisvoll zu unterstützen und sie in ihrem „verwirrenden" Leben zu begleiten. Wichtig ist zunächst, überhaupt da zu sein. Viele Kranke beziehungsweise ihre Angehörigen berichten, dass Freunde und Bekannte sich zurückziehen, weil sie mit der Krankheit nicht umgehen können. Des Weiteren sollten wir darauf achten, den Erkrankten in das alltägliche Leben mit einzubeziehen und ihn nicht vermeintlich zu „schonen". Mit kleinen Aufgaben im Haushalt, die er sein Leben lang getätigt hat, kann er ruhig „belastet" werden. Und wenn dabei nicht alles so verrichtet wird, wie wir uns das vorstellen, ist es doch für ihn sehr wichtig, um sich nicht nutzlos zu fühlen.



Der Umgang mit Dementen erfordert Geduld. Denn sie merken Stress, Ungeduld und Hektik und reagieren darauf mit Unruhe, Angst und eventuell sogar Aggressivität. Am Vormittag ist die Aufmerksamkeit des Kranken am größten, diese Tageszeit sollte man also nutzen. Da er im Augenblick lebt, sollten wir versuchen, den Tag mit vielen angenehmen Situationen zu füllen und unangenehme zu vermeiden. Das Selbstwertgefühl eines Kranken ist ohnehin durch das Empfinden der eigenen Defizite getrübt. Also sollten wir ihn bei dem, was er sagt und tut, keinesfalls korrigieren, bevormunden oder auf Fehler ansprechen. Dies sorgt nur für zusätzliche Verwirrung. Ebenso sollte man „Warum-Fragen", Argumente und Streit vermeiden. Und obwohl Berührungen oft Sicherheit geben, muss man sensibel darauf achten, ob sie erwünscht sind. Keinesfalls darf man eine Ablehnung persönlich nehmen.



Wir sollten uns dem Kranken von vorne nähern, auf Augenhöhe – nicht von oben herab – mit ihm sprechen und auf unsere Körpersprache achten. Ihn mit seinem Namen anzureden, dient der Orientierung. Lange, komplexe Sätze überfordern und sollten vermieden werden. Im Gespräch sollten wir ihm Zeit lassen – Zeit zu verstehen und Zeit zu antworten.



Der Umgang mit Demenzkranken kann anstrengend und deprimierend sein. Aber durchaus auch positiv, denn oft werden wir mit kleinen Gesten, Zufriedenheit oder einem Lächeln belohnt. Und darin liegt unsere Chance: durch besseres Verstehen den Kranken ein würdevolles Leben zu ermöglichen und die Umwelt für die Krankheit zu sensibilisieren.





 


 

Zuletzt aktualisiert: 06. Oktober 2016