Leben nach Luther

30. Januar 2014 | von

Am 24. Oktober öffnete das Deutsche Historische Museum in Berlin seine Türen für die Sonderausstellung zur Kulturgeschichte des evangelischen Pfarrhauses. Als Ort der Strenge und Geborgenheit zugleich ist das geistliche Heim nicht nur in die Kunst und Literatur eingegangen. Seine politische Dimension bleibt unvergessen in der deutschen Geschichte. Es folgt ein kleiner Rundgang durch die Ausstellungsräume, die noch bis zum 2. März besucht werden können.



Eine Berliner Ausstellung erzählt die Geschichte des evangelischen Pfarrhauses. Doch was verbindet man eigentlich mit dem evangelischen Pfarrhaus? Eine erste Antwort findet sich in der Eingangshalle des Pei-Baus im Deutschen Historischen Museum. Auf einer bunten, aus Text- und Bildelementen zusammengestellten Multimedia-Wand werden unter anderem Portraits von Lessing, Nietzsche, Mörike und Benn bis hin zu Gudrun Ensslin, Angela Merkel oder auch Joachim Gauck präsentiert. Diese Bildnisse kündigen die neue Ausstellung „Leben nach Luther“ an.



EINHEIT VON AMT UND LEBEN

Einerseits also erfolgreiche Vertreter in Politik und Philosophie sowie namhafte Schriftsteller aus der Literatur, andererseits eine bekannte RAF-Terroristin. Ihre Biografien sind grundverschieden, doch haben sie alle eines gemeinsam: ihre Herkunft aus dem evangelischen Pfarrhaus. So wird von Anfang an deutlich, dass die Ausstellung die „Kulturgeschichte des evangelischen Pfarrhauses“ erzählen möchte, und zwar nicht in Form einer Chronik der Reformation, sondern als Geschichte einer Lebensform, welche durch Luther in die Welt kam und bis heute weiterwirkt.

Die Sonderausstellung findet im Rahmen der Lutherdekade zur Vorbereitung des Reformationsjubiläums 2017 durch das Deutsche Historische Museum statt, in Kooperation mit der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und der Internationalen Martin Luther Stiftung (IMLS). Der EKD-Ratsvorsitzende, Präses Nikolaus Schneider, betonte zur Ausstellungseröffnung: „Es gibt wenige andere Beispiele, an denen sich eine so enge Verbindung zwischen dem Amt und dem Leben eines Menschen aufzeigen lässt wie am Beispiel des Pfarrhauses. Zugleich gibt es aber auch einen steten Wandel. Wir müssen die Ansprüche an die Funktion des Pfarrhauses und die dort lebenden und arbeitenden Menschen immer bedenken und auch Mut zu Veränderungen haben.“



IDYLLE UND SCHRECKEN

Die Kuratoren Shirley Brückner und Bodo-Michael Baumunk standen hinsichtlich des Ausstellungskonzeptes vor einer besonderen Herausforderung, hatten sie doch mit allerlei alteingesessenen Mythen sowie erfundenen Traditionen zu kämpfen. Doch bemühen sie sich um ein aufgeklärtes Verhältnis, denn das evangelische Pfarrhaus ist als Idylle wie auch Schreckenshaus gleichermaßen imaginiert worden. So wird beispielsweise in dem ländlichen Gedicht „Luise“ von Johann Heinrich Voß (1751 bis 1826), populärer Dichter und bedeutender Übersetzer der Epen Homers, das zeitgenössische deutsche Geistesleben mit viel Heiterkeit, Wärme und Frohsinn zum Ausdruck gebracht. Dagegen herrscht im preisgekrönten Kinofilm „Das weiße Band“ des österreichischen Filmregisseurs Michael Haneke (* 1942) Strenge, Gehorsam und Disziplin, die in Gewalt gegen sich und andere ausufert. Auch derlei Zerrbildern im positiven wie auch negativen Sinne den entsprechenden Platz einzuräumen, ohne dabei jedoch in platte Verallgemeinerungen abzugleiten, gehört zu den Stärken der Berliner Ausstellung.

Im Untergeschoss des Pei-Baus muss man sich erst mühsam zu den aktuellen Vertretern der Pfarrhauskultur durchschlagen. In einem Rundgang, gegliedert in sechs Kapitel, die jeweils durch ein großformatiges Gemälde oder Objektarrangement leitmotivisch einleiten, werden Fragen nach der Reformation, dem Amt des Pfarrers, dem Wandel des Status der Pfarrerfamilie, der Vorbildfunktion selbiger, dem Bildungsstand im Pfarrhaus und der Politik des Protestantismus beantwortet. Hierfür wurden zahlreiche Leihgaben aus Skandinavien, Großbritannien, Frankreich, der Schweiz und den Niederlanden herangeschafft, um die politischen und inhaltlichen Entwicklungen der protestantischen Institution präzise zu veranschaulichen.



IN JAHRHUNDERTSCHRITTEN

Das Pensum wird zu diesem Zweck in Jahrhundertschritten abgearbeitet: zuerst Luther und Bugenhagen, dann die Predigtsammlungen des siebzehnten, die Pfarrhausgärten des achtzehnten, die fleißigen Sammler und Erfinder des neunzehnten Jahrhunderts. Dies hat den Vorteil, dass man die verschiedenen historischen Aspekte als Stadien einer durchgängigen Entwicklung begreift. Die Materialfülle versetzt den Besucher dabei immer wieder in Erstaunen: eine Sanduhr aus dem siebzehnten Jahrhundert, die den Predigenden zur Kürze mahnte, wird neben einem Rucksack von vor 1945, der sich jedoch in die Vitrinen zur Nachkriegszeit verirrt hat, zur Schau gestellt.

Gleich im ersten Kapitel wird anschaulich präsentiert, welche entscheidenden Veränderungen im Zuge der Reformation für das Pfarramt eintraten: so etwa im Bildnis eines Pfarrers und seiner Söhne unter Schafen (1646). Er ist der Hirte, der das biblische Wort verkündet. Ein Modell des Kanzelaltars aus der Berliner Dreifaltigkeitskirche zeigt die liturgische Einheit von Musik, Wort und Sakrament. Altar, Kanzel und Orgel sind hierbei übereinander angeordnet als Verdeutlichung der neuen Rolle der Predigt und für die große Bedeutung der Musik.



VORBILD FÜR FAMILIENLEBEN

Die Pfarrer waren vor neue Herausforderungen gestellt. Denn was sie predigten, sollten sie auch vorleben: eine mustergültige Ehe, ein vorbildliches Familienleben. Luther und seine Ehefrau Katharina von Bora gelten gemeinhin als das Ur- und Vorbild eines gelungenen protestantischen Familienlebens überhaupt, obwohl Luther selbst kein Gemeindepfarrer war.

Das von Lucas Cranach dargestellte Ehepaar begründete, so die verbreitete Meinung, den Prototyp des evangelischen Pfarrhauses. Als durch Luther das Zölibat der Priester aufgehoben wird, werden sie mitsamt ihren Familien ins Schaufenster der Gesellschaft gestellt. Öffentliche Eheschließungen erwiesen sich in der Reformation ab 1522 als Gesinnungstest für das evangelische Bekenntnis.



ERGEBENE, LIEBENDE DIENERIN

Einher ging hierbei die Verpflichtung, ein offenes Haus zu führen. So veränderte sich auch die Rolle der Frau. Sie ist dem Manne „Gehüllfe und Tragstab und nicht Fusschemel“. Kern des Eheverständnisses, wie es auch in Luthers „Ehebuch“ zum Ausdruck kommt, ist die gegenseitige Zuneigung von Mann und Frau. Daher soll die Frau auch Gehilfin und nicht Magd sein.

Dennoch prägte über Jahrhunderte hinweg der „Gehorsam“ der Frau als bestimmendes Leitwort des reformatorischen Ehe- und Hausväterschrifttums das Geschlechterverständnis im Pfarrhaus. Und dies vom 16. Jahrhundert noch weit bis ins 19. Jahrhundert hinein. Im Pfarrhaus, dem neuen geistlichen Zentrum, sollen die Pfarrfrauen nicht nur Christus, sondern auch ihren Ehemännern eine ergebene, liebende Dienerin sein.



OBRIGKEITLICHE FUNKTIONEN

Im 18. Jahrhundert werden die Pfarrer zu Beauftragten der einsetzenden Aufklärung und übernehmen zahlreiche obrigkeitliche Funktionen. Gemälde wie eine Innenansicht des Basler Münsters von 1650 oder „Empfang eines neuen Pfarrers durch seine Gemeinde im Schwarzwald“ aus dem Jahr 1866 verraten viel über die soziale Stellung der Geistlichen.

In diesem vierten Kapitel der Ausstellung sind auch die Seitenblicke auf das Ausland wie Schweden, die Schweiz, England sehr erhellend. So fanden in Schweden bis ins 19. Jahrhundert noch Hausverhöre statt. Hierzu besuchten und befragten die Pastoren Fischer- oder Bauernfamilien und prüften ihre Tugendhaftigkeit sowie ihr christliches Wissen. Danach ließen sie sich ein Fest ausrichten und wurden verpflegt. Deutsche Pfarrfamilien ernährten sich über Kollekten und Ernteabgaben, versuchten sich aber auch im Eigenanbau von Obst und Gemüse.



HONORATIOREN UND GEHORSAM

Erst im 19. Jahrhundert stiegen die evangelischen Geistlichen als Bildungsbürger zu den Honoratioren auf. Dies zeigen Gemälde, auf denen die Pastoren als Gelehrte abgebildet werden, so etwa wie auf Georg Friedrich Kerstings Portrait des Dresdner Hofpredigers Reinhard. Weiterhin wird in den Räumen ein kurzer Blick auf das katholische Pfarrhaus unternommen. 

Das evangelische Pfarrhaus bestand wie schon angedeutet nicht nur aus einladenden Türen und geöffneten Fenstern: Im Haus des Herrn existierte oft strenger Gehorsam, Unterdrückung und Engstirnigkeit. Die Literatur berichtet genug von Pfarrkindern, die unter der Aufhebung der Privatheit und der dauernden Rechtfertigkeit beziehungsweise Gewissensprüfung litten. Als ein bekanntes Beispiel kann hier der Schriftsteller Friedrich Christian Delius (* 1943) genannt werden, der als Kind unter der anhaltenden Tyrannei seines Vaters zum Stotterer wurde. In dem 1667 gemalten Doppelportrait des Zellerfelder Pfarrers Calvör und seiner Frau Sybille Elisabeth kann man die harte Angespanntheit des Ehepaares deutlich an den Gesichtern ablesen. Sogar noch in den Familienphotos des Theologen Friedrich Schorlemmer (* 1944), die im letzten Raum der Ausstellung zu betrachten sind, ist sie unübersehbar zu erkennen. 



NATIONALSOZIALISMUS UND DDR

Der letzte Teil der Ausstellung beschäftigt sich mit der Politisierung des Pfarrhauses, welche die Aussteller auf den Beginn des 20. Jahrhunderts datieren. So wie der Staat immer stärker die obrigkeitlichen Funktionen wie Schulaufsicht oder Eheschließung an sich zieht und die Säkularisierung mithin weiter voranschreitet, desto größer werden die Versuchungen, in der Politik Halt zu finden.

Für diese Entwicklung wird unter anderem ausführlich das gleichermaßen soziale wie nationale Engagement Friedrich Naumanns (1860-1919) dokumentiert. So folgt die Ausstellung weiterhin der Kirchengeschichte und thematisiert den Kirchenkampf im Nationalsozialismus.

Hier wurde das Image des Pfarrhauses nachhaltig beschädigt. Denn mancher Kirchenmann spürte für die „Reichsstelle für Sippenforschung“ konvertierte Juden in den Kirchenbüchern auf und lieferte sie an die Exekutoren der Rassengesetze aus. Die evangelische Kirche stand während des gesamten nationalsozialistischen Terrors in „Widerstand und Ergebung“, was zahlreiche Photos, Film -und Tonaufnahmen belegen.

In der DDR stieg das Pfarrhaus als ein Ort der Geborgenheit, der freien Rede und der Distanz zur offiziellen Welt wieder auf – vor allem aber entwickelte es sich zu der wahrscheinlich wichtigsten Institution der friedlichen Revolution von 1989, wovon zahlreiche Schriften, Filmmaterialien und Buttons mit den Slogans „Schwerter zu Pflugscharen“ oder „Frieden schaffen ohne Waffen“ zeugen.



BERUFUNG PFARRER HEUTE

Über die Zukunft des Pfarrhauses wird in der Ausstellung nicht weiter spekuliert. Naheliegende Fragen werden vielmehr in einem Themenheft der EKD aufgegriffen. Um dennoch den Zeitgeist zu verdeutlichen, sind einige Pfarrer und Pfarrerinnen aus dem Kirchkreis Stadtmitte photographiert worden. Die Bilder entstanden in Kooperation mit der Berufsschule für Design BEST Sabel. Photoschüler des ersten und zweiten Lehrjahres lichteten Pfarrerinnen und Pfarrer in beruflichen wie in privaten Situationen unter dem Thema „Berufung Pfarrer“ ab. Junge Pfarrerinnen und Pfarrer beugen sich nicht mehr der althergebrachten Dauerverfügbarkeit. Beruf und Privatleben wollen sie klar voneinander getrennt wissen, natürlich auch um ihre Familien zu schützen. Die Frau als dienende Gattin hat sich verabschiedet, seit auch Frauen den Pfarrberuf ausüben dürfen.

In Berlin gibt es mittlerweile ein bi-religiöses Pfarrhaus: dort lebt eine Pfarrerin mit ihrem muslimischen Mann zusammen. Die Handymailbox weist nun auf die Öffnungszeiten des Pfarrbüros hin. Die Kirchen-Websites und Pfarrer-Blogs ersetzen die alten Türen und sind immer geöffnet. Trotz aller Veränderungen und Entwicklungen dürfte das Pfarrhaus ein Sehnsuchtsort bleiben – gestern, heute und morgen.



Zuletzt aktualisiert: 06. Oktober 2016