Lebensbuch Bibel

25. Oktober 2004

Im vergangenen Jahr begingen die Christen aller Konfessionen in unserem Land das Jahr der Bibel. Die Heilige Schrift sollte wieder in das Bewusstsein der Menschen treten und zum Lebensbuch werden. Es ist schwer zu beurteilen, welche Früchte dieses Jahr trug und noch trägt. Tatsache ist: Es werden noch immer sehr viele Bibeln verkauft oder verschenkt. Offen bleibt: Stehen sie in Bücherregalen zum Verstauben oder sind sie “Licht auf dem Weg“, weil sie gelesen und zum Leitfaden für das persönliche Leben gewählt werden.
 
Aus heiliger Liebe verschenkt. Für Franziskus von Assisi ist die Sache klar. Er kann und will auf die Bibel nicht verzichten. Sie ist für ihn lebensnotwendig. Eine Episode macht das deutlich: “Einst kam die Mutter zweier Brüder zu Franziskus und bat ihn vertrauensvoll um ein Almosen. Der Heilige hatte Mitleid mit ihr und sprach zu seinem Stellvertreter, Bruder Petrus: ´Können wir unserer Mutter ein Almosen geben?’ Bruder Petrus gab ihm zur Antwort: ´Im Haus ist nichts übrig, was wir ihr geben könnten. Doch wir haben ein Neues Testament, aus dem wir – weil wir keine Stundenbücher haben – die Lektionen nehmen.’ Da forderte ihn Franziskus auf: ´Gib das Neue Testament der Mutter. Sie soll es um ihrer Not willen verkaufen, denn dieses Buch mahnt uns, den Armen zu Hilfe zu kommen. Ich glaube, es wird Gott mehr gefallen, wenn wir dieses Buch aus Liebe verschenken, als dass wir täglich neu darin über die Liebe lesen.’ Man gab also der Frau das Buch. So wurde das erste Neue Testament, das im Orden vorhanden war, aus heiliger Liebe verschenkt“.

Impuls zur Tat. Diese Geschichte macht klar: Dem Franziskus ist die Bibel ein Impuls zur Tat. Er ist überzeugt: Durch dieses Buch spricht Gott selbst in der Person Jesu Christi oder der Apostel zu uns. Deswegen muss das Wort Gottes gelebt, in die Tat umgesetzt werden. Ähnlich geht es ihm bei der Feier der heiligen Messe, wenn er den biblischen Text hört. Dabei hat er den Eindruck: Hier wird nicht irgendein Text gelesen, sondern jetzt ist Jesus hier und spricht mich ganz persönlich an. Er hört zum Beispiel in der kleinen Kapelle von Portiunkula die Aussendungsrede Jesu an seine Jünger (Mt 10,9) und sagt dann: “Das ist’s, was ich will, das ist’s, was ich suche, das verlange ich aus innerstem Herzen zu tun“ (1Cel 22). Er macht sich sofort daran, das zu leben, was Jesus ihm gesagt hat. Sein Biograph berichtet: “Das übrige aber, was er gehört, begehrte er mit größter Sorgfalt und mit höchster Ehrfurcht zu tun. Er war ja kein tauber Hörer des Evangeliums, sondern behielt alles, was er hörte, in seinem rühmenswerten Gedächtnis und mühte sich, es auf den Buchstaben sorgfältig zu erfüllen“ (1Cel 22).
Für uns heißt das: Die Bibel ist ein Brief, den mir mein Gott hat schreiben lassen, an dem ich mich ausrichten soll. Der christliche Schriftsteller Reinhold Schneider sagt einmal: “Dieses Buch kann man nicht lesen, man kann es nur tun. Es ist kein Buch. Es ist eine Lebensmacht. Es ist unmöglich, auch nur eine Zeile zu begreifen, ohne den Entschluss sie zu vollziehen“. Wenn ich nur die Bibel lese oder ein Evangelium daraus höre mit der Einstellung – mal hören, was heute dran ist, im Übrigen aber werde ich mich heraushalten – kann die Bibel für mich nicht fruchtbar werden, denn ich bezeuge nicht ihren Geist und ihr Leben.
Die “Mystikerin der Straße“, Madeleine Delbrêl, beschrieb diese Abhängigkeit der Wirkung der Bibel von unserer Einstellung so: “Die Worte des Evangeliums sind wundertätig. Sie verwandeln uns nur deshalb nicht, weil wir die Wandlung nicht von ihnen begehren“.

Programm für Christusnachfolge. Wie werde ich Christ? Was muss ich tun, um in die Nachfolge Jesu hineinzuwachsen? Franziskus antwortet mit zwei Formulierungen: “Ich will nach dem Evangelium leben“ und “Ich will in die Fußspuren Jesu Christi treten“. Er liest deshalb häufig die Bibel mit der Frage: Wer ist Jesus? Wie ist Jesus? Was ist ihm wichtig? Franziskus will durch Bibellesung Jesu Art, Jesu Verhalten und die Schwerpunkte seines Handelns besser kennen lernen, um so Weisung für sein eigenes Leben zu haben. Er ist überzeugt: Auf diesem Weg werde ich echter Jesusjünger, so werde ich Christ.
Die Bibel färbt auf jeden einzelnen von uns ab und prägt ihn. Wir drücken dies in einem Lied aus: “Im Anschauen deines Bildes werden wir verwandelt in dein Bild… Im Hören deines Wortes werden wir verwandelt in dein Bild.“
Die Bibel ist dem Franziskus auch Impuls zum Gebet. Wenn er zum Beispiel in der Bibel das Liebesgebot liest “Du sollst den Herrn, deinen Gott lieben aus ganzem Herzen… und deinen Nächsten wie dich selbst“, nimmt er das nicht einfach zu Kenntnis und geht zur Tagesordnung über, sondern nimmt es zum Ausgangspunkt für sein Gebet. Beispielsweise lobt und preist er Gott, dass er die Liebe ist und dass er uns Menschen liebt – auch wenn wir es nicht verdient haben und seine Liebe so wenig beantworten. Auch bittet er Gott um seinen Geist der Liebe; Gott möge ihn zur allumfassenden Liebe befähigen.
In manchen Fragen ist Franziskus sehr eigenständig und geradezu hartnäckig. Auch wenn er damit auf Widerstand stößt, bleibt er bei seiner Haltung. Seine innere Sicherheit bezieht er aus der Bibel, weil er aus ihr erfährt, wie Jesus sich entsprechend verhalten hat.

Mit liebendem Herzen. Franziskus besitzt eine gute Schriftkenntnis. In der ersten Lebensbeschreibung des Thomas von Celano heißt es über ihn: “Was sich der Schulweisheit entzog, zu dem fand sein liebendes Herz den Weg“. Das heißt, was er an den Universitäten nicht erkannte und herausfand, das erschloss sich Franziskus, weil er die Bibel mit einem liebenden Herzen las.
Wie lese ich die Bibel? Ich habe sie lange mit kritischem Verstand gelesen und nach wissenschaftlichen Gesichtspunkten wie zum Beispiel: Was ist echtes Jesuswort, was ist Gemeindetheologie? Von Franziskus habe ich gelernt, dass Bibellesung ein Liebesgespräch ist. Gott ist die Liebe. Aus seiner Liebe heraus spricht er zu uns Menschen. Wenn wir sein Wort mit liebendem Herzen aufnehmen, wird Bibellesung zur Begegnung der Liebe, zum Gespräch zwischen dem liebenden Gott und uns liebenden Menschen.
Franziskus will nicht, dass Gottes Wort zerredet und zerpflückt wird. Er will es ohne den Zaun der Erklärungen, der es häufig abmildert, ungefährlich und harmlos machen. Er will es ohne die akademischen Spitzfindigkeiten hören, die es leicht zum Streitpunkt und Diskussionsstoff der Gelehrten abwerten. Er will es nehmen als Anrede, mit der sich der Herr – ohne Wenn und Aber – persönlich an ihn wendet. Das ist kein Fundamentalismus. Dieses so wörtlich genommene Wort wird ganz zum geistigen Wort. Es zeugt Leben. Entscheidend sind nach der Weisung Jesu immer die Früchte. Die sind bei Franziskus so reich, dass sie überzeugen.

Brot des Lebens. Dem Zweiten Vatikanischen Konzil haben wir es zu verdanken, dass die große Bedeutung und Verehrung, die der Heiligen Schrift in den ersten Jahrhunderten der Christenheit eingeräumt wurde, heute wieder neu zur Geltung kommen kann. Vieles muss hier noch wachsen, denn dieses Konzil stellt die Bibel auf die höchste Ebene unseres Glaubens: “Die Kirche hat die Heiligen Schriften immer verehrt wie den Herrenleib selbst, weil sie, vor allem in der heiligen Liturgie, vom Tisch des Wortes wie des Leibes Christi ohne Unterlass das Brot des Lebens nimmt und den Gläubigen reicht“.
Das ist wohl die größte und schönste, ja heiligste Aussage über die Bibel: Gott erfahre ich in der Heiligen Schrift ebenso deutlich und spürbar wie in der Eucharistie.
Deshalb lese ich regelmäßig, ja täglich die Bibel, ich lese sie mit äußerer und innerer Stille; suche mir einen ruhigen Platz und mache eine kurze Einstimmungsübung, da ich mich ja auf eine Begegnung der Liebe vorbereite; ich bitte um die Leitung des Heiligen Geistes und gehe mit einem erwartenden und liebenden Herzen an die Lesung; ich lese mit der Bereitschaft umzudenken, mich erneuern und korrigieren zu lassen; ich nehme sie als Anleitung zum Gebet und als Impuls zur Tat mit der Frage: Was willst du Herr, das ich tue?

Zuletzt aktualisiert: 06. Oktober 2016