Lichtgestalt von großer Menschlichkeit

25. Mai 2011

Seit es Selig- und Heiligsprechungsverfahren gibt, war der bisher kürzeste „Prozess“ jener, der für die Kanonisation des Antonius von Padua angestrengt wurde. Am 13. Juni 1231 verstorben, wurde Antonius bereits am 30. Mai 1232 heiliggesprochen. Am ehesten gilt also für ihn der Ruf „Santo subito!“. Aber in der neueren Kirchengeschichte ist mit sechs Jahren und einem Monat Dauer der Seligsprechungsprozess für Papst Johannes Paul II. der kürzeste. Die feierliche Erhebung zur Ehre der Altäre am 1. Mai in Rom durfte der Generalvikar der Diözese Würzburg, Dr. Karl Hillenbrand, miterleben. Er resümiert seine Eindrücke und beschreibt den neuen Seligen aus einer ganz persönlichen Warte.



Als mich Bischof Friedhelm gebeten hat, ihn und unser Bistum Würzburg bei der Seligsprechung in Rom zu vertreten, habe ich spontan und gerne zugesagt. Da ich seit meiner römischen Studienzeit Papst Johannes Paul II. fast jedes Jahr einmal persönlich begegnet bin, war ich froh und dankbar, bei seiner Seligsprechung dabei sein zu können. Seine Sympathie und Anteilnahme, die ich zu seinen Lebzeiten erfahren durfte, sehe ich nun in neuer Weise als Wegbegleitung vom Himmel her. Sehr beeindruckt hat mich bei der Feier auf dem Petersplatz die persönlich gestaltete Predigt von Papst Benedikt. Zum einen hat er als zentrales Vermächtnis seines Vorgängers die Umsetzung der Impulse des Zweiten Vatikanischen Konzils ins dritte Jahrtausend hinein hervorgehoben. Zum anderen betonte er seine jahrzehntelange Verbundenheit mit Johannes Paul II. und hob dabei besonders hervor, wie sehr er sich dabei von seinem Gebet mitgetragen wusste. Da ich den verstorbenen Papst immer wieder selbst als einen Mann intensiver Gottverbundenheit erleben konnte, wurde mir die Kraft der Gebetsgemeinschaft im Glauben einmal mehr und in neuer Intensität deutlich.

Nach der Seligsprechungsfeier war für uns noch die Möglichkeit gegeben, vor der Confessio in der Peterskirche am Sarg des neuen Seligen vorbeizuziehen, der aus den Vatikanischen Grotten in die Basilika gebracht worden war, wo er nun seinen endgültigen Platz finden soll. In Dankbarkeit habe ich einige Minuten innegehalten und im Gebet den neuen Seligen um seine Fürsprache um einen guten Verlauf des Dialogprozesses in unserem Land gebeten. Den ganzen Tag über riss die Menschenkette nicht ab – noch weit nach Mitternacht wollten viele Menschen im Petersdom „ihrem“ Papst nahe sein.



Am Samstagabend hatte auf dem Gelände des Circus Maximus eine Vigilfeier der Diözese Rom als Vorbereitung auf die Seligsprechung stattgefunden. Überwältigend war die Teilnahme vieler junger Menschen. Unter anderem kam ich mit einer jungen Ärztin aus Belgien ins Gespräch, die mir sagte: „Ich bin hier, weil Johannes Paul II. uns jungen Menschen wieder neu eine Heimat in der Kirche gegeben hat. Er hat uns bis zuletzt vorgelebt, dass die Liebe Jesu Christi stärker ist als alles menschliche Versagen und dass die Kirche trotz eigener Verwundungen dieses Wunder der Liebe Christi weiterschenkt.“



Überwältigende Feier

Schön war es, vor und bei der Seligsprechungsfeier gute und vertraute Bekannte wiederzutreffen: So erinnerte der Krakauer Kardinal Stanisław Dziwisz, langjähriger Sekretär von Papst Johannes Paul II., an die Begegnungen mit dem unvergessenen Chefredakteur des Würzburger Katholischen Sonntagsblattes, Monsignore Dr. Helmut Holzapfel (1913-1984), einem persönlichen Freund des Papstes. Der frühere polnische Primas und Erzbischof von Gnesen, Henryk Muszynski, sagte mir beim Friedensgruß während der Zeremonie: „Setzen wir die deutsch-polnische Versöhnung im Geist des neuen Seligen fort!“ Prälat Marian Subocz, Präsident der polnischen Caritas und bestens vertraut mit unserem Bistum, erinnerte an einen anderen Freund des Papstes, den ersten Bischof der neu gegründeten Diözese Koszalin, Ignacy Jeż, (1914-2007), der auch Ehrendomherr in Würzburg war.

Beeindruckend war im Umfeld der Seligsprechung in Rom die Mithilfe unzähliger Freiwilliger, vor allem auch junger Menschen. Zu bewältigen war ja der Ansturm von fast zwei Millionen Pilgern aus verschiedensten Ländern. Ich fand es sehr sympathisch, dass Papst Benedikt ihnen am Ende der Liturgie eigens gedankt hat, denn ohne ihre Mithilfe wäre die enorme logistische Herausforderung nicht zu bewältigen gewesen – auch das ist ein Glaubenszeugnis, das Mut macht! Leider laufen auch solche Feiern nicht ohne Missklänge ab. Kopfschütteln löste selbst im ‚Bischofsblock‘ auf dem Petersplatz die in mehreren Sprachen wiederholte Aufforderung des Päpstlichen Zeremonienmeisters aus, im weiteren Verlauf der Liturgie Applaus und Fahnenschwenken zu unterlassen. Warum sollen sich Spontanität und Andacht nicht vertragen? Zum Glück lieferte Papst Benedikt selbst den besten Gegenbeweis: Seine persönlich geprägte Predigt provozierte geradezu den Beifall der Anwesenden – gut, dass Liturgie und Leben so zur Deckung gekommen sind! Alles in allem: Die Tage in Rom waren ereignisreich – erlebnisreich – ergebnisreich.



PERSÖNLICHE ERLEBNISSE

Wenn ein Mensch seliggesprochen wird, den man gut kannte, ist das ein besonders bewegendes und intensiv erlebtes Ereignis. Meine persönliche Beziehung zum späteren polnischen Papst begann im Herbst 1970. Damals stand ich am Anfang meiner Priesterausbildung in Rom. Wir Studenten des Collegium Germanicum waren zum liturgischen Dienst bei einem Pontifikalamt eingeteilt worden, das der damalige Erzbischof von Krakau, Kardinal Karol Wojtyła, zelebrierte. Nach dem Gottesdienst kam er mit uns ins Gespräch über die deutsche Ostpolitik, die seinerzeit sehr umstritten war. Er sagte damals ein Wort, das mir unvergesslich geblieben ist: „Eine dauerhafte Versöhnung zwischen dem deutschen und dem polnischen Volk wird es nur geben, wenn wir bereit sind, uns vom Glauben her die Erinnerung heilen zu lassen, wenn wir realisieren, dass die Versöhnung in Jesus Christus tiefer greift als die Trennung durch irregeleiteten Hass.“ Jahre später wurde mir klar, dass in diesem Satz eigentlich schon der Kern seiner Friedensbemühungen als Papst ausgesprochen war.

In meiner Zeit als Regens im Würzburger Priesterseminar hatte ich mehrmals Begegnungen mit dem Papst zusammen mit Gruppen von Seminaristen. Einmal sagte er mir danach: „Als Wegbegleiter zum Priesterberuf müssen Sie die jungen Menschen kennen und anerkennen – kennen mit ihren Charismen und Schwächen, aber anerkennen, dass jeder seiner spezifischen Berufung folgen muss. Sie können dabei helfen, aber die persönliche Entscheidung nicht ersetzen!“ Diese realistische Sichtweise war und ist mir sehr hilfreich. Als ich nach meiner Ernennung zum Generalvikar der Diözese Würzburg erstmals mit ihm zusammentraf, gab er mir eine Empfehlung für den Umgang mit schwierigen Priestern mit: „Treffen Sie am Anfang des Gesprächs die Vereinbarung, dass Sie selbst eine halbe Stunde lang das Wort ‚Gehorsam‘ vermeiden und dass der andere das Wort ‚Gewissen‘ nicht gebraucht. Sie werden sehen, dass Sie in der Regel zu ganz tragfähigen Ergebnissen kommen.“ In der Tat: So war und ist es! Einmal mehr hat mich dabei die Lebensklugheit dieses Papstes beeindruckt.

In besonders dichter Erinnerung ist mir noch unsere letzte Begegnung im Januar 2005, als der Papst schon überdeutlich von der Krankheit gezeichnet war, die dann auch zu seinem Tod führte. Geistig war er hellwach und fand in der eigenen Gebrechlichkeit noch Worte der Ermutigung für andere. Er verabschiedete sich mit dem Satz: „Bleiben Sie zuversichtlich!“ Ich bin von dieser Begegnung mit ganz gemischten Gefühlen weggegangen. Zum einen war ich niedergedrückt in der Vorahnung: Du hast den Papst zum letzten Mal gesehen. Noch mehr jedoch war ich beeindruckt von der Zuwendung, die dieser Mann gerade in seinem Leiden so intensiv ausstrahlte. Mir ist damals einmal mehr der tiefe Sinn des Schriftwortes aufgegangen: „Wenn auch unser äußerer Mensch aufgerieben wird, der innere wird Tag für Tag erneuert“ (2 Kor 4, 16).



Geistlich tief, erfrischend offen

Besonders eindrücklich habe ich diesen Papst als einen Menschen mit einer in sich stimmigen und intensiven Gebetshaltung erlebt. In der Begegnung mit ihm habe ich ganz persönlich spüren dürfen, was der Satz vom „Gebet als Ernstfall des Glaubens“ bedeutet. Diese geistliche Tiefe verband er gleichzeitig mit einer unverstellten Offenheit und nicht zuletzt mit einem erfrischenden Humor. Unvergessen sind mir auch jene Gespräche, in denen er uns zum Weiterführen der deutsch-polnischen Versöhnungsbemühungen ermutigt hat, die ihm ein besonderes Anliegen waren.

Schließlich möchte ich noch zwei Eindrücke anfügen, die zwar nicht aus direkten Begegnungen stammen, die mich aber persönlich sehr berührt haben: Eine Erinnerung stammt vom Beginn, eine vom Ende seines langen Pontifikates. Beim Einführungsgottesdienst im Oktober 1978 hielt er den Menschen mit beiden Händen seinen Kreuzstab entgegen – die Szene wirkte auf mich wie das Symbol konzentrierter Kraft, mit der dieser Papst die vor ihm liegenden Aufgaben angehen wollte. Das zweite Bild stammt vom Karfreitag 2005, also wenige Tage vor seinem Tod: Bei der Fernsehübertragung vom Kreuzweg am Kolosseum in Rom wurden Aufnahmen eingeblendet, wo der leidende Papst in seiner Privatkapelle zu sehen war, wie er sich mit letzter Willensanstrengung am Kreuz festhielt. Die beiden Bilder sind auf den ersten Blick ganz verschieden und drücken doch zwei Seiten der einen Sendung dieses Papstes aus: Nämlich den Willen, in der Gemeinschaft mit Jesus Christus die Welt zu gestalten, in Zeiten kraftvoller Zuversicht genauso wie in den Phasen des Leidens und der Hinfälligkeit. Sein Lebenszeugnis macht uns also auf besondere Weise Mut, die Herausforderungen des Daseins anzunehmen und zu bestehen.



Grosses PONTIFIKAT

Besonders beeindruckt hat mich, dass dieser Papst es verstanden hat, weltweit in neuer Weise junge Menschen für den Glauben zu begeistern. Weiterhin hat es mich sehr bewegt, wie er gerade in den letzten Jahren seines Wirkens, als er schon von schwerer Krankheit gezeichnet war, durch sein Leidenszeugnis seiner Verkündigung nochmals eine neue, sehr dichte Dimension der Glaubwürdigkeit gegeben hat.

In der Beurteilung seines Pontifikates darf man nicht den Fehler begehen, im Rückblick das politisch-gesellschaftliche und das innerkirchliche Wirken dieses Papstes zu trennen. Ich sehe die Wurzeln seines Handelns in einer tiefen Verbundenheit mit Jesus Christus, der unsere ganze Welt mit Gottes Liebe durchdringt. Papst Johannes Paul II. hat stets versucht, diesen Grundgedanken mit seinen konkreten Konsequenzen auf verschiedenen Ebenen deutlich zu machen: als Dienst am Leben – als Dienst am Glauben – als Dienst am Frieden. Alle Einzelaktionen seines langen Pontifikats lassen sich für mein Empfinden in diese Deutung einordnen, auch solche, die mitunter kontrovers diskutiert werden.

So haben mich im Vorfeld der Seligsprechung einige Medienkommentare sehr verwundert, die Johannes Paul II. für einen ungenügenden Umgang mit den Missbrauchsfällen in der katholischen Kirche verantwortlich machen wollten. Aus persönlichem Erleben kann ich dazu berichten: Schon bei der Bischofssynode über Fragen der Priesterausbildung, an der ich 1990 als Berater teilgenommen habe, bezog der Papst klar Stellung gegen solche Verhaltensweisen, die in sich intolerabel und mit dem Priesterberuf unvereinbar sind. Bei unserer letzten Begegnung im Januar 2005 sagte er mir: „Lassen Sie nicht nach im konsequenten Vorgehen gegen Missbrauch und Gewalt an Kindern und Jugendlichen.“ Dies hat mich einmal mehr in meiner Einstellung bestätigt und ermutigt.

Wenn man Heilige und Selige einmal ganz einfach als Glaubensgestalten sieht, in denen Gottes Nähe auf menschliche Weise authentisch und überzeugend erfahrbar wird, dann trifft dies ganz gewiss auf Johannes Paul II. zu. Dieser Papst hat ja nicht nur Gläubige in ihrer Gottesbeziehung bestärkt, sondern auch vielen skeptischen Menschen ein neues Gespür dafür vermittelt, dass unser Leben kein Zufallsprodukt oder das Ergebnis von Umwelteinflüssen darstellt, sondern sich letztlich dem Plan Gottes verdankt. Allein schon aus dem Grund, dass durch ihn unzählige Menschen in ihrer Beziehung zu Gott bestärkt wurden, ist die Seligsprechung dieses Papstes konsequent. Im Übrigen bin ich davon überzeugt, dass infolge seiner weltweiten Bedeutung auch die Heiligsprechung ... bald erfolgen wird.

Zuletzt aktualisiert: 06. Oktober 2016