Lieber Bruder Antonius (10)

09. November 2020 | von

In Erinnerung an den Ordenswechsel des heiligen Antonius – vom Augustiner-Chorherren zum Minderbruder – sind wir ihm in den letzten Monaten auf Stationen seines Lebens gefolgt. Lesen Sie auf den nächsten Seiten einen weiteren Brief, geschrieben aus heutiger Perspektive, an einen der großen Heiligen des Mittelalters.  

Lieber Bruder Antonius!

Manchmal kann ich vielleicht ein wenig nachempfinden, wie es dir damals gegangen sein muss – nach deiner kräftezehrenden Predigtreihe in Padua in der Fastenzeit des Jahres 1231: Der Sendbote muss fertig werden, nebenher müssen Predigten vorbereitet werden, vielleicht stehen eine Beerdigung oder eine Hochzeit an, parallel läuft ein Kurs, die Verwaltung darf nicht völlig liegen bleiben und obendrein ist Wäsche zu bügeln und das Zimmer endlich wieder einmal aufzuräumen. Die Zeit ist knapp, die Verpflichtungen sind zahlreich. Man sehnt sich nach Ruhe und Entspannung. Aber Urlaub ist in weiter Ferne. Und wenn er denn da ist, dann eigentlich viel zu kurz, um zu wirklicher Erholung zu finden. Und manchmal habe ich das Gefühl, dass mich im Hamsterrad meines Lebens jemand von oben beobachtet und mir zurufen möchte: „Steig aus – bevor es zu spät ist! Manch eine Pause, gönn dir Ruhe, sonst holt sie sich irgendwann dein Körper, aber dann mit Wucht!“

Du hast in dieser Fastenzeit damals wohl täglich gepredigt, du hast die Beichte abgenommen, warst für unzählige Gläubige ein echter Seelsorger. Kein Wunder, dass das an den Kräften zehrt. Und trotzdem ist der erste Grund, den dein Biograph, der Verfasser der Assidua, nennt, um deine anschließende Auszeit zu begründen, deine Rücksichtnahme auf die Menschen – und nicht auf dein eigenes Wohlbefinden: „Der treue und umsichtige Diener Gottes entschloss sich, bis auf Weiteres seine Predigtreihe zu unterbrechen, weil er sah, dass sich das Volk der nötigen Erntearbeit widmen musste.“
Und vielleicht ist das ja nicht nur eine fromme Formulierung, sondern der Biograf hat etwas von deiner Lebenseinstellung eingefangen. Und dann wird mir deutlich, dass du ein echter Seelsorger gewesen sein musst. Du hast die Predigten nicht für dich, dein Ego, deinen Ruf gehalten, sondern wirklich, um das Volk zu erbauen, geistlich zu nähren. Und als du merkst, dass jetzt im normalen Leben etwas anderes dran ist, nämlich die Arbeit auf dem Feld, hast du dich zurückgezogen. Bestimmt nicht deshalb, weil das Wort Gottes nicht mehr wichtig wäre, wohl aber weil dir gewiss bewusst war: Alles hat seine Zeit. Und es braucht für alles das rechte Maß.

Und dieses rechte Maß hast du wohl auch immer wieder für dich selbst gesucht. Dein Leben war voller Strapazen – wenn ich allein die Wegstrecken bedenke, die du seit deinem Wechsel in den Minderbrüderorden zurückgelegt hast, oft genug auf abenteuerliche Weise. Die Predigtreihe hat dich ausgezehrt, körperlich, aber sicherlich auch innerlich. Auch deine Seele wird wieder neue Kraft benötigt haben, neue Inspiration, neue Begeisterung. Und so stellt dann auch dein Biograf fest: „Er sehnt sich danach, ungestörte Einsamkeit zu finden.“ In Camposampiero, also nicht allzu weit von Padua entfernt, hast du sie offensichtlich gefunden – und du wirst dort gern aufgenommen. Die Assidua berichtet: „Ganz glücklich über seine Ankunft entbot ein Adeliger namens Tiso dem Antonius, dem Diener Gottes, seine höchste Ehrerbietung. Auch die Einsiedelei der Brüder lag auf dem Gebiet seiner Herrschaft. Dieser Herr besaß, nicht weit vom Aufenthaltsort der Brüder entfernt, einen dichten Wald, wo zwischen verschiedenen anderen Pflanzen ein mächtiger Nussbaum gewachsen war. Von dessen Stamm aus streckten sich sechs Äste in die Höhe und bildeten so eine Art Krone aus Zweigen. Eines Tages hatte der Mann Gottes die Schönheit dieses Baumes bewundert und beschloss sogleich auf Eingebung des Heiligen Geistes, sich auf dem Nussbaum eine Zelle einzurichten. Denn der Ort bot ihm eine ungeahnte Einsamkeit und eine Atmosphäre, die der Betrachtung förderlich war.
Kaum dass der adelige Tiso durch die Brüder von diesem Wunsch erfuhr, baute er mit seinen eigenen Händen eine Zelle aus Matten, nachdem er Stangen mit den Ästen verflochten hatte. Ähnliche Zellen baute er auch für die beiden Begleiter, wobei er allerdings für die obere Zelle, die für den Heiligen bestimmt war, mehr Sorgfalt aufwandte. Die anderen baute er nach dem Willen der Brüder, wenn auch mit weniger Aufwand. In dieser Zelle führte Antonius, der Diener Gottes, ein Leben, das des Himmelreiches würdig war; er war ausdauernd wie eine Arbeitsbiene in seiner Hingabe an die heilige Betrachtung. Dies war sein letzter Aufenthaltsort unter den Lebenden. Indem er zu seiner Zelle auf dem Baum hinaufstieg, zeigte er, dass er sich dem Himmel näherte.“

„Dein“ Nussbaum steht heute natürlich nicht mehr. An seiner Stelle befindet sich eine kleine Kapelle. Mehrfach schon war ich dort. Ich kann mir bildhaft vorstellen, wie du dich in dein „Baumhaus“ zurückziehst, vielleicht wirklich am Ende aller Kräfte und liebevoll umsorgt von guten Menschen und den Brüdern, die sich damals in Camposampiero aufhalten. Und auch wenn sich dein Biograf bemüht, dir selbst noch in dieser Zeit das Etikett einer „Arbeitsbiene“ zu verpassen – zwar nicht im Predigen oder Herumreisen, sondern in der Betrachtung – es wird wohl auch Zeit gewesen sein für so etwas „Menschliches“ wie einfach einmal ausschlafen können, nichts tun und denken müssen. Gewiss werden diese Wochen aber nicht so etwas gewesen sein, wie wir uns das heute unter einem Wellness-Urlaub vorstellen… 
Dein Lebenslauf zeigt: Camposampiero wird eine deiner letzten Stationen auf Erden gewesen sein. Viel Zeit wird dir nicht mehr bleiben, auch wenn wir das aus heutiger, rückwärtiger Perspektive natürlich klarer sehen als du damals im konkreten Erleben. Ob dir das nahende Ende damals aber trotzdem schon bewusst gewesen ist? Ob du vielleicht auch so etwas wie eine Lebensbilanz gezogen hast? Ob du noch einmal die Stationen deines Lebens innerlich abgegangen bist – vom Augustiner-Chorherrn zum Minderbruder? Ob du Angst vor dem Sterben hattest – oder Zuversicht im Blick auf das, was uns im Glauben verheißen ist? 
Vielleicht haben solche endzeitlichen Überlegungen auch gar keine Rolle gespielt. Möglicherweise hast du sogar neue Pläne geschmiedet, was du nach deinem „Urlaub“ tun würdest. Vielleicht hast du Skizzen für neue Predigten verfasst oder irgendwelche anderen neuen Ideen verfolgt. Vielleicht warst du zwar äußerlich schwach, aber innerlich voller Tatendrang und Leidenschaft, bald da weiter zu machen, wo du in Padua aufgehört hast. 
Natürlich sind solche Gedanken heute reine Spekulation. Aber ich bin davon überzeugt, dass du in Camposampiero auch weiter die Nähe Gottes spüren durftest, dass er dich führt und nötigenfalls auch trägt. Und letztlich wird es das sein, worauf es ankommt, wofür du gelebt und was du anderen verkündet hast: Dass Gott uns im Leben nicht im Stich lässt. Und umso wertvoller ist es, wenn man diese gläubige Gewissheit auch tatsächlich im eigenen Leben erfährt. 

Lieber Antonius, mein Brief erreicht dich im November – dem Monat, der gefüllt ist mit Friedhofsgängen und Totengedenken, dem Monat, dessen oft trübes Wetter sich das ein oder andere Mal schon auch auf unser Gemüt schlagen kann. Wenn ich aber deine Biografie betrachte, habe ich das Gefühl, dass es irgendwie stimmig ist, dass dein Leben ein gelungenes ist, selbst wo es jetzt allmählich seinem Ende entgegen geht. 
Voll Zuversicht grüße ich dich also herzlich, bis zum nächsten Mal!
Dein Br. Andreas

Impuls für meinen eigenen Weg:
Finde ich für mein Leben Zeiten wirklicher Erholung? Ist mir bewusst, wann ich mal wieder eine Pause brauche? Was sind Dinge, die mich vielleicht auch in solchen ruhigeren Zeiten noch verfolgen und beschäftigen? Was wäre bei mir dran, es loszulassen?

Zuletzt aktualisiert: 16. Februar 2022
Kommentar