Madonna auf der Straße

21. April 2020 | von

Unzählige Madonnenbilder schmücken die Palazzi in Roms Innenstadt. Selbst Wallfahrer und Pilgerinnen schenken ihnen kaum Beachtung, gar nicht zu reden von den Touristinnen und Urlaubern.

Wer hautnah erfahren möchte, wie gut sich ein von dogmatischen Quisquilien unbeschwerter Glaube und eine von marianischer Frömmigkeit durchtränkte Religiosität miteinander vertragen, sollte sich im Zentrum der Christenheit ein bisschen länger umsehen als die Städtereisenden, die an einem einzigen Nachmittag an den drei Wahrzeichen der Ewigen Stadt – Kolosseum, Engelsburg und Petersdom – vorbeigekarrt werden.
Dabei verfolgt die Madonna jeden ihrer Schritte in der Ewigen Stadt. Von zahllosen Eckpfeilern der römischen Palazzi und von den Fassaden der Häuser blickt sie auf die Passanten herab. Und unten, auf den Plätzen und auf den Straßen, spielt sich das Leben ab. Oder spielt den Menschen mit.
Ohne diese Madonnelle wäre Rom nicht mehr Rom. Und wenn sie mehr Beachtung fänden, wären die Römer keine Römer und die Touristinnen keine Touristinnen mehr.

Pilgerziel für Einheimische
Sowohl die Einheimischen als auch die Fremden, die von der Piazza Argentina aus in die Via delle Botteghe Oscure einschwenken, übersehen das dortige, von Votivtafeln umgebene Marienbild aus dem 18. Jahrhundert. Für das alte Mütterchen, welches auf dem Mauervorsprung davor gelegentlich ein paar Blumen hinstellt, ist diese Madonna della Provvidenza weit wichtiger als das weltberühmte Marienbild in der Basilika Santa Maria Maggiore. Was es mit der unbeachteten Madonnella auf sich hat, erklärt eine in lateinischer Sprache verfasste Inschrift: „Wanderer, das Antlitz, das du hier siehst, hat am 9. Juli 1796 mit gütigem Blick und mit mehreren Augenaufschlägen das flehende Volk getröstet und die Herzen zu Lobeserhebungen bewegt.“ Was sich damals zugetragen hat, versucht das Mütterchen den Vorüberhastenden manchmal mit wenigen Worten in reinstem dialetto romanesco zu erzählen. Zu seinem Leidwesen jedoch findet sich nur selten ein Mensch, der Genaueres wissen möchte. Dass dieses Madonnenbild trotz seiner unmittelbaren Nähe zum früheren Hauptquartier der italienischen Kommunisten die Zeiten unbeschadet überstand, beweist, dass die Antiklerikalen in Rom schon immer ein bisschen flexibler waren als ihre Moskauer Genossen.
Unübersehbar und von den Einheimischen geschätzt ist ein anderes, von Kerzen und Lichtern und zahlreichen Votivtafeln umgebenes Marienbild aus der Mitte des 19. Jahrhunderts gegenüber dem Bildungsministerium am Viale Trastevere. Wenn eine Römerin ein Herzensanliegen und kein Geld für eine Wallfahrt zur Madonna von Loreto hat, macht sie sich auf den Weg zum Viale Trastevere. Eine Blumenhändlerin und ein Kerzenverkäufer sorgen dafür, dass die Madonna nicht bloß angebettelt, sondern auch beschenkt wird. Wer die Straße öfters abschreitet, begegnet dort immer wieder einmal Vorbeieilenden, die der Madonna eine Kusshand zuschicken.
Im Centro storico, in der Innenstadt, wimmelt es geradezu von jenen kleinen Mariendenkmalen, die in Rom edicole sacre heißen. Ein Zeugnis solcher, inzwischen auch im Zentrum der Christenheit nicht mehr selbstverständlichen Volksfrömmigkeit findet sich sogar an einer Ecke des Palazzo Montecitorio, dem Sitz des italienischen Parlaments.

Mutter für alle
Noch immer gibt es viele Römerinnen, die mit der Muttergottes ähnlich verkehren wie mit der Fischhändlerin auf dem Campo de’ Fiori; die Männer zeigen sich diesbezüglich etwas zurückhaltender. Eine römische Matrone sieht in Maria eben nicht bloß die Mutter Jesu, sondern gleichzeitig auch die Magna Mater, die große Mutter, welche alle unter ihre Fittiche nimmt, die sich ihr anvertrauen. Diesem Glauben ist es zu verdanken, dass die Madonna in Rom sozusagen allgegenwärtig ist. Und dass die Bürgersleute und die Adeligen zu Beginn der Neuzeit damit begannen, die Außenmauern ihrer Häuser und Paläste mit Marienbildern zu schmücken, eine Gewohnheit, die im 17. und 18. Jahrhundert weiteste Verbreitung erfuhr. Gleichzeitig erfüllten diese Mariendenkmale damals einen praktischen Zweck. Nachts nämlich wurden die Reliefs und Malereien mit Windlichtern oder Fackeln erhellt, die als Straßenbeleuchtung dienten. Seit gut einem halben Jahrhundert sind unter manchen dieser Bilder elektrische Ampeln angebracht, mittels derer die Hausbesitzer ihre Marienverehrung bekunden.
Leider nimmt sich heutzutage kaum jemand die Zeit, die Gedenktafeln zu entziffern, die unter manchen Madonnenbildnissen angebracht sind. Gelegentlich verspricht eine alte Inschrift dem Betrachter gar einen Ablass, wenn er ein Gebet spricht. In dem beim Vatikan gelegenen Borgo Pio weist an der Hausecke zum Vicolo del Campanile eine Inschrift darauf hin, dass dies auch für die Betrachterinnen gilt: „Mit Reskript vom 5. Juli 1797 gewährt Pius VI. allen Gläubigen dell’uno e dell’altro sesso (also beiderlei Geschlechts) einen Ablass von 200 Tagen, sofern sie vor diesem Bildnis andächtig die Litaneien rezitieren.“

Verehrung, keine Hetze
Die größte Verehrung unter den Straßenmadonnen genießt nach wie vor die Madonna dell’Archetto (Bogenmadonna). Ursprünglich befand sich dieses um 1690 gemalte Bildnis in einem düsteren Gässlein, das zwei größere Straßen miteinander verband. Am 9. Juli 1696 soll Maria die Augen bewegt haben, als das versammelte Volk beim Beten der Allerheiligenlitanei ihren Namen anrief, ein Phänomen, das sich dem Chronisten zufolge im Verlauf des Monats mehrmals wiederholte. 1751 wurde die Ädikula erneuert. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts wurde der Durchgang geschlossen und zu einer kleinen Kapelle umgebaut. Die feierliche Einweihung erfolgte am 31. Mai 1851 im Beisein zahlreicher geistlicher und weltlicher Würdenträger.
Unter den Einheimischen finden sich tagsüber immer welche, die in dem Kapellchen kurz verweilen. Sie haben, was den fremdländischen Romfahrenden generell fehlt – nämlich Zeit.

Zuletzt aktualisiert: 11. Mai 2020
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