Mangelndes Selbstwertgefühl nicht nur im Alter

18. April 2013

In der Regel sehen wir uns so, wie die anderen uns sehen. Das heißt, dass unser Selbstbild zu einem guten Teil fremdbestimmt ist. In dem Maß, als die Kräfte nachlassen, kommen viele Menschen sich nutzlos vor. Ihr Selbstwertgefühl schwindet. Aber muss das so sein? Und was sind die Ursachen?



Träume nicht dein Leben, sondern lebe deine Träume! Das tönt gut, ist aber leider oft nicht möglich, sei es, weil die finanziellen Ressourcen es nicht erlauben, sei es, weil die Gesundheit oder die Altersbeschwerden es verhindern, oder sei es, weil andere mit ihren Machtspielen unsere Pläne durchkreuzen. Oder einfach – und darum geht es im Folgenden – weil wir nicht genug Selbstvertrauen haben, fremden Einflüssen entgegenzuwirken. 

Was Menschen mit einem gesunden Selbstwertgefühl gegen das Machtgehabe anderer ausrichten können, zeigt die Erzählung einer Frau, an die ich mich in diesem Zusammenhang erinnere. Der triumphalistische Ton ihrer Stimme klingt noch immer nach in meinen Ohren, als sie mir schilderte, wie ihr Mann wegen einer schnippischen Bemerkung ihrerseits die beleidigte Leberwurst spielte und sich in eisiges und eisernes Schweigen hüllte.



NICHT UNTERKRIEGEN LASSEN

Wer einen anderen Menschen abstraft durch Nichtbeachtung, gibt ihm letztlich zu verstehen: Du bist ein absoluter Nichtsling, eine totale Nichtse. Für mich existierst du einfach nicht. Ins Positive gewendet (wenn denn der Begriff ‚positiv‘ hier überhaupt angebracht ist) lautet die Botschaft: Ich bin nun einmal der Stärkere, der Klügere, der Größte. Ich bin einfach alles, und ich kann alles und deshalb kann ich mir alles erlauben. Ich bin die Eins und hinter mir gibt’s nur noch Nullen.

Nachdem der Mann während dreier Tage auf keine Bemerkung seiner Frau reagiert und jede verbale Kontaktaufnahme verweigert hat, holt diese bei einbrechender Dunkelheit eine Taschenlampe aus der Schublade, leuchtet in sämtliche Schränke und Truhen, sucht unterm Sofa und hinter Gestellen, verrückt die Essbank und sendet Lichtstrahlen in die hintersten Ecken, welche naturgemäß die dunkelsten sind, und murmelt dabei unverständliche Laute. Und da geschieht das Wunder der Wunder, ihren Mann hält es nicht länger, er öffnet den Mund, den er drei volle Tage lang nur zum Essen und zum Husten und zum Zähneputzen aufgetan hat, und findet plötzlich seine Sprache wieder: „Verdammt noch mal, was suchst du eigentlich?“ Und sie: „Deine Stimme – aber jetzt kann ich die Taschenlampe ja wieder weglegen, nachdem ich sie gefunden habe.“ Die beiden starren einander an, dann beginnt der Mann zu lachen, die Frau stimmt ein, und nun lachen sie beide, lachen lauter, hören nicht mehr auf zu lachen, die Nachbarn sollen ruhig meinen, sie hätten einen oder zweie über den Durst getrunken.

Die Frau hatte Selbstvertrauen. Sie wusste sich auf sehr subtile Art zu wehren. Sie hat auf das Machtspiel ihres Mannes ebenso fantasievoll wie wirksam reagiert.



NICHT NUR LEISTUNG ZÄHLT

Je älter wir werden, desto weniger Einfluss haben wir in der Regel. Ausnahmen bilden natürlich die sogenannten grauen Eminenzen, die manchmal aber nicht einmal mehr graue Haare, sondern eine Glatze haben. Wer heute über fünfzig ist, gehört auf dem Arbeitsmarkt zum alten Eisen. Das Selbstwertgefühl kann mit zunehmendem Alter ganz schön schwinden. Kann – aber muss nicht! Als meine Mutter fast siebenundneunzig und nicht mehr so gut auf den Beinen war, hatte sie keine Hemmungen, in einer etwas überfüllten Apotheke mit ihrem Stock kräftig auf den Boden zu klopfen. Dazu sagte sie laut und für alle vernehmbar: „Gibt es hier eigentlich keinen Stuhl für uns alte Leute? Schließlich sind wir es, die das meiste Geld in diesen Laden bringen!“ Ihren Sessel hat sie gekriegt.

Wie sollen ältere Menschen reagieren, wenn sie sich plötzlich nicht mehr ernstgenommen fühlen? Muss man sich wirklich als Nichtsling oder Nichtse betrachten, weil Jüngere einem in manchen Dingen überlegen sind? Das tun nur Menschen, welche es gewohnt sind, ihr Leben und ihre Bedeutung auf Leistung zu reduzieren. Irgendwann kommt dann der Moment, wo die Leistungsfähigkeit eingeschränkt und die Einflussnahme begrenzt ist – und dann meint man, man sei nichts mehr wert. Aber Leben ist doch nicht gleichbedeutend mit Leistung! Das müssen wir zuallererst einmal begreifen.



STÄNDIG EINGETRICHTERT

Es muss aber beileibe nicht immer die nachlassende Leistungskraft sein, welche bei alternden Menschen das Selbstwertgefühl knickt. Manchmal wurden die Ursachen dafür schon in der Jugend grundgelegt, etwa wenn einem ständig eingetrichtert wurde, man werde es nie zu etwas bringen.

Wie Menschen mit einem angeschlagenen Selbstwertgefühl unter der Ablehnung anderer leiden, lässt sich am besten mittels des Märchens Hans mein Igel aufzeigen; es findet sich in der Sammlung der Brüder Grimm.

Ein reicher Bauer wird von den andern verspottet, weil er keine Kinder hat. In seinem Zorn wünscht er sich ein Kind, „und sollt’s ein Igel sein“. Tatsächlich gebiert seine Frau einen Jungen mit dem Oberkörper eines Igels, den sie Hans mein Igel nennt. Acht Jahre liegt der hinter dem Ofen auf Stroh. Dann lässt er sich vom Vater, der ihn loshaben will, einen Dudelsack kaufen und den Hahn beschlagen und begibt sich mit einer Herde von Schweinen und Eseln in den Wald. Dort sitzt er auf einem Baum, hütet die Tiere und spielt Dudelsack.

Zwei Königen, die sich im Wald verirrt haben, weist Hans mein Igel den Weg. Dafür müssen sie ihm verschreiben, was ihnen daheim zuerst begegnet. Bei beiden ist das die Tochter. Also macht Hans mein Igel sich auf ins erste Königreich. Weil die versprochene Prinzessin sich ihm widersetzt, rächt er sich furchtbar. Im zweiten Königreich wird er willkommen geheißen und mit der Prinzessin vermählt. Jetzt kann er auch seine Tierhaut ablegen, weil er sich als Mensch akzeptiert fühlt.

Offenbar wird Hans mein Igel vom Vater abgelehnt. Man wird sein Verkriechen hinter dem Ofen nicht bloß als Verlangen nach Wärme und Geborgenheit interpretieren dürfen. Wenn Menschen sich vor anderen zurückziehen, geschieht das häufig aus einer Art Scham, die ihrerseits auf ein fehlendes Selbstwertgefühl zurückzuführen ist.



ABGELEHNT – AKZEPTIERT

Genau diesen Sachverhalt illustriert das Märchen. Hans mein Igel wünscht sich einen Dudelsack. Wie kommt er dazu? Offenbar spürt er, dass bestimmte Fähigkeiten in ihm schlummern, die er wecken und ausbilden kann. Damit eröffnet sich ihm ein Weg, den Teufelskreis von Fremdablehnung und der dadurch bedingten Selbstverachtung aufzusprengen.

Wenn es jemandem gelingt, auf einem bestimmten Gebiet – sei das nun in der heimischen Küche oder im öffentlichen Konzertsaal – hervorragende Leistungen zu erbringen, wirkt sich das zweifellos positiv aus auf das Selbstwertgefühl. Zumindest in diesem einen Bereich machen einem andere nichts vor und nicht so schnell etwas nach. Hier ‚ist man wer‘!

Aber so einfach ist die Sache nicht, wie das Märchen zeigt. Ob die erste Königstochter von seiner Musik beeindruckt ist, wird nicht gesagt. Sicher aber ist, dass sie Hans mein Igel wegen seines Aussehens ablehnt. Auf diese Zurücksetzung reagiert er, indem er der Prinzessin Gewalt antut und sich so Geltung verschafft. Ganz anders verhält sich die zweite Königstochter, die ihn akzeptiert. Aber damit ist die Gefahr eines Rückfalls keineswegs gebannt. Die kleinste falsche Reaktion seiner ihm eben angetrauten Gemahlin wird ihn an sich selber zweifeln lassen und so sein erst ansatzweise vorhandenes Selbstwertgefühl wieder zerstören.



THERAPIE ANNEHMEN

Das Ablegen der ‚Tierhaut‘ deutet darauf hin, dass er inzwischen weiß, dass er ein vollwertiger Mensch ist. Noch aber ist er längst nicht heil, sondern „kohlschwarz wie gebrannt“. Erst dank den Künsten des königlichen Leibarztes wird er schließlich „weiß und ein schöner junger Herr“. Die Zuneigung eines Königs und die Liebe einer Prinzessin allein reichen also nicht aus, um das aufkeimende Selbstwertgefühl aufzubauen und zu festigen. Denn Rückfälle wird man realistischerweise nicht ausschließen dürfen. Deshalb bleibt Hans mein Igel auch auf den „Arzt“ und die „Salben“ angewiesen. Im Klartext heißt das: Er benötigt

therapeutische Hilfe.

Und die wird umso wirksamer, wenn nicht nur Hans mein Igel selbst, sondern auch die anderen seine Fähigkeiten erkennen und schätzen lernen.



AUCH DAS GUTE SEHEN

Solange man Menschen immer nur vorhält, was sie falsch gemacht haben, führt das dazu, dass sie sich am Schluss selber nicht mehr ausstehen können. Wer – und dies gilt auch im religiösen Bereich – über sein Verhalten nachdenkt und es beurteilt, sollte sich nicht nur fragen, was falsch und unrecht, sondern auch, was gut und gelungen ist im eigenen Leben. Gäbe es da nicht auch einiges zu berichten? Darauf haben die kirchlichen Amtsträger früher vielleicht etwas zu wenig geachtet, wenn es darum ging, die Gläubigen zu einer Gewissenserforschung anzuleiten. Die dient dazu, dass wir uns Rechenschaft geben über uns selbst, und zwar ganzheitlich!

Dazu aber sind die gängigen Vorlagen nur bedingt tauglich, wie etwa das Gebet zur Gewissenserforschung in dem in der deutschsprachigen Schweiz gebräuchlichen Katholischen Gesangbuch zeigt: „Ich bin da vor dir, mein Gott. Ich versuche mein Leben zu verstehen. Du kennst mich und verstehst mich besser, als ich mich kenne und verstehe. Vor dir darf ich ans Licht bringen, was dunkel in mir ist. […] Wenn rund herum und selbst in mir Stimmen laut werden, die sagen, was nicht sein darf, gibst du mir dein Wort und sprichst zu mir: Du darfst sein. Du darfst sein mit all deinen Fehlern und Schwächen, mit deinem Versagen und mit deinen Sünden. […] Ja, Gott, hilf mir, mich zu erforschen. Komm mir mit deinem Heiligen Geist zu Hilfe, damit ich es wage, in die Abgründe meines Lebens zu blicken. Hilf mir, mich zu verstehen. Hilf mir meine Schattenseiten anzunehmen. Schenk mir jenes Vertrauen, welches mir Hoffnung gibt, dass das Dunkle in mir sich wandelt in Licht und Leben. Befreie mich in Jesus Christus und in der liebenden Kraft des heiligen und heilenden Geistes zu neuem Leben.“

Es handelt sich, das sei hier ausdrücklich vermerkt, um ein überaus einfühlsames und beeindruckendes Gebet. Bloß: Müsste da nicht noch etwas dazukommen?



DIE RECHTE GEWISSENSERFORSCHUNG

Gewissenserforschung ist Standortbestimmung – und die beinhaltet nicht nur unsere Niederlagen, sondern auch unsere Siege. Stellen wir uns damit aber nicht auf eine Stufe mit dem Pharisäer in dem berühmten Gleichnis, der sich vor Gott angeblich mit seinen guten Taten brüstet (vgl. Lukas 18, 9-14)? Aber tut er das tatsächlich? Heißt es nicht vielmehr, dass er Gott dafür dankt, dass er nicht nur die Weisung befolgen, sondern darüber hinaus auch eine ganze Menge frommer Werke vollbringen konnte? Das wäre durchaus in Ordnung, wenn er am Ende nicht auf den unseligen Gedanken verfiele, sein Verhalten an dem eines zufällig anwesenden Zöllners zu messen.

Auf den ersten Blick ist die Diskrepanz zwischen den beiden unübersehbar; sie gleicht dem Unterschied zwischen einem Scheinwerfer und einem Armeseelenlicht. Angesichts der strahlenden Sonne am glasklaren Himmel allerdings verblassen sie alle beide. Im Klartext: der Vergleichspunkt ist Gott, und nur er. Und vor Gott besteht kein wesentlicher Unterschied zwischen diesen beiden Menschen. Der Pharisäer hat gar keine besonderen Verdienste aufzuweisen! Er hat lediglich die Weisung befolgt. Dafür darf und soll er Gott danken. Gleichzeitig aber müsste er sich auch auf seine Schwächen besinnen, statt sich auf Kosten eines anderen zu profilieren.

Zu einer ganzheitlichen Gewissenserforschung gehört immer beides, nämlich das Positive, das wir bewirkt, und das Schlimme, das wir verursacht haben. Das Gebet in dem erwähnten Katholischen Gesangbuch, das in der deutschsprachigen Schweiz gebräuchlich ist, wäre also zu vervollständigen: „Gott, wie froh bin ich, dass ich neben allem Versagen mit deiner Hilfe so manches auch richtig machen konnte. Dafür danke ich dir.“ Danken dürfen auch wir dafür, dass Gott uns annimmt, so wie wir sind – und so, wie wir, leider, manchmal auch noch sind.



Zuletzt aktualisiert: 06. Oktober 2016