Mit dem Spaßkompass auf Sinnsuche

01. Januar 1900

Ein Zauberwort, ein Etikett, das mittlerweile so ziemliche allem angeklebt wird, worum es zu werben gilt, wofür Aufmerksamkeit zu erheischen wäre: Erlebnisgesellschaft, Erlebnispädagogik, Erlebnistourismus etc. – besser noch, weil neudeutsch: alles wird Event (schlicht das englische Wort für Erlebnis). Sogar von Eventfood war kürzlich zu lesen (damit war die Weihnachtsgans gemeint als Zubehör für den Event Weihnachten!). Eventkultur ist angesagt. Event meint dabei alles, was den besonderen Kick gibt, schrill, außergewöhnlich, schnell, intensiv, genauer: erlebnisintensiv, spaßfördernd. Langweilig ist ein Todesurteil. Einen Momentaufnahme:
Einst, als die Zeiten noch ernst waren, ging man morgens früh arbeiten, am Sonntag in die Kirche und am Abend zeitig schlafen. Oder so ähnlich. Damals gab es keinen Spaß, machte man keinen Spaß und hatte auch keinen Spaß. Dann eines Tages wurde die Freizeit und die Jugend erfunden und also die Idee, dass es viele interessante Dinge im Leben gibt, die man ausprobieren könnte. Auf einmal gab es so viel zu tun und zu entdecken, dass man darüber Gott und das Vorbild der Eltern und die guten Sitten ganz vergaß; statt dessen zog man in WGs und auf Partys, marschierte bei Demonstrationen mit oder auch mal nackt in den Bundestag.
So Petra Steinberger in der Süddeutschen Zeitung ironisch zum Thema Spaßgesellschaft. Einst waren die Zeiten also ernst, langsam und: langweilig. Ernst sind sie vermutlich immer noch. Gerade da verspricht das Erlebnis, der Event, Auswege und Abhilfe. Wirklich? Zumindest machen uns das Medien und Werbung gerne glauben. Eine Nachfrage.

Erlebnisgesellschaft? Die von Gerhard Schulze, Soziologe in Bamberg, mit dem Begriff Erlebnisgesellschaft gegebene Deutung unserer Zeit, hat breite Zustimmung gefunden. Zentral ist die Beobachtung, dass sich Maßstäbe der Wirklichkeitsdeutung und Handlungsorientierung verschoben haben. In der Nachkriegszeit bis weit in die 60er Jahre hinein herrschte Außenorientierung. Aus der Erfahrung des Mangels haben sich Verhaltensorientierungen entwickelt, die an den äußeren Lebensbedingungen ansetzten. Es ging um Überleben, Mehrung und Sicherung von Hab und Gut. Durch erhöhten Lebensstandard und als Folge kultureller Liberalisierung sind viele Bereiche des persönlichen Lebens individuell wählbar geworden. Dies hat eine stärkere Subjektzentrierung der Lebensgestaltung möglich und erforderlich gemacht. Unsere Gesellschaft hat vom Haben auf das Sein und vom Sein auf das Erleben umgestellt. Erlebe dein Leben! wird zum kategorischen Imperativ.

Lebenssinn Spaßfaktor. Fast alle Bereiche des sozialen Lebens sind mit der Erlebnisvokabel verknüpft. Der Wandel in der Werbung spiegelt diesen Trend. Wurde früher der Gebrauchswert der Produkte in den Mittelpunkt gestellt (Haltbarkeit, Zweckmäßigkeit, etc.), so heute vor allem der Erlebniswert, der Spaßfaktor. Das Image einer Ware wird Haupt-, die Funktion eher Nebensache. Kaufreize werden nicht mehr in der Außenwelt, im Produkt, sondern in der Innenwelt des Subjekts gesucht.
Lebensumstände sind so zu gestalten, dass man auf eigene Wünsche, Stimmungen in einer Weise reagiert, für deren Beschreibung Begriffe wie interessant, toll oder geil zur Verfügung stehen. Erlebnisorientierung ist zugleich die unmittelbarste Form der Suche nach Glück und Sinn. Sie werden nicht mehr für das Ganze, sondern in aneinander gereihten Einzelerlebnissen gesucht, über deren Qualität das Subjekt vorgeblich allein befindet. Sinn wird episodenhaft, nichts für die Ewigkeit: Lebensabschnittssinn in möglichst hoher und unmittelbarer Intensität. Es kommt darauf an, im Leben möglichst viele Sinn- und Eventinseln anzusteuern (im Urlaub, am Wochenende, am Feierabend steigt demgemäß die Angebotsdichte: jedes Straßenfest, ob multikulti oder Lederhose – ein Event!). Kompass ist die Erlebnisorientierung selbst. Sinn hat, was als aufregend, spannend, schön ... empfunden wird.
Solche Sinnbeschreibungen sind zutiefst Selbstbeschreibungen des Subjekts, das angibt, wie es sich in einer bestimmten Situation fühlt oder empfindet. Die Erlebnisgesellschaft hat die Frage nach Sinn und Glück in eine neue, nachmetaphysische Fassung gebracht: Wie kann man das Leben so verbringen, dass man das Gefühl hat, es lohne sich? Welches Gefühl aber eignet sich als Indikator für Sinn und Glück, wenn der pure Konsum nicht als Garant von Sinn und Glück herhalten kann? Die Werbung weiß es:

Have fun! Leben verdirbt, wenn es keinen Spaß (mehr) macht. Folglich muss man allen Spaß- und Lebensverderbern aus dem Weg gehen, Probleme machen keinen Spaß (Krankheit oder Tod werden ausgeklammert oder entsorgt). Aber auch eine Erlebnisgesellschaft hat damit zu kämpfen, dass das Schlechte dort anfängt, wo des Guten zu viel getan wird. Unter Lebensbedingungen, die es ermöglichen, schöne Erlebnisse zur Hauptsache zu machen, verflüchtigen sich schöne Erlebnisse, die sich als Nebensache ergeben würden. Das Beglückende des Glücks besteht ja gerade darin, dass man es nicht unmittelbar anstreben kann. Zum Glück gehört gerade, dass man nicht weiß, womit man es verdient hat. Erlebnisgesellschaft geht gegen die Unberechenbarkeit des Glücks an, indem sie schöne Erlebnisse wiederholbar macht, Erlebnisdichten erhöht. Die Erhöhung der Erlebnisgeschwindigkeit geht aber auf Dauer zu Lasten der Erlebnistiefe. Wo von der Anhäufung der Erlebnisse noch ein Reiz ausgehen soll, müssen die Erlebnisangebote in immer neuen Variationen auf den Markt. Trotzdem stellt sich bald die Melancholie der Erfüllung ein. Auf dem Erlebnismarkt wächst die Gruppe der missmutig Vergnügten. Ihr Problem sind sie selbst, die Abnahme ihrer Faszinierbarkeit geht einher mit der Steigerung des Reizangebotes.

Sättigungsgrenze? Wie Süchtige greifen sie nach immer mehr, haben aber immer weniger davon. Im Moment der Wunscherfüllung entsteht bereits die Frage, was denn als Nächstes kommen soll, so dass sich Befriedigung gerade deshalb nicht mehr einstellt, weil die sofortige Suche nach Anschlussbefriedigungen dies unterläuft.
Je selbstverständlicher schöne Erlebnisse zum Sinn des Lebens gemacht werden, um so größer wird die Angst vor dem Ausbleiben solcher Erlebnisse. Zur Angst vor Langeweile, Stille und Langsamkeit gesellt sich die Angst, etwas zu versäumen. In einem solchen Kontext ist zwar nicht mehr das Leben bedroht, aber sein Sinn. Wo das Erleben des Lebens zur Lebensaufgabe wird, steigt das Risiko, durch das Ausbleiben von Erlebnissen dem Leben nichts abgewinnen zu können.

Suche nach dem anderen. Nach zahlreichen Säkularisierungswellen ist die Welt heute weitgehend entzaubert, für viele der Himmel leergeräumt. Für die Frage nach dem wirklichen, wahren und eigentlichen Leben gibt es keine andere Erkenntnisinstanz als die Welt selbst. Die allein aber scheint nicht auszureichen bei dem Versuch, jenes Eigentliche zu bestimmen. Das wissen all jene, denen die Erlebnisgesellschaft bald zu viel wird, zugleich aber auch zu wenig bietet. Sie wissen, dass ein aus vielen Erlebnisepisoden addierter Lebenssinn genau so flüchtig und vergänglich ist wie diese Episoden selbst. Sie suchen nach etwas, das nicht mehr veralten kann. Es braucht darum nicht zu verwundern, wenn sich diese Suche wieder auf das Andere von Welt und Zeit richtet, um von dort das Dasein in der Zeit sinnvoll werden zu lassen. Gehofft wird auf die Möglichkeiten einer Existenzvergewisserung aus der Transzendenz. Religion ist plötzlich wieder in, weil sie das im Angebot hat, was allen fehlt, die schon alles hinter sich haben: der kleine Grenzverkehr mit dem Unendlichen.

Religion im Erlebnismarkt. Was zunächst wie ein Ausbruch aus den Überdrehtheiten des Erlebnismarktes aussieht, erweist sich auf den zweiten Blick oft als dessen Fortsetzung. Viele suchen nach der wahren Welt hinter der Welt der Waren. Aber sie bleiben dem Erlebnisimperativ bisweilen umso mehr verhaftet, je entschiedener sie von ihm loskommen möchten. Meist bringt es die erste Reaktion auf eine religiöse Sinnofferte bereits auf den Punkt: Kann man das erleben, was zu glauben ist? Auch in Religionsdingen geht die Laufkundschaft nur dorthin, wo etwas abgeht. Das habe ich wirklich erlebt – diese Beteuerung wird eine Bekenntnisformel. Wer heute am Religiösen interessiert ist, sucht meist nicht das vorgefertigte Bekenntnis oder das dogmatische Lehrgebäude, schon gar nicht die oberhirtliche Verwaltung einer einschränkenden Moral. Gefragt sind Wege und Formen einer unmittelbaren Erfahrung des Religiösen, des Mystischen, des Göttlichen. Aus religiösen Offerten werden heute in hohem Masse jene gewählt, die Transzendenzen in Aussicht stellen, bei denen die Adressaten nicht auf die Vermittlung von überkommenen Institutionen angewiesen sind. Wer unmittelbare Jenseitskontakte anbieten kann, hat erhebliche Marktvorteile. Hinter all dem steht die Devise: Zurück zur erlebten Gewissheit der Gegenwart des Göttlichen!

Vor Christen und Kirche macht dieser Trend keineswegs Halt. An die Stelle der Autorität überlieferter heiliger Schriften tritt auch hier zunehmend eine Glaubensgewissheit, die sich im eigenen Erleben finden lässt. Die Suche gilt neuen Möglichkeiten des Direktkontakts. Christliche Kirchen scheinen manchen nur noch dann zukunftsfähig, wenn sie der rituellen Erstarrung ihrer Liturgie und der gefühllosen Verkopfung ihrer Lehre den Abschied geben. Sie haben nur dann eine Zukunft, wenn sie religiöse Live-Erlebnisse möglich machen. Anstatt wie bisher an einem Bestand wahrer Sätze festzuhalten, setzt sich auch unter ihren Mitgliedern zunehmend das Interesse an einer Spiritualität durch, die sich von intensiven Erlebnissen nährt. Die Suche nach den Quellen dieser Spiritualität wollen sie in eigener Regie vornehmen. Diese Suche nach dem Authentischen im Christlichen ist durchaus ein Gewinn, aber mancher Weg dahin zweischneidig.
In den 70er Jahren definierte sich die Avantgarde religiöser Praxis vorwiegend sozial und politisch. Religion musste gesellschaftlich relevant sein. Dagegen hat sich die erlebniszentrierte Nachfrage nach Religion in den 90er Jahren zunehmend mit individuellen ästhetischen und therapeutischen Interessen verbunden: Gut ist, was mir gut tut! Wichtiger als die gesellschaftlichen Konsequenzen praktizierter Religiosität sind ihre Auswirkungen auf den psychischen Haushalt des Individuums. Eine derart innenorientierte Spiritualität hält alles Objektive und Institutionelle, Riten, Symbole und Texte nur insoweit für belangvoll, wie sie bestimmte Wirkungen im religiösen Subjekt hervorrufen: Gefühle, Stimmungen, Ekstasen, Betroffenheit, Ergriffenheit. Der im religiösen Erleben erschlossene Inhalt gilt oft nicht mehr als entscheidend.

Reine Gefühlssache? Der Erlebnisreligion gehört die Gegenwart – ob ihr auch die Zukunft gehört, ist fraglich. Allerdings dürfte jede Form der Glaubensverkündigung der Vergangenheit angehören, die ein Wissen von Gott bloß behauptet. Sie muss ihren Adressaten auch Wege zeigen können, wie das Behauptete auch erfahren werden kann. Das Evangelium gibt eben nicht nur zu denken und zu tun. Es gibt vor allem dem Menschen die Möglichkeit, sich und die Welt neu zu sehen und anders zu erfahren. Dogma und moralisches Gebot finden vor allem dann Gehör, wenn sie in persönlichen Erfahrungen die Gewissheit von der lebensermöglichenden Wahrheit des Evangeliums aus erster Hand vermitteln.
Was der christliche Glaube nicht verträgt, ist Gedankenlosigkeit. Dass Gott nicht gefunden wird, wo dogmatische Begriffsakrobatik und eine lebensferne Moral regieren, heißt nicht: Gott lässt sich nur dort finden, wo nicht gedacht, nichts beansprucht wird. Nicht jedes starke Gefühl ist bereits von Heiligen Geist gewirkt, nicht jede fromme Gestimmtheit bereits ein Transzendenzvollzug und nicht jedes Entspannungsgefühl Ausdruck einer Erlösungsgewissheit. Oft werden religiöse Einbildungen mit religiösen Wirklichkeiten gleichgesetzt. Einem verkopften Christentum ist nicht damit gedient, dass seine Vertreter plötzlich kopflos agieren.

Nachdenken tut Not. Im Blick auf Glaube und Kirche in einem Umfeld, wo der größere Spaß-, Erlebnis- und Innerlichkeitsfaktor auf vielen Ebenen und in vielen Formen zählt, tut Nachdenken besonders Not. Es stellen sich Fragen danach, wie die Sinnsuche- und befriedigung der Menschen wahr- und ernst genommen wird. Wenn der Glaube an den Gott der Bibel mit Erleben und mit Nachdenken zu tun hat, dann wird jeder Weg zu kurzatmig sein, der kirchliche Angebote auf Eventcharakter trimmt. Wenn kirchliche Großereignisse (Katholikentage wie Papstmessen) funktional, medial und emotional sich nur mehr wenig vom Formel-1-Kult oder Rockfestivals unterscheidbar sind (vor allem für die außerhalb), dann geht etwas verloren. Wenn Gemeindegottesdienste unter der Prämisse gestaltet werden, nur nicht langweilig zu sein, dann kippt unter der Hand etwas um. Dies ist nun beileibe kein Plädoyer für das seelenlos abgespulte Ritual, sondern die Erinnerung daran, dass der Mensch nicht allein vom Event lebt. Er braucht ihn – auch geistlich –, das Erleben des Außergewöhnlichen, des Überraschenden, des Grundstürzenden, aber er braucht ihn im Rhythmus von Spannung und Entspannung, von Erlebnisdichte und Ruhe, im Feiern und im Aushalten von unabschließbaren Fragen, er braucht das sichernde Moment des Gewohnten.
Und eine Nachdenklichkeit am Ende: Um das Lebensnotwendige brauchen wir in unseren westlichen Gesellschaften uns weniger Sorgen zu machen. Aber andernorts stellt sich nicht zuerst die Frage nach hoher Event- und Erlebensferquenz, sondern die nach dem Überleben! Und irritierenderweise gewinnt man dort leicht auch den Eindruck: die können dennoch sogar besser feiern ...

Zuletzt aktualisiert: 06. Oktober 2016