Moral in Zeiten des Terrors

22. Januar 2010 | von

 Der am Weihnachtstag von dem Nigerianer Umar Farouk Abdulmutallab versuchte Anschlag auf eine US-Passagiermaschine in Detroit hat die Diskussion über angemessene Mittel der Terrorbekämpfung neu entfacht. Fieberhaft versuchen Experten Sicherheitslücken zu schließen, überlegen, wie viel Kontrolle zumutbar ist und ab wann sie gegen die Menschenwürde verstößt. Diese sieht die Moraltheologin Katharina Klöcker schon längst gefährdet. Wie moralisch sind Sicherheitsmaßnahmen, die geltendes Recht aushöhlen, und wie kann die „Munition" des Terrors entschärft werden? Mit diesen Schlüsselfragen beschäftigt sie sich in ihrer Dissertation. 



Jede Nachrichtensendung im deutschen Fernsehen berichtete davon, jede Zeitung schrieb darüber. Allein die Süddeutsche Zeitung widmete dem Thema in ihrer Ausgabe vom 16. Dezember 2009 drei Artikel, angefangen auf der Titelseite. Es geht um das momentan vom Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe geprüfte Gesetz der Vorratsdatenspeicherung. Das 2007 von der Großen Koalition erlassene und schon März 2008 von den Verfassungsrichtern teilweise gestoppte Gesetz beinhaltet, dass Telefon- und Internetanbieter ein halbes Jahr lang alle Verbindungsdaten ihrer Kunden speichern müssen. Konkret: angerufene Telefonnummern, Länge der Gespräche, der bis auf fünf Meter genau zu bestimmende Standort eines aktiven Handys, Absender und Empfänger von E-Mails, Häufigkeit der Aufrufe von Internetseiten. Durch diese Erfassung des gesamten Telekommunikationsverhaltens jedes einzelnen Bürgers ließe sich ein exaktes Bewegungsprofil erstellen, die freiheitlichen Grundrechte werden also ausgehöhlt. Doch auch wenn 35.000 Bürger und Datenschützer in der größten Sammelklage der Justizgeschichte Beschwerde gegen dieses Gesetz eingereicht haben, hält der Staat daran fest mit der Begründung der Vorbeugung und Verfolgung terroristischer Angriffe. Nur durch diese „Nachrüstung" in Sachen Sicherheit, also eben beispielsweise durch die Nutzung der gespeicherten Verbindungsdaten für Ermittlungszwecke, sei es möglich, Terroristen den Kampf anzusagen, beteuern die Behörden wie etwa das Bundeskriminalamt. An den Karlsruher Verfassungsschützern liegt es nun zu bestimmen, inwieweit die Grundrechte zugunsten der Sicherheit eingeschränkt werden dürfen.



Die Welt in Angst



„Zur Moral der Terrorbekämpfung. Eine theologisch-ethische Kritik" überschrieb Katharina Klöcker, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Seminar für Moraltheologie der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, ihre im vergangenen September veröffentlichte Promotion. In ihrer zeitaktuellen Studie beschäftigt sie sich mit den Schlüsselfragen des Antiterrorkampfes aus moraltheologischer Perspektive. Einige ausgewählte Gedanken, Fragestellungen und Argumentationsfiguren hat sie in einem Vortrag zusammengefasst, mit dem sie ihre Dissertation öffentlich präsentierte. Sie sollen in diesem Beitrag, in freilich stark gekürzter Form, vorgestellt werden.

Seit dem 11. September 2001 sind die Zeiten andere geworden. Seitdem Milliarden von Fernsehzuschauern live verfolgen konnten, wie die beiden Türme des World Trade Centers in New York nach zwei Flugzeuganschlägen in sich zusammenfielen und etwa 3.000 Menschen unter sich begruben, scheint die Epoche der universellen Gefährdung, der ständigen Alarmbereitschaft, der steten Unsicherheit begonnen zu haben. „Nichts und niemand scheint mehr sicher, nur eines ist gewiss: Jederzeit und überall kann die Katastrophe eintreten …", so die Moraltheologin. Da die Terroristen offenbar nicht mehr davor zurückschrecken, wahllos viele Menschen zu töten, und im Fall des 11. Septembers keine politische Forderung stellten, also Ort und Opferzahl absoluter Willkür unterworfen sind, kann nun von einer Steigerungsform des Terrorismus gesprochen werden: dem Megaterrorismus.



Kontrolle zur Terrorabwehr?



Neben dem Moment des terroristischen Aktes selbst, der örtlich und zeitlich begrenzten Katastrophe, steht die entgrenzte Katas-

trophe, die Erwartung eines Anschlags, die die Welt in stete Furcht versetzt. Auch sie hat also zerstörerische Wirkung. Diese Angst wird noch gesteigert durch das Faktum, dass die religiös-fundamentalistischen Terroristen zum Suizid bereit sind und „damit das Regulativ vom Selbsterhaltungstrieb in einer konzentrierten Aktion außer Kraft setzten… Durch diese offensichtliche Geringschätzung des individuellen, des eigenen Lebens, demontiert der Selbstmordattentäter zugleich alle potentiell Erfolg versprechenden, konventionellen und bewährten Arten der Bekämpfung und Eindämmung von Gewalt." Denn wenn der Täter nicht mehr lebt, kann man ihn nicht mehr bestrafen und dadurch andere potentielle Täter abgeschrecken. Die einzige Reaktion, die den westlichen Staaten dann scheinbar noch übrig bleibt, ist die Vorbeugung, die Prävention, die Terrorbekämpfung. Ein aktuelles Beispiel, das der Vorratsdatenspeicherung, ist eingangs genannt worden. „Wie nichtig erscheint die Verletzung der Privatsphäre, wenn die Überwachung als probates Mittel zur Überführung künftiger Terroristen ausgegeben wird. Lieber überwacht als tot! Klingt das nicht einleuchtend? Ist es nicht selbstverständlich, Einschränkungen freiheitlicher Grundrechte in Kauf zu nehmen, angesichts massiver Gefahr für Leib und Leben?" So fragt Katharina Klöcker in ihrer Dissertation.

Der kanadische Philosoph Michael Ignatieff hat sich mit diesem traditionellen Instrument (theologischer) Ethik, dem des kleineren Übels, beschäftigt. Dabei geht es um das Abwägen, welche Maßnahme im Antiterrorkampf ethisch vertretbar ist, auch wenn sie ein Übel, ein kleineres Übel, mit sich bringt. Katharina Klöcker erörtert seine Gedanken: „Das kleinere Übel wird zur moralischen Zauberformel, die den Konflikt zwischen kollektiven Sicherheitsinteressen und individuellen Freiheitsrechten entschärfen soll – und zwar zugunsten der Sicherheit. Das kleinere Übel wird für eine Ethik in Zeiten des Terrors zum konstitutiven Element. Eine Moral der schmutzigen Hände zur einzig verbleibenden Option. Denn, so Ignatieff, der Demokratie bleibt angesichts ihrer existenziellen Infragestellung durch den Terror doch gar keine andere Wahl, als sich böser Mittel zu bedienen."



Also Sicherheit statt Freiheit.



Doch wenn sich diese Argumentationsfigur auch in der katholischen Moraltheologie großer Beliebtheit erfreue, habe sie in dem Kontext der Antiterrorethik bedrohliche Folgen, so Klöcker. Eine Folge ist die Thematik des Ausnahmezustands, das heißt: Die Einschränkung oder die vorübergehende Aufhebung von Gesetzen wird zur Regel selbst. „Der Kerngedanke besteht darin, dass der Staat in außergewöhnlichen Bedrohungslagen vorübergehend eine Erweiterung seiner Befugnisse in Anspruch nehmen können muss, um die verfassungsmäßige Ordnung wiederherzustellen." In unserem Exempel bedeutet das, dass die Vorratsdatenspeicherung den Status einer Ausnahme zu verlieren droht und damit gegen ein freiheitliches Grundrecht verstößt. „Unrecht und Unmoral werden nicht nur vorübergehend akzeptiert, sondern stehen in der Gefahr, ununterscheidbar zu werden von Moral und Recht." Wenn ein demokratischer Staat auf diese Weise die Grundrechte aushöhlt, zerstört er sein Fundament und gefährdet sich in einem weiteren Maße.

Eine nächste Folge bei der Verwendung des Arguments des kleineren Übels ist das Problem der Gleichsetzung des größeren Übels, des Terrors, mit dem absolut Bösen. „Denn dann verliert auch das kleinere Übel jegliches Maß. Wer nur weniger böse als absolut böse sein darf, dem sind moralisch alles andere als enge Grenzen gesetzt."



Eskalationsspirale



Was folgt aus diesen Überlegungen? Auch wenn die Maßnahmen der Prävention immer ausgefeilter werden und einen sehr hoch zu schätzenden Stellenwert in Rechtsstaaten erhalten haben, stehen dennoch Terror und Terrorbekämpfung in einem riskanten Zusammenhang. Denn je größer die durch den Terror in der Gesellschaft geschürte Angst ist, desto stärker werden die Rufe nach immer besseren Präventionsmaßnahmen, nach einer Minimierung der Risiken, nach effektiver Vorbeugung. Und darin liegt eine Gefahr, gerade im Hinblick auf Selbstmordattentäter, die ihr Leben bewusst mit auslöschen wollen: „Der Terror lässt die Prävention jedoch zunehmend selbst in die Maßlosigkeit, ins Nicht-Vernünftige, Irrationale, ins prinzipiell Schrankenlose abgleiten… Die Prävention selbst sorgt aber wiederum dafür, dass sich das Gefühl permanenter Bedrohung verstärkt… Die stetig anwachsende Vorsorge und die immer ausgefeilteren Präventionsmaßnahmen potenzieren das Gefühl des Bedroht-Seins." Die bisherigen Reisepässe reichen schon nicht mehr, jetzt müssen es biometrische sein. Der bisherige Metalldetektor am Flughafen ist offenbar sicherheitstechnisch schon überholt. Sogenannte Nacktscanner scheinen jetzt das Mittel der Wahl. Waren die Geräte vor Wochen noch umstritten, planen deutsche Politker, sie noch in diesem Jahr auf allen deutschen Flughäfen einzusetzen. Und so kann sich diese Spirale immer weiter nach oben drehen angesichts der abstrakten Risiken des Terrors, die eine gesicherte Gefahrendiagnose nicht beschreiben kann. Nur durch die kontinuierliche Einschränkung kostbarer Freiheitsrechte glaubt die Gesellschaft, sich Sicherheit erkaufen zu können. Dr. Katharina Klöcker fasst diese Entwicklung so zusammen: Das Instrument des kleineren Übels fördere in unserem Zusammenhang die Unmoral, „weil es der Maßlosigkeit des Sicherheitsdenkens ausgeliefert ist und so, indem es sich ihm anpasst, selbst maßlos wird."

Das letzte Kapitel ihrer Dissertation betitelt die Wissenschaftlerin mit „Wider die Logiken der Antiterrormoral: Theologisch-ethische Einsprüche". Darin will sie auf experimentelle Weise Einwände einer theologischen Ethik gegen die Logiken der Terrorbekämpfung erheben, die hier in Auswahl vorgestellt werden. Sie will die Einwände jedoch nur als kritische Denkanstöße aus einem veränderten Blickwinkel und als Unterbrechung der beschriebenen Denkmuster verstanden wissen.



Ethik erhebt Einspruch



Als Stein des Anstoßes kann die Friedensethik des evangelischen Theologen Dietrich Bonhoeffer gesehen werden, der 1934 mahnte: „Es gibt keinen Weg zum Frieden auf dem Weg der Sicherheit." Dieser Einwurf widerspricht genau der in unserer Gesellschaft verbreiteten Auffassung, Freiheit zugunsten der Sicherheit einzuschränken. Er vertritt die These, „dass das Sicherheitsstreben eine Kultur des Misstrauens und dadurch Gewalt und Unrecht erzeugt und weiter fortschreibt …". Damit stellt Bonhoeffer unsere Forderung nach immer mehr und immer besseren Sicherheitsvorkehrungen infrage.



In der Ethik der Unterbrechung betrachtet Katharina Klöcker das biblische Verständnis von Sicherheit als Quelle theologisch-ethischen Nachdenkens. Im Alten Testament finden wir zwei unterschiedliche Bilder von Sicherheit: Einerseits wird das Wohnen in Sicherheit demjenigen in Aussicht gestellt, der sich auf JHWH verlässt. So hat es den Charakter göttlicher Verheißung und wird zum Sinnbild der erhofften Erlösung. Andererseits begegnet uns im Alten Testament die Sicherheit auch in einem negativen Licht, wenn Menschen die Vorstellung haben, dass Sicherheit von ihnen selbst hergestellt werden könne. Durch diese naive oder arrogante Sorglosigkeit glauben sie, Situationen, ja Gott selbst im Griff zu haben. So wird Sicherheit zum Inbegriff trügerischer Macht.

In den zahlreichen Gleichnissen des Neuen Testaments kommt zusammengefasst zur Sprache, dass nur die belohnt werden, die etwas wagen. Klöcker: „Wer sich dagegen in Sicherheit wiegt, der richtet sich ein in einer schein-heilen Welt. Was könnte ihn veranlassen, sich gegen Unrecht und Gewalt aufzulehnen?"

Die biblischen Stellen erkennen im Sicherheitsverlangen eine tiefe menschliche Sehnsucht, die Gegenstand der Verheißung Gottes ist. Doch die Verwirklichung dieses Wunsches birgt die Gefahr, selbst Gewalt zu erzeugen. Daher ist der Blickwinkel einer theologischen Ethik auf die Unsicherheit zu setzen. Denn dort, „wo Sicherheit nicht mehr mit allen Mitteln erzwungen werden will, endet der Kreislauf der Gewalt." Dort ist der Ort der Gottesnähe.



Leugnen der Verwundbarkeit



Ein letzter Versuch, die herrschenden Denkmuster zu durchbrechen, ist die Ethik der Verwundbarkeit. Katharina Klöcker erklärt, dass das Aufrechterhalten der Illusion der Unverwundbarkeit, die die Einsicht der Verletzbarkeit nach Anschlägen verdrängen und Vergeltung ausrufen will, zerstörerisch ist. „Wer glaubt, sich für unverwundbar halten zu können, der erliegt nicht nur dem Sicherheitswahn. Der dämonisiert zugleich auch alles, was an seine Verwundbarkeit gemahnen könnte." Und: „Wer glaubt, sich für unverwundbar halten zu können, für den wird Gewalt zur politischen Option." Denn die Verleugnung der eigenen Verwundbarkeit führt zur Erbarmungslosigkeit anderen gegenüber. Sie führt zur Entmenschlichung.

Klöckers Fazit: „Deutlich werden muss, dass eine Demokratie dem Terror grade nicht durch eine… Aufhebung ihrer innersten Prinzipien begegnen darf, sondern durch eine noch radikalere Berufung auf diese Prinzipien. Der Ausnahmezustand darf keine Option, das kleinere Übel nicht normative Lösung einer Ethik in Zeiten des Terrors sein… Denn unsere Freiheitsrechte sind für den Terror der Stachel im Fleisch."



 

Zuletzt aktualisiert: 06. Oktober 2016