Musenkuss für jedermann

01. Januar 1900 | von

Kreativität ist in. Kreativität ist gefragt. Jeder führt das Wort im Munde, gleichgültig, ob es sich um Technikerinnen oder Umweltschützer, Wirtschaftsbosse oder Pädagoginnen handelt. Auch die Abgeordneten der unterschiedlichsten Parteien, seien sie nun schwarzer, roter, grüner oder gelber Couleur, schreiben sich diesen Begriff auf die Fahnen. Der Ruf nach Kreativität wird in Wirtschaft, Politik und Bildung, aber auch im Privatleben immer lauter - gerade so, als ob man sich von ihr die Rettung aus den Sackgassen verspräche, in die wir uns im Namen von Fortschritt und Leistung hineinmanövriert haben.
Jeder weiß den Begriff in seinem Sinne zu verwenden, niemand mag auf ihn verzichten - aber fast keiner stellt die kritische Frage, was damit denn überhaupt gemeint sei.

Eine göttliche Eigenschaft. Der Blick ins Fremdwörterbuch gibt kurz und knapp Auskunft: Kreativität heißt übersetzt das Schöpferische oder gar Schöpferkraft, kreativ meint schöpferisch beziehungsweise Ideen haben und diese gestalterisch verwirklichen.
Wenn es um Begriffe aus dem Wortfeld Schöpfung geht, fällt dem christlich denkenden und orientierten Menschen vermutlich sehr rasch das in seiner Glaubenstradition schöpferische Wesen schlechthin ein: Gott. Er ist nach dem christlichen Glauben derjenige, in dem alles, was ist, seinen Anfang nahm. Gott ist der Schöpfer, der die Welt in all ihren Facetten und schließlich auch uns Menschen aus dem Nichts ins Dasein gerufen hat. Diesen Akt der Schöpfung nennt die Theologie creatio ex nihilo, Schöpfung aus dem Nichts. Mit dem Zusatz aus dem Nichts wird deutlich unterstrichen, dass alles, was ist, allein auf die Idee und den Willen Gottes zurückgeht. Dieser Schöpfungsakt Gottes beschränkt sich also keinesfalls auf ein bloßes Formgeben und Gestalten eines ihm vorgegebenen Materials. Neben der creatio ex nihilo kennt die Theologie auch den Begriff der creatio continua - in dieser Vorstellung von der kontinuierlich begleitenden und erhaltenden Schöpfertätigkeit und -kraft Gottes drückt sich die Überzeugung aus, dass alles schöpferische Wirken von Anbeginn bis heute letztlich seinen Ursprung in Gott als dem Schöpfer aller Wirklichkeit hat. Zugespitzt könnte man also sagen: Kreativität ist eine Eigenschaft Gottes.

Kein Schöpfen aus dem Nichts. Doch in dem von so vielen Seiten laut geäußerten Wunsch nach mehr Kreativität in allen Bereichen des Lebens verbirgt sich in erster Linie wohl kaum der Wunsch nach einer spürbareren Anwesenheit und Wirksamkeit Gottes. Hier ist Kreativität als eine Eigenschaft des Menschen gemeint und gefordert.
Doch inwiefern ist Kreativität überhaupt eine menschliche Eigenschaft? Es ist dem Menschen nicht gegeben, im absoluten Sinne Etwas aus dem Nichts zu erschaffen. Er ist in gewisser Weise immer an jede Menge Vorgaben und Bedingungen gebunden: er braucht Material, an dem er gestalterisch tätig werden kann; er ist in allem angewiesen auf vorhandenes Wissen, auf Kultur und die Traditionen der Menschheit, sei es, dass er sie in seinem Handeln und in seinen Werken in neuer, bisher unbekannter Weise fruchtbar macht, sei es, dass er sich deutlich von ihnen distanziert und abgrenzt - und er ist gebunden an die Grenzen seiner Person: er kann nur schaffen, was seinen Begabungen und Fähigkeiten entspricht, er kann nur aus sich schöpfen, was in ihm angelegt und an Möglichkeiten vorhanden ist. Und vielleicht muss man im Sinne des Gedankens von der creatio continua hinzufügen, dass es auch einer gewissen Inspiration bedarf. Aber in eben diesem Sinne kann der Mensch kreativ, wirklich schöpferisch sein. Er kann der Welt Gedanken, Taten und Werke schenken, die es ohne ihn und seine Bemühungen, ohne seine ureigene Kreativität nicht gäbe..

Wenn ich Kreativität so verstehe, stellt sich die Frage, wer diese Eigenschaft denn nun eigentlich hat oder nicht hat. Ist Kreativität etwas, das nur besondere Menschen betrifft, etwa Künstlerinnen und Künstler, die sich in Malerei, Bildhauerei, Poesie oder irgendeinem anderen künstlerischen Medium ausdrücken oder für Leute, die in so genannten kreativen Berufen tätig sind, zum Beispiel in der Film- oder Theaterbranche, in der Werbung oder im (Kunst-) Handwerk?
Nach meinem Verständnis ist Kreativität im oben genannten Sinne eine allgemeinmenschliche Begabung, eine Eigenschaft oder Fähigkeit, die allen Menschen mit auf den Weg gegeben ist.

Vielleicht ist es sogar diese Eigenschaft, das Schöpferische im Menschen, das in besonderer Weise zu verdeutlichen vermag, was in der Heiligen Schrift mit der Gottebenbildlichkeit des Menschen gemeint ist.

Kreativität erlernbar? Nun ist es aber unbestritten so, dass es Menschen gibt, deren schöpferische Begabung einem sofort ins Auge springt, während bei anderen im Alltag scheinbar keine Spur davon zu entdecken ist.
Woher kommen diese eklatanten Unterschiede? Lässt sich Kreativität eigentlich messen? Kann man sie sich antrainieren, so wie man die Muskeln seines Leibes mit Bodybuilding zu formen vermag?

In den USA hat sich im Gefolge der IQ-Tests die Wissenschaft mit der Frage auseinander gesetzt, ob man nicht mit bestimmten Tests auch das kreative Potential eines Menschen messen kann. Zu diesem Zweck sind Testaufgaben entwickelt worden, von denen ich einige hier auch vorstellen möchte. Diese Aufgaben fordern dazu heraus, die gewohnten Gedankenbahnen zu verlassen oder zu überschreiten, um neue Lösungsstrategien zu entwickeln. Als solche spielerische Herausforderungen erscheinen mir diese Aufgaben durchaus interessant.  Es macht Spaß, sich ihnen zu stellen, und sie bringen tatsächlich die Gedanken in Bewegung, um Ideen zu produzieren. Doch was ihren Gehalt in Bezug auf die Messbarkeit menschlicher Kreativität anbelangt, bleibe ich eher skeptisch. Sicherlich lässt sich auch an diesen Testaufgaben das Phänomen beobachten, dass den einen Probanden nur wenig und eher Konventionelles einfällt, während andere Testpersonen mit einer Fülle von erstaunlichen und witzigen Einfällen aufwarten können. Doch meiner Auffassung nach handelt es sich bei dieser Art von Aufgaben nicht um brauchbare Elemente einer Messlatte menschlicher Schöpferkraft, sonder eher um Übungen, die Lust auf eine andere Art des Denkens wecken, eine Art von Denken, die aber in ähnlicher Weise erlernbar ist, wie das Lösen von Kreuzworträtseln (meine Mutter hat da den Begriff Kreuzworträtselbildung geprägt) oder das Um-die-Ecke-Denken, wie es bei den schwierigeren Rätseln wie etwa in den Beilagen der SZ oder der FAZ gefragt ist. Bei all dem lässt sich feststellen: Übung macht den Meister.
Aber: Bin ich schon allein deshalb ein besonders kreativer Mensch, weil mir in kurzer Zeit besonders viele weibliche Vornamen einfallen, die mit dem Buchstaben e enden? Oder weil ich jede Menge besonders ausgefallene Verwendungsmöglichkeiten für einen Ziegelstein anzubieten habe? Oder weil ich ganz viele und besonders originelle Minizeichnungen anfertigen kann, in denen ein oder mehrere Dreiecke vorkommen? Alle diese Aufgaben und Übungen lassen die Tatsache außer Acht, dass Kreativität nicht nur als Eigenschaft einer Person, sondern auch in Abhängigkeit von Situationen wirksam wird.

 1. Notieren Sie in 4 Minuten möglichst viele und unterschiedliche Sprichwörter auf ein weißes Blatt Papier!

 Elfenbeinturm oder Straßencafé? Kreativität kann man nicht machen, aber man kann sich  und anderen Bedingungen schaffen, unter denen sie lebendig werden kann. Wie diese Bedingungen aussehen, mag für jeden Menschen anders sein. So braucht der oder die eine eher Zeitdruck, ein anderer aber alle Zeit der Welt (etwa um eine Skulptur aus einem Felsbrocken zu befreien). Der eine schließt sich in den Elfenbeinturm und beschäftigt sich ausschließlich mit einem zu lösenden Problem, die andere hat die besten Einfälle im belebten Straßencafé oder unter der Dusche. Manche begünstigenden Bedingungen gelten vielleicht auch für viele, zum Beispiel, dass in einer Gruppe die Einzelnen von der schöpferischen Kraft der anderen profitieren. Das mag der Grund für Teamarbeit in vielen Berufszweigen sein, aber auch für die Bildung von Künstlergruppen (Die Brücke, Der blaue Reiter) und -kolonien (z.B. in Worpswede).

 2. Nehmen Sie sich 4 Minuten Zeit und suchen Sie möglichst viele Wörter, die eine ähnliche Bedeutung haben wie das Verb essen und schreiben Sie sie auf ein Blatt Papier! (Beispiel betrunken: angesäuselt; berauscht; blau; sich einen hinter die Binde gekippt haben; …)

 Kreativität hat viel mit dem Entwickeln von Begabungen und dem Erlernen von Techniken  zu tun. Ein guter Maler kommt trotz seiner Grundbegabung nicht darum herum, sein Handwerk zu lernen, um es zu beherrschen! Gleichzeitig machen aber viele Menschen die Erfahrung, dass zum Beispiel der gut gemeinte Kunstunterricht in der Schule eher mithilft, der eigenen Lust am künstlerischen Ausdruck ein Grab zu schaufeln als diese dauerhaft zu fördern und den Einzelnen in seinem kreativen Tun zu ermutigen. Wie kommt das?

 3. Skizzieren Sie in 4 Minuten auf einem Blatt Papier möglichst viele und verschiedene Dinge, in denen ein Kreis enthalten ist - Größe, Lage und Anzahl der Kreise spielen dabei ebenso wenig eine Rolle wie die Qualität der Skizzen!

 Wo Kreativität wachsen kann. Das Erfüllen vorgegebener Aufgaben muss nicht unbedingt das schöpferische Potential eines Menschen wecken. Und es ist alles andere als ermutigend, wenn die eigene Lösung oder das entstandene Werk den Vorstellungen des Aufgabenstellers so gar nicht entspricht.

 4. Wie viele Verwendungsmöglichkeiten fallen Ihnen für eine Tageszeitung ein? Schreiben Sie Ihre Ideen auf ein Blatt Papier! Sie haben 4 Minuten lang Zeit! (Beispiel: Geschirrtuch: Abtrocknen; etwas durchseien, Strudelteig darauf ausrollen, zum Verbinden benutzen, ein Puppenkleid daraus nähen …)

 Kreativität kann da lebendig werden, wo neue und ungewohnte Ideen nicht von vornherein zensiert werden, dort, wo Menschen Zeit und Raum haben, eigene Vorstellungen zu entwickeln und diese wenigstens zum Teil auch zu verwirklichen. In unserer Zeit, in der der Fernseher für andauernde Information, Unterhaltung und Ablenkung sorgt und die Kinderzimmer vor Spielzeug überquellen, ist eine solche Atmosphäre gar nicht so leicht zu schaffen.

 5. Schreiben Sie in 4 Minuten möglichst viele und unterschiedliche Wörter auf ein weißes Blatt Papier, die mit der Zahl 2 zu tun haben! (Beispiel: Zahl 3: Drei Musketiere; Dreifaltigkeit; Dreigestirn; Einäuglein, Zweiäuglein und Dreiäuglein, aller guten Dinge sind drei …)

 Auch das Sprichwort Not macht erfinderisch gibt einen wichtigen Hinweis. Manchmal ist es eine Not, ein bedrängender Mangel, der zum Schlüssel zur eigenen Kreativität wird. Diese menschliche Schöpferkraft ist es, die so manchen dazu befähigt, in schweren Zeiten und scheinbar ausweglosen Situationen zu Lebens- wenn nicht Überlebenskünstlern zu werden.

 6. Verbinden Sie die 9 Punkte mit 4 geraden Linien, ohne dabei abzusetzen! n n n                                                                                                                                                      n n n                                                                                                                                                      n n n

 Wichtig erscheint mir in jedem Falle, Kreativität nicht auf den Bereich der Kunst und der kreativen Berufe einzuschränken. Es ist nicht jedem gegeben, eine Mona Lisa zu malen, es bringt aber auch nicht jeder fertig, mit beschränktem Haushaltsgeld der Familie jeden Tag etwas Schmackhaftes auf den Tisch zu bringen. Vielleicht ist der Werbetexter kreativ, dem immer wieder gute Slogans für Werbekampagnen einfallen - aber gilt das nicht auch für den Fließbandarbeiter, der in seiner Freizeit bunte Drachen bastelt oder seinen Kindern die spannensten selbsterdachten Märchen zu erzählen weiß?

 Unbequeme Geister. Eine skeptische Bemerkung sei mir am Ende noch vergönnt: Ich frage mich manchmal, ob diejenigen, die gerade in Wirtschaft, Politik und Bildung so laut nach Kreativität rufen, wirklich zufrieden wären, wenn diese sich im gefragten Maße entfalten würde. Denn Kreativität hat viel mit Freiheit zu tun, sie lässt sich nicht ohne weiteres vor die Karren bestimmter Anliegen spannen. Sie macht Menschen alles andere als stromlinienförmig. Kreative Menschen können unbequeme Geister sein - und vielleicht heißt es dann: Die Geister, die ich rief …

 

 Lösungen oder Anmerkungen zu den Aufgaben

1. Bei dieser Aufgabe liegen Sie unter dem Durchschnitt, wenn Sie weniger als 5, über dem Durchschnitt, wenn Sie mehr als 9 Sprichwörter gefunden haben!

2. Mit weniger als 7 verwandten Begriffen liegen Sie unter, mit mehr als 11 über dem Durchschnitt!

3. Bei dieser Aufgabe kommt es neben der Menge auch auf die Originalität der Bilder an. Durchschnittlich erreicht werden mit dieser Zusatzregel bei dieser Aufgabe zwischen 8 und 13 Punkte.

4. Bei der Frage nach den Verwendungsmöglichkeiten einer Tageszeitung kommt es zum einen auf die Menge der Einfälle an (es gelten nur Aussagen, die nicht auch für jeden beliebigen anderen Gegenstand gelten wie z.B. wegwerfen!), zum anderen aber auch auf die unterschiedlichen Kategorien, denen diese Ideen zuzuordnen sind (z.B. Tageszeitung als Informationsmittel, als Rohstoff, als Verpackungsmaterial etc. …). So sind zusätzlich bis zu 8 Punkte zu erreichen (ein Zusatzpunkt pro Kategorie). Die Durchchnittswerte liegen wiederum bei zwischen 8 und 13 Punkten.

5. Bei dieser Aufgabe bringt jede passable Idee einen Punkt. Für Zahlwörter und für Mengenangaben gibt es je nur insgesamt einen Punkt, für die Nennung berühmter Paare oder Zwillinge (das doppelte Lottchen, Amor und Psyche, etc.) kann jeweils ein Punkt angerechnet werden. Auch die Originalität spielt hier eine Rolle, kann aber an dieser Stelle leider nicht berücksichtigt werden! Der Durchschnittswert liegt hier zwischen 4 und 8 Punkten!

(Die Ideen für die Aufgaben und die Durchschnittswerte sind entnommen aus der Zeitschrift Bild der Wissenschaft spezial: Kreativität. Heft 1/1998.)

 

 

Zuletzt aktualisiert: 06. Oktober 2016