Nähe verändert alles

01. Januar 1900 | von

Schwester Alexa Weißmüller OSF trat 1964 in den Orden der Franziskanerinnen von der ewigen Anbetung (Olpe) ein. Nach dem Theologiestudium arbeitete sie in einer Gemeinde, bevor sie Noviziatsleiterin ihres Ordens wurde. Später übernahm sie auch die Leitung des Juniorates und Aufgaben in der Provinzleitung. 1993 zog sie in einen neuen Konvent in der Nähe des Kölner Hauptbahnhofs. Heute arbeitet die 57jährige als Obdachlosen-Seelsorgerin in Köln, gemeinsam mit Bruder Hermann-Josef Schlepütz OFM (im Bild rechts).

Schwester Alexa, wie kamen Sie zu dieser Tätigkeit? Das war absolut nicht geplant. Ich hätte mir das früher auch nicht vorstellen können. Das ist einfach so gewachsen. Als wir 1993 nach Köln zogen, bin ich vier Wochen lang alle Straßen der Umgebung abgegangen, um zu sehen, wo wir hier wohnen und was hier für Menschen leben. Nach vier Wochen war ich mitten in der Szene. Sechs Jahre bin ich nun drin. Vor drei Jahren wurde dann eine Stelle für die Wohnungslosenseelsorge eingerichtet.

Können Sie etwas über die Situation der Leute auf der Straße sagen? Es sind viele Männer und Frauen - und zwar aus allen Schichten. Ich kenne jemanden, der war Unternehmer. Dann verunglückten seine Frau und seine Tochter tödlich. Das hat er nicht verkraftet, er kam ans Trinken und dann auf die Straße. Ich möchte jedem sagen: Trag´ die Nase nicht zu hoch, es kann dir morgen passieren.
Die Situation ist in den meisten großen Städten nicht gut, auch wenn vieles versucht wird von den Behörden, von kirchlichen Stellen und privaten Initiativen. Es reicht nie. Die Wohnungen reichen nie aus, die Hilfsangebote erreichen viele nicht.
Dazu kommt die Städtepolitik in vielen Städten - auch in Köln. Die Stadt soll schön sauber sein für die Touristen, deshalb werden die Menschen, die nicht in dieses Bild passen, in die Vororte zu vertrieben, obwohl sich die meisten Hilfsangebote im Zentrum befinden.
Es wird mit zweierlei Maß gemessen. Es ist kurios, wenn jemand in einem Straßencafé fünf bis zehn Bier trinken kann, weil er das nötige Geld hat, aber ein anderer, der vor diesem Café mit einer Dose Bier auf der Straße sitzt, dort mit einem Aufenthaltsverbot belegt wird, manchmal sogar mit einer Strafe, wenn er diesem nicht Folge leistet.
Außerdem ist es sehr menschenentwürdigend, wenn jemand mehrmals am Tag seinen Ausweis vorzeigen muß.

Worin besteht Ihre Arbeit? Als ich vor sechs Jahren die ersten Kontakte bekam, war ich beflügelt von dem Gedanken, daß ich vielleicht viele vom Alkohol wegbringen könnte. Das war und ist eine Illusion, weil das von dem Gedanken ausgeht, daß ich weiß, was der andere Mensch braucht. Aber das ist falsch.
Heute versuche ich, zunächst einfach einmal zuzuhören, dazusein, sie ernst zu nehmen und - da wo es möglich ist - sie zu ermutigen. Die meisten Menschen haben überhaupt kein Selbstwertgefühl mehr, weil sie ständig degradiert werden. Seelsorge heißt in diesem Fall für mich, gemeinsam mit ihnen auf Spurensuche zu gehen nach dem, was von ihnen selber noch da ist und was von Gott da ist. Ich bin überzeugt, er ist schon vor mir da.
Ich hatte ein Schlüsselerlebnis in einer Kontaktstelle für Drogenabhängige. Es hat einige Wochen gedauert, bis ich mich überwinden konnte, dieselbe Tasse zu benutzen wie die Besucher, von denen viele HIV-positiv waren. Als ich das geschafft hatte, hat sich bei mir etwas verändert.
Konkrete Berührung verändert mich und den anderen. Ich habe ab da auch Franziskus besser verstanden in seiner Begegnung mit dem Aussätzigen. Von da an teilt er sein Leben in vorher und nachher ein. Seither kann ich diese Menschen ganz nah an mich heranlassen. Das ist für die meisten etwas besonderes, weil sie fast immer nur Distanz erleben, nicht Nähe.
Noch etwas habe ich entdeckt: Je weniger ich mache, desto mehr passiert. Ich erlebe viel Öffnung, Freundschaft, Reden über Glauben und Gott. Wir haben wöchentlich ein Bibelgespräch, unsere Gottesdienste sind sehr intensiv.

Sie tragen auf der Straße immer Ihr Ordenskleid... Für die Menschen auf der Straße bedeutet das Ordenskleid etwas. Es ist für sie eine Art Zuwendung von der Kirche, und das suchen sie, weil es auch sehr viel Enttäuschung gibt. Mein Traum wäre, daß einmal ein Bischof mit auf die Straße ginge. Dann fühlten sie sich nicht so vergessen, sondern sehr geehrt. Ich spüre eine große Sehnsucht der Menschen, von der Kirche mehr beachtet zu werden.

Belastet Sie diese Arbeit nicht sehr? Ja, die Arbeit belastet manchmal sehr, vor allem die Ohnmacht, einfach nicht viel tun zu können, was die Situation verändert. Aber ich habe auch selten soviel an Gotteserfahrung erlebt wie in dieser Zeit. Ich habe intensive geistliche Erfahrungen gemacht.

Hat Ihre Arbeit mit den Menschen auf der Straße auch Ihr eigenes religiöses Leben beeinflußt? Ja, ich habe heute mehr Fragen als Antworten. Früher dachte ich, ich hätte viele Antworten. Das sehe ich heute als Eigenbetrug an. Auf vieles weiß ich keine Antwort, und ich versuche dann, auch keine zu geben, sondern einfach die Sprachlosigkeit auszuhalten. Das hat mir auch viel innere Unruhe genommen. Ich brauche gar nicht alles zu wissen und zu lösen. Manches wächst und ereignet sich. Meine Aufgabe ist die Aufmerksamkeit, den richtigen Moment zum Handeln zu spüren.
Die Beurteilung, was moralisch oder unmoralisch ist, hat sich relativiert. Dadurch bin ich überhaupt im Urteil vorsichtiger geworden. Ich habe im Umgang mit Menschen, deren Schattenseiten offener nach außen treten, meine eigenen Schattenseiten deutlicher kennengelernt.
Mein Beten hat sich verändert und mein Gottesbild. Ich glaube heute eher an einen heruntergekommenen Gott. Das ist übrigens ganz franziskanisch.

Was kann der Einzelne mit Blick auf die Wohnungslosen tun? Es ist vor allem eine Frage des Bewußtseins: Daß ich nicht denke Ach, Gott, da ist ja schon wieder ein Betrunkener, sondern Da steht ein Mensch. Und daß ich den zunächst mal angucke, wenn er mich anspricht.
Wir müssen innerlich aufmerksam werden. Es ist auch gut, etwas zu geben. Aber ich sollte das Geld nicht so von oben hinwerfen, sondern vielleicht in die Hand geben. Eigentlich finde ich es fatal, daß man überhaupt darüber reden muß, wie man sich verhalten soll. Das sind normale Menschen! Wenn ich frage: Was kann ich tun?, muß ich fragen, ob ich wirklich was tun will. Und dann muß ich Distanz überbrücken, auch wenn das gegen meine Ängste, gegen mein ästhetisches Empfinden geht.

Zuletzt aktualisiert: 06. Oktober 2016