Noch jemand zugestiegen?

16. November 2010 | von

Der „Adler“ gab das Startsignal für das Eisenbahnzeitalter in Deutschland: Am 7. Dezember 1835 schnaufte die aus England importierte Dampflok erstmals auf der sechs Kilometer langen Strecke von Nürnberg nach Fürth.

Die 200 Fahrgäste und tausende Zuschauer empfanden die erreichte Höchstgeschwindigkeit von 30 Stundenkilometern als atemberaubend schnell.



Keine Woche vergeht, ohne dass nicht die Deutsche Bahn in den Schlagzeilen der Presse steht, positiv wie negativ: das Bauprojekt Stuttgart 21, das viele Kritiker auf die Straßen und an Runde Tische bringt, Lokführerstreiks im Fern- und Nahverkehr, regelmäßige Erhöhungen der Fahrpreise. Aber die Bahn schafft es auch, täglich mehrere tausend zufriedene Fahrgäste in Windeseile an ihr Ziel zu bringen: Seit 2002 pendelt der ICE mit 300 Stundenkilometern zwischen Köln und Frankfurt über die 180 Kilometer lange Schnellfahrstrecke Köln-Rhein/Main und braucht dafür grade mal eine Stunde. Auf knapp 40.000 Kilometern Gleisanlagen fahren heute die DB und andere private Bahnunternehmen in Deutschland.

Vor 175 Jahren sah das noch etwas anders aus: Ganze sechs Kilometer lang war die erste Dampfeisenbahnstrecke im „Deutschen Bund“ von Nürnberg nach Fürth, die 1835 in Betrieb genommen wurde. Zu dieser Zeit waren Nürnberg und Fürth bedeutende Handelsstädte in Franken. Doch die dort ansässigen Kaufleute standen dem Vorhaben des Baus der Eisenbahnlinie zunächst skeptisch gegenüber. Erst aufgrund der guten Erfahrungen mit der Eisenbahn in England kamen die fränkischen Kaufleute 1833 zu Gesprächen zusammen und gründeten schließlich im November die „Ludwigs-Eisenbahn-Gesellschaft Nürnberg“. Der bayerische König Ludwig I. stimmte dem Vorhaben zwar zu, bevorzugte jedoch andere Projekte. Selbstbewusste Fabrikbesitzer mit Großkapital, die der Industrialisierung und einer modernen Verkehrstechnik aufgeschlossen waren, schienen ihm nicht geheuer. Ein Jahr dauerte der Bau der Gleisanlage an der damaligen Nürnberg-Fürther Chaussee, der fast schnurgeraden Verbindung vom Plärrer (ehemaliger Handelsplatz und heutiger Verkehrsknotenpunkt) bis nach Fürth. Eröffnet werden konnte die Bayerische Ludwigsbahn für den Personen- und Güterverkehr unter großem Jubel der Bevölkerung am 7. Dezember 1835. Doch die erste Dampflokomotive, die an diesem historischen Tag in Deutschland fuhr, kam aus England.



Bejubelte Jungfernfahrt

In zahlreiche Einzelteile zerlegt und in 19 Pakete verschnürt wurde sie wochenlang per Schiff und Maultier von Newcastle nach Nürnberg transportiert und dort wieder zusammengebaut. Nicht nur der „Adler“ wurde importiert, sondern auch der 26-jährige Lokomotivführer William Wilson selbst, der als Spezialist die Maschine bedienen konnte und die Montage beaufsichtigte. „Vorzüglich schön war die Einweihung der Bahn … unter einem, wie leicht begreiflich ist, enormen Zulauf von Menschen, welche in eigens zu diesem Zwecke erbauten Zelten, Buden und Pavillions oder längs der ganzen Landstraße des neuen Schauspiels harrten.“ So beschrieb der Direktor der Ludwigsbahn Georg Zacharias Plattner die Jungfernfahrt. „Die Lokalitäten der Eisenbahn waren reich mit den Landesfarben Bayerns geschmückt, und an allen Wagen flatterten und wehten blaue und weiße Fähnchen. Es war ein herrlicher Anblick, die Lokomotive mit der gesammten Wagenreihe voll festlich geschmückter jubelnder Menschen einherbrausen zu sehen…“

Ein „Einherbrausen“ war es eher nach dem Geschwindigkeitsmaßstab der damaligen Zeit, benötigte doch die Bahn mit dem „Adler“ vorneweg etwa eine viertel Stunde für die sechs Kilometer (knapp 30 km/h). Kritische Stimmen, vornehmlich Ärzte, sollen vor einer Fahrt mit der Ludwigsbahn abgeraten haben, da der Fahrtwind bei dieser erheblichen Geschwindigkeit eine Lungenentzündung hervorrufen könne und das Tempo zur Bewusstlosigkeit oder gar zum Wahnsinn führe. Inzwischen haben historische Forschungen diese irrationalen Ängste als gerne kolportierte Legende entlarvt. Stündlich befuhr der Zug die Strecke, auch wenn aufgrund des hohen Preises für die benötigte Steinkohle, die aus Sachsen eingeführt werden musste, der „Adler“ nur mittags im Einsatz war; zu den anderen Zeiten ersetzten Pferdegespanne die Dampflok. Erst knapp 30 Jahre nach Inbetriebnahme der Linie und der Anschaffung weiterer Lokomotiven wurde der Pferdebetrieb beendet.  



Ausgedienter Adler

Nach dem Bau und der späteren Elektrifizierung einer parallel verlaufenden Pferdestraßenbahn stellte die Ludwigseisenbahn ihren Betrieb 1922 gänzlich ein. Zu dem Zeitpunkt war der Adler bereits lange zum Schrottpreis verkauft, denn schon gute 20 Jahre nach ihrer ersten Fahrt entsprach die Dampflokomotive nicht mehr den technischen Erfordernissen. Da die Originallok seitdem verschollen ist, kann im DB Museum in Nürnberg nur ein 75 Jahre alter Nachbau besichtigt werden. Obschon die erste deutsche Eisenbahnstrecke keinesfalls eine herausragende Bedeutung für das Verkehrswesen hatte, so ging doch von ihr der Startschuss für den Eisenbahnbau in Deutschland aus. 

Und schon heute steht neben dem „Adler“ im DB Museum auch einer der heute hochmodernen ICEs – in mehreren Jahrzehnten wird wohl auch er als Relikt vergangener Zeiten bestaunt werden.

Zuletzt aktualisiert: 06. Oktober 2016