Papier, das sich wie Pergament anfühlt

17. Dezember 2014

Die schönsten Faksimile-Editionen kommen aus dem Herzen der Schweiz, genauer noch aus Luzern, wo der Quaternio Verlag seinen Sitz hat. Aber was ist das – ein Faksimile?



Am Anfang steht eine zu einem Buch gebundene illustrierte Handschrift, die so nur einmal existiert. In den Text eingefügt sind Illustrationen, die hohen künstlerischen Ansprüchen gerecht werden. An den Seitenrändern finden sich häufig Ornamente. Die Anfangsbuchstaben einzelner Abschnitte sind oft verziert – manchmal sogar mit Blattgold. Leider aber ist es nicht möglich, in diesen mittelalterlichen, vor der Erfindung des Buchdrucks entstandenen Werken zu blättern. Denn die kostbaren, in klösterlichen und staatlichen Bibliotheken gehüteten Schätze sind, wenn überhaupt, nur für die wissenschaftliche Forschung zugänglich.



ORIGINALGETREUE REPRODUKTIONEN

Die Lösung, dank derer die Allgemeinheit auf diese kulturell bedeutenden Werke Zugriff hat, heißt Faksimile-Edition (vom lateinischen fac simile = mach’s ähnlich). Dabei handelt es sich um originalgetreue (auch in den kleinsten Details) Reproduktionen solcher bebilderter Handschriften. Der Aufwand zur Schaffung eines Faksimile ist immens.

Zuerst müssen sämtliche Seiten der Handschrift fotografiert werden. Das geschieht heute immer dort, wo das entsprechende Werk aufbewahrt wird. Bis vor wenigen Jahren mussten die alten Bände dafür zerlegt werden. Dank neuer Spezialtechniken ist es inzwischen möglich, die Aufnahmen vom gebundenen Buch zu machen. Das Original wird dabei nicht mehr als um 90 Grad geöffnet, was zur Schonung der alten Handschriften beiträgt. Anschließend werden die Fotos am Bildschirm bearbeitet und für einen ersten Farbvergleich mit dem Original ausgedruckt. Dieses Verfahren muss so lange wiederholt werden, bis die Übereinstimmung vollkommen ist.



SCHWARZES GOLD, GRÜNES SILBER

Eine besondere Herausforderung stellt die getreue Wiedergabe all jener Teile der Handschrift dar, die von der fotografischen Aufnahme nicht korrekt erkannt werden. Es ist dies das Gold – als funkelndes Blattgold oder als matt schimmerndes Pinselgold –, sowie das Silber in allen Oxidationsstufen. Das Gold erscheint je nach dem gegenwärtigen Zustand schwarz, braun oder gelb, das Silber weiß bis grünlich oder schwarz. Diese problematischen Stellen werden am Computerbildschirm in mühevoller Arbeit identifiziert und solange korrigiert, bis die Alterungsspuren und der aktuelle Glanz mit dem Original identisch sind. Jetzt kann die Auflage auf hochwertigem säurefreien und alterungsbeständigen Papier gedruckt werden, Bogen für Bogen. Erst nach vielen Tests ist es dem Luzerner Quaternio Verlag gelungen, das Papier so zu behandeln, dass es sich wie Pergament anfühlt. Die gedruckten Bogen müssen nun so beschnitten werden, dass die Ränder mit denen des Originals übereinstimmen. Eventuelle Löcher, die in den Blättern des Original-Pergaments vorhanden sind, werden in einem weiteren Arbeitsschritt ausgestanzt. Danach werden die Bogen gefalzt, ineinandergesteckt und gebunden.



KUNST DER BUCHBINDER

Das Binden ist alles andere als einfach. Denn nicht nur Text und Bilder, sondern auch der Einband muss mit dem der Originalhandschrift übereinstimmen. Von Hand heftet der Buchbinder die Druckbögen zum Buchblock. Für den Einband sucht er das farblich passende Leder und schärft es möglichst dünn aus, um es dann über die zum Teil massiven Holzdeckel zu ziehen. Für eine eventuelle Blindprägung am Einband müssen eigene Prägeklischees gefertigt werden.

Handgearbeitet sind auch die für alte Bücher charakteristischen Linien am Buchrücken. Ganz am Schluss sind noch die für viele mittelalterliche Bücher typischen Eck- und Zierbeschläge sowie die Schließen anzubringen. Das Ergebnis ist ein genaues Abbild des Originals, wobei die Anzahl der hergestellten Faksimile-Exemplare beschränkt ist.



EIN FENSTER INS MITTELALTER

Faksimiles alter Handschriften erschließen uns Heutigen nicht nur Kunstwerke und Texte, die das Denken unserer Vorfahren prägten. Sie sind auch ein Fenster ins Mittelalter. Ganz gleich, ob es sich um eine Bibelausgabe, um ein Gebetbuch oder um eine Heiligenvita handelt – fast immer bildet der Illustrator auch die zu seiner Zeit gängige Alltagswirklichkeit mit ab.

Der Quaternio Verlag Luzern (als einziger Faksimileverlag in der Schweiz) wird in diesem Frühjahr eine im Kloster Einsiedeln aufbewahrte Fassung des Speculum humanæ salvationis, des berühmten Heilsspiegels herausbringen. Diese um 1400 geschaffene Heilsgeschichte für Laien ist in über 200 Handschriften erhalten. In 176 Miniaturen bringt der Einsiedler Heilsspiegel Szenen aus dem Neuen und dem Alten Testament miteinander in Beziehung. Die Handschrift, um 1450 entstanden, gilt als einer der am reichsten ausgestatteten Heilsspiegel und zählt zu den wertvollsten Schätzen der Bibliothek des über tausend Jahre alten Klosters. Erstmals nun öffnet das Kloster Einsiedeln seine Pforten für eine Faksimilierung.

Zuletzt aktualisiert: 06. Oktober 2016