Perfektionist in Sachen Backstein

29. November 2005 | von

Der Däne Jensen-Klint arbeitete als Ingenieur und Architekt, doch er beschränkte sein einzigartiges künstlerisches Talent keineswegs auf sein Berufsfeld: Er drückte es in allen Bereichen der Kunst aus, vom Gebrauchsdesign bis hin zur Malerei. Nach dem ersten Weltkrieg schuf er sein Meisterwerk: die gigantische Paraphrase einer dänischen Dorfkirche.

Vor 75 Jahren starb ein Architekt, dessen Name eigentlich nur Kennern der Materie ein Begriff ist. Doch sein Hauptwerk ist eine der eindrucksvollsten Kirchen, die je gebaut worden ist. Es handelt sich um den dänischen Architekten Peder Vilhelm Jensen-Klint. Er baute von 1921 bis 26 die Grundtvigskirche in Kopenhagen, die nach seinem Landsmann, dem Reformator und Volkserzieher Grundtvig, benannt wurde.

Forscherdrang. In jungen Jahren war Jensen-Klingt als Ingenieur für den Buhnenbau an der Westjütlandküste verantwortlich. Damals liebte er es, in seiner Freizeit ausgiebige Wanderungen an der Küste entlang zu unternehmen.
Die Natur und ihre Gesetzmäßigkeiten zu erforschen faszinierte ihn von jeher. Gerade die artifiziellen Baupläne der gedrehten Muschel- und Schneckenhäuser, die er am Strand auflas, beeindruckten ihn mit den streng mathematischen Gesetzen ihrer Gestaltung. Seine ausgeprägte mathematische Begabung verhalf ihm bei seinen Beobachtungen zu wichtigen Erkenntnissen für sein Leben und seine Arbeit. Gleichzeitig war er aber auch ein Romantiker und gläubiger Mensch. Bei aller wissenschaftlichen Neugier sah er daher auch keinen Widerspruch darin, einen letztendlich unerklärlichen „großen Schöpfungsplan“ hinter allen Naturphänomenen zu sehen.
Geboren wurde Jensen-Klint 1853. Er absolvierte ein Studium in Kopenhagen, malte in den achtziger Jahren respektable Landschaftsbilder, arbeitete in verschiedenen kunstgewerblichen Bereichen - und auch als Ingenieur. Er leitete  auch über mehrere Jahre der Gesellschaft für dekorative Kunst mit großem Tatendrang. Zur Architektur kam er erst spät: 1896 gründete er sein eigenes Büro und verschrieb sich von da an fast ganz der Baukunst.

Dänische Dorfkirchen. Seine architektonische Liebe galt vor allem den typischen, schlicht und „ehrlich“ gebauten dänischen Dorfkirchen. Auf unzähligen Fahrten über Land trachtete er danach, mit der Untersuchung möglichst vieler dieser  Sakralbauten die „Uressenz“ ihrer Gestaltungsform zu finden. Gerade die Dachkonstruktionen und die statischen „Geheimnisse“ des Gewölbebaus mit seinen ästhetischen und mathematischen Problemen waren für ihn dabei die Kernfragen.
Dieses immenses Wissen über die traditionelle Bauweise und sein naturwissenschaftlich-kreativer Neuansatz ließen aber immer wieder zwei Seelen in seiner Brust aufeinanderprallen. Denn einerseits suchte er die Einfachheit der simplen Form, andererseits entwarf er neue, üppige organische Formvorstellungen, wo ein Teil geradezu aus dem anderen wächst. Kein leichtes Unterfangen für einen Perfektionist und Idealist in Personalunion.
 
Bau des Lebens. 1913 gewann Jensen-Klint den Architekturwettbewerb für ein Gebäude, das sein Lebenswerk werden sollte: die Grundtvigskirche in Kopenhagen. Doch erst nach dem Ersten Weltkrieg, 1921 bis 26, sollte der Bau dieses großartigen Gotteshauses realisiert werden.
Eine moderne Basilika nahm Gestalt an, die in ihrem Grundriss und Aufbau durchaus von den französischen Kathedralen des 13. Jahrhunderts, namentlich „Notre Dame“ in Paris, beeinflusst war. Jensen-Klint schuf die gigantische Paraphrase einer dänischen Dorfkirche, in die er nachdrücklich die traditionellen, aber umgeformten Details nordischer Architektur mit einband.

Millionen Backsteine. An der oft süffisant bezeichneten „Orgelpfeifenfassade“ der Kirche betonen Längsstreifen den traditionellen Treppengiebel. Die derart überspitzte Vertikalität führt zu einem Baukörper mit kolossaler Wirkung. Aus der funktionellen Tradition einfacher Backsteinhäuser heraus baute der Architekt ein gewaltiges, zum Himmel strebendes Backsteinmonument nordischer Baukunst.
Ganz nach des Architekten Forderung nach einer Einheit von Form und Werkstoff - einem Gedankengut, das aus der englischen „Arts-and-Crafts“-Bewegung stammte - bildet der gelbe Backstein die stoffliche Einheit der Kirche.
Sowohl der Fußboden als auch Gewölbe und Wände des innen und außen gänzlich unverputzten Gebäudes sind aus demselben, von der Stückzahl wohl in die Millionen gehenden, Baumaterial hergestellt.
Es gibt keine großen Formsteine – der Backstein ist die kleinste Einheit. Die Gleichheit aller Teile legt eine Interpretation im religiösen Sinne nahe.
Ein geringerer Architekt hätte sich mit den geschaffenen kristallinen Strukturen wahrscheinlich hoffnungslos verzettelt, aber Jensen-Klint schaffte es, mit einer raffiniert eingesetzten natürlichen Beleuchtung im Inneren niemals den Anschein einer kalten, reinen Konstruiertheit aufkommen zu lassen.
Den drei Schiffen im Inneren entsprechen ganz durchdacht die drei Giebel außen, die ineinander zu verwachsen scheinen.

Präzisionsarbeit. Im Treppenturm an der Nordseite lieferten der Planer und die ausführenden  Handwerker ein Meisterwerk an Genauigkeit ab. Die Wendeltreppe im Inneren „schraubt“ sich - inspiriert an den Schneckenhäusern, die der Architekt in seiner Jugend untersuchte - gen Himmel. Sie ist ebenfalls ganz aus Backsteinen und mit größter Präzision gebaut. 
Die umliegenden Häuser errichtete Jensen-Klint von 1924 bis 26 gleichsam als  „geordnetes Fußvolk“: Sie bilden das Beiwerk für die gigantische Erhebung in ihrer Mitte. Es entstand ein architektonisches Ensemble wie aus einem Guss.
Erst Klingts Sohn Kaare (1888 – 1954), wie sein Vater Maler Möbeldesigner und Architekt in einer Person, sollte dessen gebaute Visionen einige Jahre später vollenden.

Expressiv und spirituell. Klingt schaffte es trotz der Besinnung auf konservative nationale Traditionen keine bloße Reproduktion herzustellen, sondern dem Typus Kirche mit einer bis dahin nicht gesehenen Hülle neues Leben und Spiritualität einzuhauchen. Er konkretisierte mit seinem Hauptwerk dabei auch einen künstlerischen Zeitgeist, der Emotionalität als eine Projektion in Form, Raum und Volumen umsetzte. Deswegen wird dieser ausdrucksvolle Baustil zu Recht oft auch als expressiv bezeichnet. Wie auch immer er eingeordnet wird, hinter seinen Werken steht ein tiefer Glaube an die Schöpfung, der auch im Leben Jensen-Klints eine tragende Rolle spielte. Der Ausnahmearchitekt verstarb 1930 - nur wenige Jahre vor der Vollendung „seiner“ Grundtvigskirche.

 

Zuletzt aktualisiert: 06. Oktober 2016