Prägende Jugendjahre des Karol Wojtyła

25. März 2014 | von

Am Sonntag der Göttlichen Barmherzigkeit wird Papst Johannes Paul II. heiliggesprochen. Die liturgische Feier dieses Festes hatte er selbst eingeführt. Seine Verkündigung der Barmherzigkeit Gottes, die Entwicklung einer „Theologie der Barmherzigkeit“, gründete in den Erfahrungen seiner Jugendzeit, reifte in seiner intellektuellen Auseinandersetzung mit dem Marxismus und wurde bestärkt durch seine besonders tiefe Vaterbeziehung.



In die Jugendjahre des Papstes müssen wir uns versetzen, wenn wir seine persönlichen Erfahrungen der Barmherzigkeit Gottes verstehen wollen. Diese Jahre waren von einer gewissen Tragik im familiären und gesellschaftlichen Leben gekennzeichnet. Die familiäre Tragik bestand darin, dass Karol Wojtyła mit zwanzig Jahren bereits Vollwaise war. Mit knapp neun Jahren verlor er seine Mutter Emilia Wojtyła, mit zwölf Jahren seinen 14 Jahre älteren Bruder Edmund und im Alter von zwanzig Jahren seinen Vater, zu dem er eine besonders innige Beziehung hatte, weil er der letzte, engste Angehörige war.

Die gesellschaftliche Tragik hing mit der Situation Polens im 20. Jahrhundert zusammen. Karol Wojtyła wurde 1920 geboren, zur Zeit der sogenannten Zweiten Polnischen Republik, die von 1918 bis 1939 existierte. Vor dieser Zeit war Polen für mehr als ein Jahrhundert unter drei Großmächten aufgeteilt gewesen. Der polnische Staat hatte 1795 endgültig aufgehört zu existieren und die polnische Bevölkerung wurde unterdrückt und zur Assimilation gezwungen. Die Zeitspanne zwischen 1918 und 1939 stellte eine Atempause der Freiheit für das polnische Volk dar, das sich für kurze Zeit national und politisch selbst bestimmen konnte. In diese Zeit fallen Kindheit und frühe Jugend von Karol Wojtyła.



NAZIS UND SOWJETS

Der Angriff Hitlers auf Polen am 1. September 1939 und die Aufteilung Polens zwischen Nazi-Deutschland und Stalins

Sowjetunion haben diese Phase der Freiheit brutal beendet. Die Nationalsozialisten betrachteten die Polen als „slawische Untermenschen“. Ihre menschenverachtende Besatzungspolitik führte zur Traumatisierung des ganzen polnischen Volkes. Drei Millionen Polen jüdischen Glaubens und nochmals drei Millionen Polen christlichen Glaubens wurden brutal vernichtet. Die Elite der polnischen Gesellschaft wurde ebenso wie die polnischen Juden in Konzentrationslager gebracht. Die übrige Bevölkerung wurde zur Zwangsarbeit nach Deutschland verschleppt oder im eigenen Land zwangsweise umgesiedelt, versklavt, terrorisiert und ausgehungert.

Nach der Befreiung von der deutschen Besatzung am Ende des Zweiten Weltkriegs wurde Polen in eine von der Sowjetunion gelenkte kommunistische Diktatur umgestaltet. Moskautreue Kommunisten übernahmen die Macht und führten stalinistische Methoden zur Unterdrückung von jeglicher Opposition ein. So wurde das polnische Volk bis 1989/1990 erneut unterdrückt und seiner elementaren Menschenrechte beraubt.



IDEOLOGIEN DES BÖSEN

Johannes Paul II. kann nur im Zusammenhang mit der Geschichte seines Volkes verstanden werden. Er teilte dessen Leidensgeschichte und mystische Begabung, die im Leiden heranreifte. Er versuchte, die leidvolle Geschichte des 20. Jahrhunderts vom Standpunkt des Glaubens aus zu deuten. Den Nationalsozialismus und den Kommunismus bezeichnete er als „Ideologien des Bösen“.

Karol Wojtyła war Student der Literaturwissenschaft an der Universität von Krakau und ein begeisterter Schauspieler, als der Zweite Weltkrieg ausbrach und die deutschen Besatzer in Krakau einzogen. Seine Professoren an der Universität und die Seelsorger seiner Pfarrei wurden deportiert und ermordet, die Universität geschlossen, jegliche Kulturveranstaltungen verboten. Der tägliche Terror der Nazis regierte auf den Straßen. Karol Wojtyła musste in einem Steinbruch arbeiten, um für sich und seinen Vater das Überleben zu sichern. Dabei war er täglich in Gefahr, als Zwangsarbeiter nach Deutschland deportiert zu werden. Am 18. Februar 1941 starb plötzlich sein Vater durch einen Herzinfarkt. Der Tod des Vaters war ein so großer Verlust für den erst zwanzigjährigen Karol Wojtyła, dass er den Boden unter den Füßen verlor. Zum täglichen Überlebenskampf inmitten des

Naziterrors kam die Erfahrung einer totalen menschlichen Entwurzelung. Er kapselte sich von seiner Umwelt ab und durchlebte eine schwere persönliche Krise.



BERUFUNG ZUM PRIESTERTUM

Genau in dieser Krise ereignete sich das, was ich gerne die „Entdeckung des Geheimnisses der Barmherzigkeit Gottes“

nennen möchte. Am Tiefpunkt seines Lebens, mitten im Schrecken des Krieges, in der Erfahrung von Angst, Not, Terror, Gewalt, Tod, Vernichtung erfuhr Karol Wojtyła durch das Wirken Gottes etwas für ihn Gutes, die Berufung zum Priestertum, die allem eine positive Wendung gab. Johannes Paul II. verstand seine Berufung als eine besondere Erwählung, die allein erklären konnte, warum gerade er diese Schreckenszeit überlebt hat, während viele seiner Freunde und Bekannten den Tod fanden. Dieses Erlebnis des Guten mitten in all dem Bösen wurde für ihn zu einer persönlichen Urerfahrung des Glaubens. Gott war für ihn der, der das Böse durch das Gute besiegt.



MÄRTYRER IN KZ UND GULAG

Karol Wojtyła fand seine persönliche Ur-Erfahrung in den Märtyrern der Konzentrationslager bestätigt. Menschen wie Maximilian Kolbe oder Edith Stein offenbarten für ihn „die siegreiche Gegenwart des Kreuzes Christi“ in den nationalsozialistischen Vernichtungslagern. Er betrachtete die Märtyrer als „Zeichen des Sieges über das Böse“. In ihnen offenbarte sich Gott, der in den Lagern gegenwärtig war. Daher hat er sich später als Papst dafür eingesetzt, dass ihre Lebenszeugnisse weltweit festgehalten und gesammelt wurden. Er hat viele dieser Märtyrer selig- und heiliggesprochen, um die nachkommenden Generationen daran zu erinnern, dass Gott das Böse durch das Gute besiegt. Damit wollte er den Menschen die Hoffnung vermitteln, dass Gott stärker ist als das Böse, das sie erleben. Denn viele Menschen sind hoffnungslos angesichts der Leiden, die durch das Böse verursacht wurden. Sie klagen Gott wegen der national-sozialistischen Konzentrationslager und der stalinistischen Gulags an und verabschieden sich von ihm. Ein beredtes Beispiel ist der Jude Simon Wiesenthal, der die KZs überlebt hat. Von ihm stammt der erschreckende Satz „Gott war auf Urlaub“. Damit war für ihn Religion erledigt.



SPEKTAKULÄRE VERGEBUNG

Vielleicht war es noch unspektakulär, als der junge Priester Karol Wojtyła seine Jugendlichen in der Pfarrei ermahnte, das Böse durch das Gute zu besiegen und keinen gewaltsamen Widerstand zu leisten, als sie durch den stalinistischen Machtapparat terrorisiert wurden. Es war jedoch ganz und gar nicht mehr unspektakulär und unwirksam, als die polnischen Bischöfe – allen voran der Krakauer Erzbischof Karol Wojtyła – zwanzig Jahre nach Kriegsende, im Jahr 1965, den deutschen Bischöfen die Vergebung anboten. Der ganze kommunistische Ostblock tobte damals vor Wut und beschimpfte die polnischen Bischöfe des Landesverrats. Ebenso war das Verhalten des Papstes nach dem Attentat auf ihn im Jahr 1981 für die Welt eine Sensation. Die sofort ausgesprochene Vergebung gegenüber seinem Attentäter Mehmet Ali Agča und die Bilder seines Besuches im Gefängnis gingen um die ganze Welt.



MYSTIK DER FAUSTYNA KOWALSKA

Seine persönliche Erfahrung vom Sieg des Guten fand Karol Wojtyła bestätigt, als er die Wirkungen erlebte, welche das

Tagebuch von Faustyna Kowalska auf das polnische Volk während der kommunistischen Diktatur ausübte. Diese Ordensfrau war eine Mystikerin; ihr hatte Jesus bis zu ihrem Tod 1938 unmittelbare Einsichten in das Geheimnis der Barmherzigkeit Gottes gegeben. In seinem Auftrag schrieb sie diese Botschaften – die Kirche spricht von „Privatoffenbarungen“ – in einem Tagebuch nieder und begründete damit eine heute weltweit verbreitete Spiritualität, in deren Zentrum die Barmherzigkeit Gottes steht.

Der Priester und Erzbischof Karol Wojtyła erlebte in seiner Seelsorgearbeit viele Menschen, die durch diese Spiritualität geprägt und durch sie befähigt wurden, den geistigen Manipulationen des kommunistischen Regimes und der Versuchung zum gewaltsamen Widerstand zu widerstehen. Die Spiritualität der Barmherzigkeit war eine geistige Kraft, die zum friedlichen Verhalten der Solidarnosc-Bewegung in Polen und damit letztlich zum Zusammenbruch des Ostblocks beigetragen hat. Karol Wojtyła hatte die geistige Kraft dieser Spiritualität selbst schon während der Kriegsjahre erfahren. Das Stoßgebet „Jesus, ich vertraue auf dich“ half ihm in dunklen Stunden, sich und die Welt vertrauensvoll Gottes Barmherzigkeit zu überlassen. Er entdeckte in dem Gebet die Quelle einer Hoffnung auf den Sieg Gottes. Später lernte er das Bild vom „Barmherzigen Jesus“ kennen, das Faustyna Kowalska offenbart worden war und den Auferstandenen zeigt.



BARMHERZIGKEIT STATT REVOLUTION

Als junger Priester setzte sich Karol Wojtyła erstmals intellektuell mit der gesellschaftlichen Bedeutung von Barmherzigkeit auseinander und verlieh seinen Reflexionen mit dem Drama Der Bruder unseres Gottes einen künstlerischen Ausdruck. Dieses zwischen 1948 und 1951 verfasste Werk ist dem polnischen Maler und Ordensgründer Albert Chmielowski (1848-1916) gewidmet, der unter den Armen Krakaus lebte und wirkte. Er stand in einer langen Tradition der Barmherzigkeit, welche die Stadt Krakau und somit auch Karol Wojtyła prägte. In Krakau steht die erste Kirche, die im Jahr 1620 der Barmherzigkeit Gottes geweiht wurde.

Karol Wojtyła betrachtete Bruder Albert aufgrund seiner radikalen Wende von der Kunst zur Nachfolge Christi als sein persönliches Vorbild und bemühte sich schon auf dem Konzil um seine Seligsprechung. In dem ihm gewidmeten Drama erteilte Karol Wojtyła der marxistischen Verelendungstheorie zur Lösung der sozialen Frage eine Absage und stellte ihr die Praxis der Barmherzigkeit gegenüber. Der Mensch kann sich nach Aussage dieses Werkes nicht durch eine Revolution, sondern nur durch die Barmherzigkeit zu den höchsten Gütern erheben. Diese werden ihm durch das Leben Christi in der Seele mitgeteilt, indem das Böse des menschlichen Herzens in Liebe umgewandelt wird. In dem Drama sind einige Themen der späteren Enzyklika Dives in misericordia bereits vorgezeichnet, so zum Beispiel die Gleichheit der Menschen aufgrund der gemeinsamen Gotteskindschaft, die Menschenrechte, der aufwertende Charakter von Barmherzigkeit, der Sieg Christi über das Böse und vor allem die Bedeutung von Barmherzigkeit zur Gestaltung einer wahrhaft menschlichen Gesellschaft.



DER VATER ALS VORBILD

Die päpstliche Botschaft von der göttlichen Barmherzigkeit ist nicht nur aus der Erfahrung des „Geheimnisses des Bösen“, sondern auch aus dem Vorbild gelebter Vaterschaft erwachsen, welches Karol Wojtyła in das Geheimnis Gottes, des barmherzigen Vaters, einführte. Dieses Vorbild erlebte er durch seinen eigenen Vater, mit dem er – bedingt durch den frühen Tod seiner Mutter und seiner Geschwister – in einer sehr engen Beziehung stand. Er schrieb selbst, dass das Vorbild seines Vaters ihn auf seinem Weg zum Priestertum geprägt hat. Diese Erfahrung beeinflusste maßgeblich sein theologisches Denken.

So beruhte sein Bild des Bischofs und des Priesters auf der Idee der Vaterschaft. Außerdem widmete er sich in seiner priesterlichen Tätigkeit intensiv der Pastoral von Ehe und Familie. In diesem Zusammenhang verfasste er im Jahr 1964 ein Drama mit dem Titel Strahlung des Vaters. Darin stellt er die menschliche Vaterschaft als eine Berufung dar, die göttliche Vaterschaft durchscheinen zu lassen. Die Vaterbeziehung ist nach seinen Worten „der Welt stärkste Bindung“. Indem der Vater sich durch das Kind der Liebe öffnet, entgeht er der Urversuchung zur Einsamkeit.



LEBENSNAHE VERKÜNDIGUNG

Karol Wojtyła beschrieb die menschliche Vaterbeziehung als einen wechselseitigen, im Willen gründenden Liebesaustausch mit dem Kind und als gegenseitiges Ineinandersein. Er leitete das Verständnis menschlicher Vaterschaft also aus dem Geheimnis des innertrinitarischen Lebens zwischen Gott-Vater und Gott-Sohn ab. Die väterliche Liebe hatte für ihn somit eine außerordentliche Bedeutung.

Die Verkündigung der Göttlichen Barmherzigkeit durch Papst Johannes Paul II. zeichnet sich durch eine besondere Lebensnähe aus, weil sie aus seinen Lebenserfahrungen erwachsen ist. Sie kann dazu beitragen, auf die existentiellen Fragen unserer Gegenwart eine Antwort des Glaubens zu finden.



INFORMATIONEN:

Edith Olk, Die Barmherzigkeit Gottes als zentrale Quelle des christlichen Lebens. Eine theologische Würdigung der Lehre von Papst Johannes Paul II. (Dissertation). Eos-Verlag St. Ottilien 2011. Broschur, 468 Seiten, 34,95 €.

Vorträge zum Herunterladen:

http://podcast.radiomaria.ch/index.php?tag=Sr-Edith-Olk oder www.sychar.at/schwester-dr.-edith-olk.html

Anfragen zu Vorträgen über meditholk@gmail.com

Zuletzt aktualisiert: 06. Oktober 2016