Reinkarnationslehren und christliche Neugeburt

19. März 2007 | von

Immer mehr Gläubige scheinen mit der fernöstlichen Reinkarnations-Lehre zu sympathisieren. Einige meinen, dass Hinweise auf diese Lehre auch in der Bibel zu finden seien. Unser Autor hat nun die besagten Zeilen genauer betrachtet und kommt zu einem eindeutigen Fazit.


Der Wunsch, vertane Chancen und verpasste Möglichkeiten in einem späteren Leben doch noch wahrnehmen zu können, mag mit ein Grund sein, warum der Glaube an eine Wiedergeburt in unserer westlichen Welt ständig mehr Anklang findet. Vermutlich aber geben sich längst nicht alle darüber Rechenschaft, dass ein solches Denken in direktem Widerspruch zu den östlichen Auffassungen von Reinkarnation steht, auf die man sich in der Regel beruft. Denn sowohl im Hinduismus wie auch im Buddhismus ist die Reinkarnation durchaus nichts Tröstliches, sondern etwas Fürchterliches, nämlich eine Strafe.

Hinduismus und Buddhismus. Nach hinduistischer Ansicht ist die Stellung eines jeden Menschen innerhalb der Gesellschaft durch die guten und bösen Taten bestimmt, die er in seinem vorhergehenden Leben vollbracht hat. Seine jetzige Lebensführung entscheidet demnach über die Stufe der nächsten Reinkarnation. Der Mensch kann durch sein sittliches Verhalten sein zukünftiges Geschick beeinflussen und auf diese Weise selber bestimmen, ob er in eine höhere oder niedrigere Kaste hinein oder gar als Tier oder Pflanze wiedergeboren wird. Erlösung bedeutet in diesem Zusammenhang, dem leidvollen Kreislauf der Wiedergeburten zu entrinnen.

Aus dem Hinduismus hervorgegangen ist der Buddhismus. Buddha (das heißt der Erleuchtete; sein eigentlicher Name war Siddharta) wurde um die Mitte des sechsten vorchristlichen Jahrhunderts in Nordindien geboren. Seine Lehre basiert auf der Erkenntnis, dass alles Leben mit Leiden verbunden ist. Das Leiden ist die Folge des Begehrens oder ‚Durstes’ nach Glück. Dieser Durst bewirkt, dass der Mensch nach dem Tod in einem anderen Körper wiedergeboren wird. Wer diesem Kreislauf (und damit allem Leiden) entrinnen will, muss frei werden von jedem Verlangen. Das ist nur möglich, wenn man allen und allem mit Gleichmut begegnet. Auf diese Weise wird die ‚Daseinsgier’ gelöscht, der Kreis der Wiederverkörperungen gesprengt und das Nirwana erreicht. Dieses ist dem Wasser vergleichbar, das von keinem Wind gekräuselt wird. Andere beschreiben das Nirwana mit dem Bild der Lotosblume, die unbeweglich auf dem Feld steht.

Geheimnisvoller Sinn. Sowohl im Hinblick auf die hinduistische wie auch auf die buddhistische Auffassung von Wiederverkörperung dürfte schon jetzt feststehen, dass diese Lehre scheinbar eine Reihe von Fragen zu lösen vermag, auf die das Christentum letztlich nur mit dem Hinweis auf Gottes Geheimnishaftigkeit antworten kann: Die bestehende Ungleichheit unter den Menschen, das Leiden der Unschuldigen, die Tatsache, dass es schlechten Menschen manchmal so gut geht – all das erklärt sich aufgrund des Verhaltens in einem früheren Leben. Aber: Welchen Sinn hat dieses frühere Leben, wenn man sich angeblich nur in Ausnahmefällen daran erinnert? Was gibt es da noch zu lernen aus den begangenen Fehlern? Welcher Zusammenhang besteht zwischen einem früheren und dem gegenwärtigen Leben, wenn der Mensch (wie der Buddhismus lehrt) gar kein „Selbst“, keine Identität hat? Wären demnach die aufeinanderfolgenden Existenzen nicht doch untereinander unabhängige Größen, die von verschiedenen ‚Personen’ gelebt werden?

Zweite Chance. Der Gedanke an eine Reinkarnation wirkt möglicherweise auf manche deshalb so faszinierend, weil diese Lehre mit einer Möglichkeit rechnet, die dem Christentum fremd ist: dass der Mensch alles, was ihm in diesem Leben misslingt, in einer späteren Existenz neu in Angriff nehmen und besser machen kann. Praktisch ist es dann unmöglich, überhaupt eine Chance zu vertun, weil man ja damit rechnen darf, nach dem Tod wieder eine neue zu erhalten. Entscheidungen sind angesichts solcher Aussichten leichter zu fällen, und die Verantwortung ist weniger drückend. Die Zeit verrinnt nicht mehr unwiederbringlich, weil das Leben ja revidierbar ist – während einer späteren Erdenexistenz. Aber: Wird die menschliche Verantwortung noch ernst genommen, wenn alles, was ich tue, bloß auf Probe geschieht? Werden damit nicht die furchtbaren Leiden der Opfer der Geschichte als unerheblich hingestellt? Auch wenn man diese mit einer früheren Schuld ‚erklärt’? Außerdem: Kommt aus der Sicht des Reinkarnationsgedankens dem Irdischen, Weltlichen und Leiblichen überhaupt noch eine Bedeutung zu? Müsste dieser Glaube in letzter Konsequenz nicht gerade zu jener Weltflucht und Leibfeindlichkeit führen, die man früher (häufig leider zu Recht) dem Christentum vorgeworfen hat?

Erinnerung oder Wunschdenken. Ein Einwand allerdings ist leicht vorauszusehen: Was ist von den Aussagen jener Menschen zu halten, die sich an ein früheres Leben zu erinnern glauben?

Wichtige Argumente gegen solche Berichte tauchen bereits im Vorfeld auf. Zunächst wird man sich wohl fragen dürfen (oder müssen), ob mit derartigen Schilderungen eine betrügerische Absicht verbunden sein könnte; ob es sich um einen Fall von Krypomnesie handelt (das heißt um das Auftauchen vergessener Bewusstseinsinhalte, wie zum Beispiel früher erlernte oder gehörte fremde Sprachen); ob die Kategorie eines genetisch vererbten Gedächtnisses angebracht ist; ob außersinnliche Wahrnehmung in Frage kommt; ob man eine Personifizierung unterstellen darf (das kann bedeuten, dass sich jene, die Erinnerungen an frühere Daseinsweisen zu haben glauben, sich ganz innig in die Gestalt und die Schicksalsgeschichte einer anderen Person einleben und möglicherweise subjektiv ehrlich zur Darstellung bringen). Natürlich sind auch Mischformen denkbar, zum Beispiel von außersinnlicher Wahrnehmung und Personifizierung.

Zumindest seltsam scheint auch der Umstand, dass solche ‚Erinnerungen’ an eine frühere Erdenexistenz in der Regel nur ein und nicht mehrere Leben betreffen. Und warum besitzen wir kaum Zeugnisse von Menschen, die sich an eine wenig rühmliche Biografie erinnern, in der Mord, Ausbeutung, Untreue und Unrecht eine Rolle spielten? Könnte man daraus nicht schließen, dass der Unterschied zwischen Erinnerung und Wunschdenken nicht immer sehr klar ist? Warum erinnert sich niemand an eine animalische Existenz, obwohl zumindest der Hinduismus durchaus damit rechnet?

Überzeugungsgewissheiten. Das alles zeigt, dass Aussagen über ein früheres Leben für vielerlei Deutungen offen sind. Man kann sich durchaus ernsthaft damit befassen, ohne dass man sich deswegen zur Reinkarnationslehre bekennen müsste. Die Schlussfolgerungen, die aus derartigen Darstellungen gezogen werden, sind in der Regel stets interessengeleitet; das aber gilt für die Gegner und für die Befürworter der Reinkarnationslehre. So wenig wie der Auferstehungsglaube ist auch die Reinkarnationslehre eine wissenschaftlich feststellbare Tatsache, sondern eine Überzeugungsgewissheit. Deshalb spricht man zu Recht von der Reinkarnationslehre und vom Glauben an die Wiedergeburt.

Der Reinkarnationslehre wird man erst dann voll gerecht, wenn man die Anliegen, die ihr zugrunde liegen, in die Beurteilung mit einbezieht. Der Glaube an eine Wiedergeburt ist ein Antwortversuch auf die Fragen nach der Herkunft des Bösen, der Gerechtigkeit in der Welt, der Ruhelosigkeit des menschlichen Herzens und dem letzten Ziel unserer irdischen Existenz. Im Gespräch zwischen den Religionen wird es daher letztlich darum gehen, welche von ihnen diese Probleme überzeugender zu beantworten vermag.

Gelegentlich wird heute die Ansicht vertreten, dass die Reinkarnationslehre mit der biblischen Botschaft nicht nur vereinbar, sondern in der Heiligen Schrift selber verankert sei. Wie für jedes literarische Werk gilt auch für die Bibel, dass Texte aus dem Zusammenhang heraus zu verstehen sind. Das heißt, wir müssen der Situation der ursprünglichen Adressaten, dem unmittelbaren Kontext wie auch dem jeweiligen zeitgeschichtlichen Hintergrund Rechnung tragen. Außerdem sind im Zweifelsfalle nicht irgendwelche Übersetzungen verbindlich, sondern einzig und allein der (hebräische beziehungsweise griechische) Urtext.

Wiedergeburt in der Bibel? Für eine biblische Untermauerung der Reinkarnationslehre werden von ihren Vertretern und Anhängerinnen verschiedene Texte herangezogen, so etwa jene Stelle im Matthäusevangelium, wo die Rede ist von der „Wiederkunft“ des Propheten Elija (Kapitel 11, Vers 14). Im Alten Testament findet sich eine Erzählung, nach welcher Elija lebendig zum Himmel entrückt wurde (vgl. 2. Buch der Könige, 2,11). Einer alten jüdischen Überlieferung zufolge wird der Prophet wiederkehren und dann erst sterben. Dabei handelt es sich jedoch um die Wiederkunft des Propheten und nicht um eine Wiedergeburt.

Ebenfalls im Matthäusevangelium (16,14) heißt es, dass Jesu Zeitgenossen ihn für Johannes den Täufer oder einen der früheren Propheten halten. Propheten können nach altjüdischer Vorstellung lebend in den Himmel ‚entrückt’ werden (wie das Elija nachgesagt wird). Auch hier haben wir also keinen zwingenden Hinweis auf eine Reinkarnation.

„Was der Mensch sät, wird er ernten.“ In diesem Wort aus dem Galaterbrief (6,7) meinen manche einen Hinweis auf die Seelenwanderung zu erkennen. Wer aber die nächsten Zeilen liest, erkennt deutlich, dass es sich auf das göttliche Endgericht bezieht.

Im Jakobusbrief ist die Rede vom „Rad des Lebens“ (3,6). Dieser Ausdruck stammt aus der Mysterienreligion der Griechen. Einerseits handelt es sich dabei tatsächlich um einen in den altgriechischen Mysterien üblichen Fachausdruck für die Wiedergeburt. Da aber dem Verfasser des Jakobusbriefes diese Welt völlig fremd war, kann man mit Fug und Recht behaupten, dass er sich hier auf das Auf und Ab des Lebens, das heißt auf die Wechselfälle der menschlichen Existenz bezieht.

Fremde These. Scheinbar weniger eindeutig sind zwei Stellen aus dem Johannesevangelium – aber eben: nur scheinbar! Gegenüber dem Pharisäer Nikodemus spricht Jesus von der Notwendigkeit der „Wiedergeburt“ (3,1-13). Wie aus dem Zusammenhang zweifelsfrei hervorgeht, bezieht sich dieser Ausdruck nicht auf eine Reinkarnation, sondern auf die Taufe. Der griechische Urtext ist eindeutig. Der Ausdruck anothen bedeutet nicht von neuem, sondern von oben. Gemeint ist: ‚Neu geboren’ wird der Mensch durch die Taufe aus Gottes Geist.

Schließlich ist da noch die Frage der Jünger hinsichtlich eines Mannes, der blind geboren wurde: „Wer hat gesündigt? Seine Eltern? Oder er selbst?“ (9,1-3). Der Einwand, ob er selbst gesündigt habe, bezieht sich nicht auf eine allfällige frühere irdische Existenz, sondern erklärt sich aus der im Frühjudentum gängigen (für uns Heutige schwer nachvollziehbaren) Vorstellung, dass ein Mensch schon im Mutterleib schuldig werden könne (vgl. etwa Psalm 51, Vers 7).

In der Bibel finden sich keine Spuren einer Reinkarnationslehre. Fairerweise muss man jedoch hinzufügen, dass sich dort auch keine ausdrückliche Verurteilung dieser Lehre findet. Sie wird schlicht nicht thematisiert – ganz einfach, weil dieser Gedanke der biblischen Welt völlig fremd war.

Das frühe Christentum. Wie aber verhält es sich mit dem frühen Christentum? Die bedeutendsten Kirchenväter – Justin, Irenäus von Lyon (2. Jahrhundert), Tertullian, Hippolyt (3. Jahrhundert), Lactantius, Ambrosius (4. Jahrhundert), Hieronymus und Augustinus (5. Jahrhundert) – weisen diese Lehre entschieden zurück, was darauf hindeutet, dass manche Christen und Christinnen schon damals mit ihr sympathisierten. Belegt ist auch, dass der hochberühmte Origenes († 254), der bedeutendste Lehrer der griechischen Kirche, sich für die Seelenwanderungslehre interessierte. Mangels eindeutiger Zeugnisse ist sich die Forschung bis heute nicht darüber einig, ob Origenes die Reinkarnation zeitweise befürwortete, oder ob ihm seine kirchenpolitischen Gegner dies unterstellten, um ihn zu diskreditieren und dadurch leichter bekämpfen zu können. Allerdings vertrat Origines die Ansicht, die Menschen würden bereits vor ihrer Geburt als reine Geistwesen existieren. Origenes spricht also von einer Vorherexistenz’ der Seelen, nicht jedoch von einer Wiedergeburt nach dem Tod! Diese wichtige Unterscheidung übersehen all jene, die Origenes als Zeugen für die Reinkarnationsidee anführen. Origines’ Lehre von der vorgeburtlichen Existenz der Seelen wurde im Jahre 553 auf dem Konzil von Konstantinopel ausdrücklich verurteilt.

Die Reinkarnationslehre wurde von der Kirche nie anerkannt. Dass sie von keinem der großen Konzilien ausdrücklich verurteilt wurde, hängt damit zusammen, dass sie früher in der Christenheit, wenn überhaupt, bloß am Rand eine Rolle spielte.

 

Zuletzt aktualisiert: 06. Oktober 2016