Rösser, Rosenkranz und feste Regeln

01. Januar 1900 | von

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rachtenschneiderin Maria Renger aus Dietramszell ist am Leonharditag schon früh auf den Beinen, um auf einem Bauernhof den Frauen beim Ankleiden zu helfen. Bis Leiberl, Unterrock, Janker, Schmiesl, Mieder (für unverheiratete Frauen) oder Schalk (für verheiratete) angezogen und stilgerecht gesteckt, geschnürt, geschmückt sind, vergeht eine halbe Stunde. Doch was ist das gegen die rund 80 Stunden, die die Trachtenschneiderin an einem kompletten Seidenschalk stichelt, säumt und steppt, bis das Prachtstück im Wert von ein paar tausend Mark fertig ist. Aber die Tracht ist ja auch kein modisches Kleidungsstück, sondern ein Generationengewand. Weshalb beim Schalk, der mit Krausnadeln festgesteckt wird, vorsichtshalber zehn Zentimeter Spiel für fülligere Zeiten eingebaut werden...

Glanzspray aufs Rosshaar. Wie die Schneiderin haben auch Friseusen am Festtag viel zu tun, den auf den Wagen mitfahrenden Frauen und Mädchen die stilgerechte Haartracht zu richten. So steht beispielsweise die Tochter des Bauern Waldherr am Sauersberg bei Bad Tölz schon um sechs Uhr früh im Pferdestall – in Jeans und Pullover, aber bereits mit hochgestecktem, brav gelockten Haar und Trachtenkrone. Sie macht sich daran, gewaltigen Kaltblütern Mähne und Schweif einzuflechten, damit sie leichte Wellen bekommen. Anschließend werden die Pferdeschwänze wieder ausgebürstet, mit einem Hauch Glanzspray und einem Blumensträußchen verschönt.
Dann sind Josef Waldherr und seine Söhne auf dem Hof beschäftigt, den Pferden das blankgeputzte, glöckchenklingelnde Geschirr anzulegen. Er hält die Tiere nur für diesen einen Tag im Jahr, den Feiertag des heiligen Leonhard. Ein Nachbar komplettiert mit seinem Ross das Vierergespann. Beim Ausladen aus dem Transporter verliert das Tier ein Hufeisen, telefonisch wird der Hufschmied-Notdienst herbeigeholt, der rasch ein neues Eisen festmacht. Den angebotenen Kaffee lehnt er ab, es ist viel zu tun an diesem Morgen. Denn 70 bis 80 Gespanne nehmen in Bad Tölz alljährlich an der Wallfahrt zur Kapelle des Schutzheiligen der Stalltiere teil.

Hochverehrter Viehpatron. Sein Einsatz für die Gefangenen in der römischen Provinz Gallien hatte dem Heiligen als Attribut die Eisenkette zugeeignet. Diese wurde im Laufe der Zeit von den Bauern als jene Kette umgedeutet, mit der das Vieh im Stall festgemacht wurde. In Bayern gewann der am 6. November 559 verstorbene Leonhard bei den Bauern als Schutzpatron für Hof und Stall großes Ansehen. Arbeitspferde waren in vorindustrieller Zeit die wichtigsten Tiere auf dem Hof, ihr Verlust konnte den Ruin des Bauern bedeuten. Auf Grund der schlimmem Viehseuchen im 18. Jahrhundert entwickelten sich die ursprünglich privaten Bittgänge zu großen Wallfahrten. Der im Zeichen der Gegenreformation blühende Heiligenkult ließ diese Leonhardifahrten zu jener festlichen Pracht gelangen, an der sich bis heute viele Menschen erfreuen.

Madonna mit Weißwurstsemmel. Die Bauern spannen ihre Rösser an, um sie segnen zu lassen; ihre Frauen fahren auf Wagen mit und beten unterwegs den Rosenkranz. Mit Moos, Tannengrün, Buchsbaumzweigen und Blättern der Stechpalme haben sie die Gefährte liebevoll geschmückt. Andere Wagen sind kunstvoll bemalt, zeigen Heiligenszenen und Bilder aus Stadt und Land. Pfarrer Karl Abt in Benediktbeuern hat selbst solche Wagen entworfen und bemalt, die verschiedene Heilige zeigen – wie den St. Wendelin mit dem Schaf oder die heilige Zita, bayrische Schutzpatronin von Haus und Hof. Auf manchen Wagen werden von Schulkindern – des kleineren Maßstabes und der größeren Begeisterung wegen – biblische Szenen dargestellt. Der Pfarrer erinnert sich schmunzelnd an ein Mädchen mit langem Blondhaar, das die Maria in der Grotte von Lourdes spielen sollte und als ganz und gar nicht überirdische Erscheinung unterwegs hungrig wurde, weshalb es herzhaft in eine Weißwurstsemmel biss.

Feste Wallfahrtsregeln. Die Tölzer Leonhardifahrt folgt seit 1856, als der Ortspfarrer Pfaffenberger das regellose Umreiten in würdigere Bahnen lenkte, jenen Regeln, die bis heute kaum verändert sind. Um neun Uhr setzen sich die Teilnehmer unter dem Geläut der Kirchenglocken in Bewegung. Die Kutsche der Geistlichkeit führt den Wallfahrtszug an, Magistrat und Stadtkapelle folgen. Vierergespanne ziehen die Wagen mit Schützenkompanien, Bäuerinnen im Schalk, Jungfrauen im Mieder, Kindern in Alttölzer Tracht. Berittene Standartenträger begleiten den prachtvollen Zug. Langsam geht es den steilen Kalvarienberg hinauf, um die Kirche herum, bis jeder Teilnehmer und jedes Gespann den Segen erhalten hat. Anschließend wird eine Messe zelebriert. Vorsichtig werden die Gespanne dann wieder zu Tal gelenkt, hinunter in die Markstraße und auf den lang gestreckten Platz, der mit seinen bemalten Bürgerhäusern und Brunnen ein Schmuckstück Oberbayerns ist.

Goaßlschnoizer zum Schluss. Durch die obere Marktstraße und Salzstraße ziehen die Gespanne bis zur Mühlfeldkirche, wo sich der Zug nach einem neuerlichen Segen auflöst. Den Abschluss bildet das Goaßlschnoizen: Das böse Geister abwehrende, knallende Schlagen der Fuhrmannspeitschen ist unüberhörbares Signal dafür, dass die Leonhardifahrt zum guten Ende gekommen ist und das bayerisch-barocke Fest nun in den Wirtshäusern seinen Ausklang nimmt. So ist der Tag des heiligen Leonhard alljährlich ein feierliches und fröhliches Erlebnis für die Tölzer wie für ihre zahlreichen Gäste von nah und fern.

Gespanne im Klosterhof. Auch im benachbarten Benediktbeuern hat die Leonardi-Wallfahrt seit mehr als hundert Jahren Tradition. Hier in dem idyllischen Erholungsort am Fuß der Benediktenwand bewegt sich der festliche Zug in den Hof des Barockklosters zur marmornen Leonhardi-Säule. Der Abt segnet die vorbeifahrenden Gespanne, Wagenlenker und Reiter ziehen ihren Hut, die Frauen bekreuzigen sich. Während der Messe in der Kirche stehen die Gespanne dicht an dicht im Klosterhof. In die feierliche Atmosphäre mischt sich erste Volksfeststimmung, wenn die Frauen aus den mitgebrachten Körben die Flaschen mit dem Hochprozentigen holen und gegen die feuchte Kälte des Novembermorgens ein Gläschen ausschenken. Nach dem Wallfahrtsgottesdienst geht die Fahrt zurück ins Zentrum.

Tiefe Volksfrömmigkeit. Hier in Benediktbeuern ist der Besucherandrang nicht ganz so groß wie in Bad Tölz, wo Tausende von Menschen die Straßen säumen, um bei einer der größten Pferdewallfahrten des an prachtliebenden Veranstaltungen gewiss nicht armen Oberbayerns dabei zu sein. Beide Wallfahrten sind aber nicht nur ein faszinierendes Schauspiel, sondern Zeugnis tiefer Volksfrömmigkeit und gelebten Brauchtums. Auch im technischen Zeitalter, da der Traktor längst das Arbeitspferd ersetzt hat, heißt es noch: O heiliger Sankt Leonhard, schau gnädig ro auf unser Fahrt und hilf, dass mir durch unser fahr’n den teuern Viehdokta dasparn!

Termine: Die Leonhardifahrt in Bad Tölz findet 2001 am Dienstag, dem 6. November statt, die Leonhardifahrt in Benediktbeuern am Sonntag, dem 4. November.
Angebote: In Benediktbeuern sind Wochenpauschalen zum Beispiel bei Unterbringung im Gästehaus des Klosters mit Übernachtung/Frühstück, Gästekarte, Klosterführung, einer Alpenrundfahrt und Leonhardifestzeichen für 303 Mark (pro Person im Doppelzimmer bei eigener Anreise) zu buchen. In Bad Tölz gibt es eine Leonhardi-Pauschale mit einer Leonhardifahrt-Führung, bayerischer Brotzeit inklusive einem Getränk, Leonhardischnaps, Leonhardi-Abzeichen, Erinnerungsfoto mit Leonhardigespann sowie zwei Übernachtungen im Doppelzimmer mit Bad oder Dusche/WC, Frühstück und Kurkarte zum Preis von 119 Mark bis 399 Mark (pro Person im Doppelzimmer), je nach Unterbringung.
Auskunft: Verkehrsamt Benediktbeuern, Prälatenstraße 3, 83671 Benediktbeuern, Tel. 08857/248. – Tourist-Information Bad Tölz, Ludwigstraße 11, 83646 Bad Tölz, Tel. 08041/ 786717.
E-Mail: info@bad-toelz.de - Internet: www.bad-toelz.de

 

Zuletzt aktualisiert: 06. Oktober 2016