Schatzkammer des Wissens

20. November 2009 | von



Die Mailänder Biblioteca Ambrosiana gehört zu den weltweit bedeutendsten Sammlungen alter Handschriften und Bücher. Sie beeindruckt durch ihren Bestand – 850.000 gedruckte Bände, 35.000 Manuskripte, 2.100 Inkunabeln – und durch die Tatsache, dass sie bereits vor 400 Jahren der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde.


 



 90 Jahre alt ist sie im vergangenen Sommer geworden. Jeden Tag geht sie einkaufen, kocht für sich und ihre Tochter, hält ein Mittagsschläfchen und liest danach ausführlich die Zeitung. Und abends schläft sie am besten ein, wenn sie vorher ein Hörbuch gehört hat. Immer wieder ein anderes. Und immer ausgeliehen aus der Stadtbibliothek Coesfeld im westfälischen Münsterland. Der regelmäßige Gang zur Stadtbücherei ist inzwischen nicht nur für meine Großmutter selbstverständlich geworden. CDs, DVDs, manchmal sogar noch Musik- oder Videokassetten, Zeitschriften, Magazine und natürlich Bücher. Ob Belletristik oder Sachbücher – die zahlreichen Stadt-, Universitäts- oder Pfarrbüchereien sind heutzutage auf dem neuesten Stand und erfreuen sich großer Beliebtheit.



Offen für alle



Genau vierhundert Jahre ist es am 8. Dezember her, dass die Biblioteca Ambrosiana in Mailand 1609 für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde. Damit war sie nach der sieben Jahre zuvor eröffneten Bodleian Library, der derzeitigen Hauptbibliothek der Universität Oxford, weltweit die zweite Büchersammlung, die von jedem Interessierten genutzt werden konnte. Heute ist die Mailänder Ambrosiana eine der bedeutendsten und am reichsten ausgestatteten Bibliotheken für mittelalterliche Schriften und Dokumente Europas.



Den Auftrag zur Errichtung der Bibliothek gab der Mailänder Erzbischof Kardinal Federico Borromeo (1564-1631), der dem italienischen, ursprünglich aus der Toskana stammenden Adelsgeschlecht der Borromeo angehörte und der Cousin des bekannteren Kardinals Karl Borromäus (Carlo Borromeo) war. Stets hatte Federico das Gefühl, im Schatten seines Cousins zu stehen, der von Kindesbeinen an für die kirchliche Laufbahn bestimmt war und bereits mit 21 Jahren von seinem Onkel Papst Pius IV. zu sich berufen und zum Kardinal erhoben wurde. Daher wollte sich Federico dem weltlichen Leben entziehen und Mönch werden. Papst Sixtus V. jedoch ernannte ihn nach dem Tod seines Cousins zum Kurienkardinal, später erfolgte die Einsetzung zum Mailänder Erzbischof (1595). Dass er der Kunst sehr zugetan war und sie förderte, war für einen Bischof ungewöhnlich, standen doch solche Gewohnheiten eher den weltlichen Fürsten zu. Das und viele andere Schwierigkeiten hielten ihn aber nicht davon ab, 1603 mit dem Bau der Bibliothek zu beginnen, wenn auch die finanzielle Unterstützung von Rom und Mailand zaghaft war. Sieben Jahre später öffnete die Sala Federiciana, der Lesesaal, ihre Türen für das allgemeine Publikum. Benannt ist die Sammlung nach dem Mailänder Bischof und Kirchenlehrer Ambrosius, der im 4. Jahrhundert wirkte und unter anderem die Ausbreitung der häretischen Strömung des Arianismus unterband, die Souveränität der Kirche in Glaubensfragen verteidigte und sich als Hymnendichter einen Namen machte.



Beachtlicher Bestand



Der Bestand der Ambrosiana war zur damaligen Zeit schon beachtlich und ist es bis heute geblieben. Federico Borromeo kümmerte sich selbst um die Ausstattung der Bibliothek. Er ließ zahlreiche Bücher und Manuskripte aus Westeuropa, Griechenland und Syrien herbeischaffen. Waren gegen Ende des 19. Jahrhunderts etwa 160.000 Druckwerke und 8.000 Handschriften vorhanden, kann die Bibliothek heute rund 850.000 gedruckte Bände, 35.000 Manuskripte, 2.100 Inkunabeln, 10.000 Zeichnungen, 30.000 Stiche, 200 Gemälde, eine Münzsammlung und eine archäologische Sammlung vorweisen. Daher bildet die Biblioteca Ambrosiana zusammen mit der 1618 eröffneten Kunstgalerie Pinacoteca Ambrosiana und einer angegliederten Kunstakademie ein kulturell bedeutsames Zentrum Italiens.



Juwelen der Buchkunst



Hervorzuheben unter den Werken der Sammlung sind unter anderem die Ilias picta und der Codex Atlanticus. Als Ilias Picta werden die noch erhaltenen 51 Fragmente einer Abschrift aus dem 4. bis 5. Jahrhundert von Homers Ilias bezeichnet, die mit 58 szenischen Darstellungen versehen sind. Der Codex Atlanticus ist eine zwölfbändige Sammlung, die 1119 Blätter mit originalen Zeichnungen von Leonardo da Vinci umfasst. Sie wurde der Ambrosiana Mitte des 17. Jahrhunderts geschenkt. Dass sich in der bedeutenden Mailänder Sammlung des Weiteren zahlreiche Handschriften und Glossierungen unter anderen von Francesco Petrarca, Giovanni Boccaccio, Thomas von Aquin und Galileo Galilei finden lassen, klingt dabei schon fast nebensächlich.



Zu dem Kreis der Bibliotheksleiter in der 400-jährigen Geschichte der Ambrosiana, die zumeist große Historiker und Gelehrte waren, gehört auch Kardinal Achille Ratti: Er wurde 1922 zu Papst Pius XI. gewählt.



Meine Oma wird nicht mehr nach Mailand fahren, um der Biblioteca Ambrosiana zum 400. Geburtstag zu gratulieren, ihr genügt das Sortiment der Coesfelder Stadtbücherei. Aber wenn Sie einmal eine Handschrift von Leonardo da Vinci unter die Lupe nehmen möchten …



 

Zuletzt aktualisiert: 06. Oktober 2016