Schöpferisches Wort und heilende Sprache

16. Oktober 2007 | von

Die Bibel lebt von der vielfältigen Erfahrung des Menschen mit der Sprache. Wir können die Geschichte Gottes mit Israel auch als beispielhaften Weg verstehen, auf dem das „Wort Gottes" den Menschen immer näher kommt, bis es schließlich selbst Mensch wird in Jesus von Nazareth. Worte schaffen Kommunikation auf verschiedenen Ebenen.

Sprache schafft Heimat. Wir sind im Haus einer Sprache beheimatet. Im Hören öffnen sich uns die Fenster und Türen zur Welt, die uns umgibt. Ein drei- bis vierjähriges Kind lernt jeden Tag zwölf neue Wörter. Mit Hilfe der Sprache beginnt es, die Welt zu erobern. Wir leben so selbstverständlich mit der Sprache, dass wir selten über das Wunder dieser Kommunikation nachdenken. In der Sprachentwicklung eines Menschen wiederholt sich der Vorgang im Paradies, als Adam die einzelnen Tiere mit Namen benennt. Durch die Namensgebung macht sich der Mensch den Mitgeschöpfen vertraut, er kann aber auch über sie seine Herrschaft ausüben.

Die Erfahrung, sich einem anderen Menschen mit-teilen zu können und am Dasein des anderen teilzuhaben, gehört zu den Grundvoraussetzungen für unser menschliches Wachsen und Reifen. Im Gespräch vollzieht sich Lebensgemeinschaft, besonders wenn ich mich einem Menschen zu-sage, oder ihm mein Leben über-antworte. Wir kennen natürlich auch den Missbrauch der Sprache, wenn Wörter der Verführung, dem Trug, der Lüge und der Angeberei dienen. Die Sprache kann zur großen Versuchung werden und entzweien.

Wort und Leben. Wie sehr die biblische Rede von Gott, der die Welt durch sein Wort ins Dasein ruft, symbolisches Sprechen ist, wird in den Anfängen der Bibel deutlich. Im Buch Genesis heißt es: „Gott sprach: Es werde Licht. Und es wurde Licht" (Gen 1,3). Hier wird nicht nur von der Erschaffung des natürlichen Lichtes am Anfang gesprochen. Der biblische Mensch lebt aus der Erfahrung, aus dem Wort Gottes das Geschenk des Lebens zu haben. Das Wort war in Israel das Mittel, Gottes Werk ins rechte Licht zu rücken. Aber dadurch war es auch gleichzeitig mehr. Es war selbst wie eine Erscheinung, eine Wirkweise JHWHs.

Durch das Wort ist Gott uns nahe. Nahe ist er uns aber auch durch eine andere Form des Wortes, nämlich durch das Gesetz (Thora). Das Gebot des Gesetzes „ist nicht im Himmel, sodass du sagen müsstest: Wer steigt für uns in den Himmel hinauf, holt es herunter und verkündet es uns … Nein, das Wort ist ganz nahe bei dir, es ist in deinem Mund und in deinem Herzen, du kannst es halten" (Dtn 30,12.14).

Heilend, vereinend. Die Geschichte von der Sprachverwirrung beim Turmbau von Babel birgt in sich den Wunsch nach dem Wort, das verbindet und nicht trennt, das heilt und nicht neue Wunden schlägt. Es ist die Sehnsucht nach jenen Anfängen der Menschheit, von denen die Bibel sagt, dass alle Menschen eine Sprache hatten, weil Gott, der sie erschaffen hat, eine Einheit ist.

Die Sehnsucht nach dem heilenden, aufrichtenden und zukunftsverheißenden Wort begeg-net uns in allen Schriften des Ersten Testamentes. Gottes Wort ist den Menschen nahe gekommen, bis uns der Evangelist Johannes seine bleibende Gegenwart unter uns verkündet: „Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott ... Und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt" (Joh 1,1.14). Unter all den Wörtern, die uns informieren oder verwirren, die uns aufklären oder verführen, gibt es dieses eine Wort, das von Gott kommt. Es ist das Wort der Erlösung und des Segens. Mit dem kraftvollen Wort, das den Menschen ins Leben gerufen hat, kann man in Verbindung treten. Jede Form des Gebetes wäre sinnlos, ohne Ziel und die größte Selbsttäuschung des Menschen, gäbe es nicht die Kraft, die unser Dasein begründet und erhält. Weil das Wort auf der Suche nach den Menschen sich mitgeteilt hat, deswegen dürfen wir ant-worten.

Licht der Göttlichkeit. „Viele Male und auf vielerlei Weise hat Gott einst zu den Vätern gesprochen durch die Propheten; in dieser Endzeit aber hat er zu uns gesprochen durch den Sohn, den er zum Erben des Alls eingesetzt und durch den er auch die Welt erschaffen hat ... er trägt das All durch sein machtvolles Wort" (Hebr 1,1-3). Viele alte Gebete der biblischen Überlieferung wie die Psalmen, können uns immer wieder aus der Sprachlosigkeit heraushelfen, um unser Leben mit seinen Höhen und Tiefen vor Gott zur Sprache zu bringen. Die Gebetstradition der Bibel und der Kirche ist wie eine Brunnenstube, aus der „lebendiges Wasser" fließt. Ist uns bewusst, dass auf viele unserer Worte ein Licht der Göttlichkeit fällt, weil Gottes Wort unter uns gewohnt hat? Vom Wort, das von Gott kommt, fällt auch ein Strahl der Göttlichkeit auf Worte, die Trost schenken und Vergebung bewirken. Liebende Menschen sagen sich oft wiederholende Worte. Diese Litanei der Zuneigung und der Herzlichkeit wird in jeder Generation neu angestimmt, und niemand braucht sie zu lernen.

Vom Wort, das von Gott kommt, fällt auch ein Strahl der Göttlichkeit auf die wissenschaftlichen Formeln, die unsere Zeit bestimmen. Gott hat dem Menschen diese Fähigkeiten gegeben. Wissenschaft und Glaube stehen nicht feindlich gegenüber. Gottes Wirken erleben wir durch die Worte, die in der Liturgie gesprochen werden. Da ist das Wort der Vergebung in der Beichte. Das Wort der Wandlung, über Brot und Wein gesprochen, macht aus der „Frucht der Erde und der menschlichen Arbeit" eine Speise, die vom Himmel kommt. In den Segnungen erfahren wir die „heilende Zuwendung Gottes". Sollten wir da nicht mit den Worten unserer Sprache sorgsamer umgehen? Gottes Wort hat die Menschen in den verschiedenen Kulturen begleitet. Es verband sich lange Zeit mit der mündlichen Tradition, mit Erfahrungen, die in anschaulichen Erzählungen von Generation zu Generation überliefert wurden.

Die Schriftzeichen. Die Offenbarung Gottes im geschriebenen Wort und in der Menschwerdung des Sohnes setzte eine Kulturstufe voraus, in der die Überlieferungen aufgeschrieben werden konnten.

Die Menschen der Antike hatten eine große Ehrfurcht vor dem geschriebenen Wort, die zurückreicht in jene frühen Zeiten, in denen man begann, Erfahrungen mit Gott schriftlich festzuhalten. Durch die Aufzeichnungen geheiligter Überlieferungen erfuhr die Sprache eine große Bereicherung. Aus frühen Mischformen von Bild und Schriftzeichen haben sich langsam die verschiedenen Alphabete entwickelt.

Aus einer Aufzeichnung der ägyptischen Tempelliturgie des vierten vorchristlichen Jahrhunderts erfahren wir, dass die Priesterschaft die Götter mit den sieben tönenden Vokalen preist, indem sie dieselben der Reihe nach absingt. Wie die Vokale in antiken Traditionen das Wesen der Gottheit symbolisieren können, so die Konsonanten das Sichtbare und Greifbare dieser Welt. Ihre sinnvolle Zusammensetzung im Wort wird zum Symbol der Vereinigung von Himmlischem und Irdischem.

Symbolik der Buchstaben. Die biblische Tradition hat sehr früh einzelnen Buchstaben des Alphabetes symbolische Bedeutung zuerkannt. Der Prophet Ezechiel sieht in einer Vision den Engel, der den Menschen, die den Götzendienst in Jerusalem verabscheuen, das TAW – den letzten Buchstaben des hebräischen Alphabetes – auf die Stirne zeichnet. Das TAW entspricht dem TAU im griechischen Alphabet. Auch das Buch der Offenbarung berichtet von dem Schutzzeichen TAU, das die Erwählten vor der Vernichtung bewahrt (vgl. Offb 7,3). In der christlichen Tradition stellt dieser Buchstabe die Form des Erlöserkreuzes dar. Auch Franziskus verwendet dieses Zeichen oft. Den handschriftlichen Segen für Bruder Leo hat der Heilige mit einem roten T versehen.

In der biblisch-jüdischen Tradition ist das wichtigste Symbol das „Tetragramm", die vier Konsonanten, die den heiligen Namen Gottes bezeichnen. Im Denken der Hebräer, wie auch anderer altorientalischer Völker, drückt der Name das Wesen der Person aus. Dieser Name darf aus Ehrfurcht nicht ausgesprochen werden. Der Name JHWH („Jahwe") vergegenwärtigt uns Gott als den Gott, der sich Mose, dem Volk Israel und durch Christus auch uns als der „Ich bin da für euch" im brennenden Dornbusch geoffenbart hat. Jesus lehrt uns im Vater unser, den „Namen" zu heiligen, das heißt, Gott die Ehre zu geben. Den JHWH-Namen finden wir im Alten Testament 6.823 mal!

Alpha und Omega, A und Ω, erster und letzter Buchstabe im griechischen Alphabet, schließen alle anderen Buchstaben ein und symbolisieren das Umfassende, die Totalität. Dem Seher Johannes wird auf Patmos die Offenbarung zuteil: „Ich bin das Alpha und das Omega, spricht Gott, der Herr, der ist und der war und der kommt, der Herrscher über die ganze Schöpfung" (Offb 1,8).

Als Zeichen des Vertrauens, dass wir im Tod in dem geborgen sind, der selbst Anfang und Vollendung allen Lebens ist, findet sich das Buchstabenpaar in der frühchristlichen Katakombenmalerei. Die Jahrhunderte hindurch bleibt das Alpha und Omega eine Kurzform des Bekenntnisses zu Christus. „Christus gestern und heute, Anfang und Ende, Alpha und Omega. Sein ist die Zeit und die Ewigkeit." Mit diesen Worten wird in der Osternacht die mit A und Ω geschmückte Osterkerze bezeichnet und gesegnet.

Zuletzt aktualisiert: 06. Oktober 2016