Seelenstimmung zwischen Sonne und Schnee

24. Juli 2007 | von

Vor 100 Jahren starb der norwegische Komponist Edvard Grieg. Mit einer neuen gewagten Harmonik integrierte er die Volksmusik seiner Heimat in die klassische Musik. Der international gefeierte Komponist, Pianist und Dirigent wird seither als bedeutender Botschafter der norwegischen Kultur verehrt.

Am 15. Juni 1843 wurde Edvard Grieg als Sohn eines wohlhabenden Kaufmanns und einer Klavierlehrerin in der historischen Hafenstadt Bergen geboren. Seine musikalische Begabung wurde früh gefördert. Nach dem häuslichen Unterricht ging er auf Anraten des Volksmusikers und Vio-linvirtuosen Ole Bull, der ein Freund der Familie war, zur weiteren Ausbildung nach Deutschland. Er studierte am Leipziger Konservatorium, wandte sich aber 1863 von der deutschen Romantik ab, um eine eigenständige norwegische Musik zu entwickeln.

Zweite Heimat. „Wir verschworen uns gegen den Mendelssohn-verweichlichten Skandivanismus und schlugen mit Begeisterung neue Wege ein", schrieb Grieg später. Björnsterne Björnson (1832-1910) und Herik Ibsen (1828-1906), die in der Literatur ähnliche Wege beschritten, wurden seine Freunde. 1867 heiratete er seine Cousine Nina Hagerup, die als Sängerin großen Einfluss auf seine Liedkompositionen hatte. Er gilt als Meister des Liedes und der Kleinkunst, sein größtes Werk war das Klavierkonzert in a-Moll. Seine Kammermusik und seine Chormusik sind nahezu vergessen, dafür wird seine Klaviermusik, vor allem seine wunderbar lyrischen Stücke, viel gespielt. Auch seine rund 250 Lieder mit ihrer anmutigen Klangwirkung sind sehr beliebt.

Griegs „Morgenstimmung" – eines der 23 Stücke, die er für Ibsens dramatisches Gedicht „Peer Gynt" als Bühnenmusik komponierte − zu lauschen und auf seine zweite Heimat Hardanger zu blicken, das ist ein Erlebnis nicht nur für Ohren und Augen. Entrückt durch die Klänge, entdeckt der Musikfreund in der realen Landschaft ungeahnte Horizonte. Wenn im Frühling die Morgensonne über Fjord und Fjell scheint, fasziniert die Landschaft mit ihrem Kontrast aus Lieblichkeit und Schroffheit. Entlang des blauglitzernden Wassers erstrecken sich fast bis zum Ufer Apfelbäume in voller Blüte, während im Hintergrund schneebedeckte Berge und ein fast schmerzhaft hell leuchtender Gletscher in den klaren Himmel ragen.

Ruhige Komponistenhütte. Im Reich der Fjorde liegt, wenige Autostunden von Bergen entfernt, Norwegens Garten. Mitten drin, am Sørfjord, einem Arm des Hardangerfjords, Ullensvang mit seinen Ortsteilen Lofthus, Ullensvang und Kinsarvik − die größte Obstanbaugemeinde des Landes. In Lofthus verbrachte Edvard Grieg viele Monate, zeitweilig als Gast der Hotelierfamilie Utne. Hier ließ er sich eine Hütte zimmern, um ungestört komponieren zu können. Und hier fand er die Inspiration für einige seiner schönsten Werke.

In der Familie Utne, die heute das Hotel in der fünften Generation führt, ist überliefert, wie Urgroßmutter Brita ihrem Gast behilflich war, seine Komponistenhütte an einen ruhigeren Platz am Wasser zu schaffen. Mit deftigen Speisen und Getränken lockte sie die Bauern zur Nachbarschaftshilfe. So rollten diese auf Baumstämmen die Hütte an ihren neuen Bestimmungsort, trugen das Klavier hinterdrein und forderten Grieg zum Spielen auf. Als der Komponist, der es hasste, beim Arbeiten Zuhörer zu haben, keine Anstalten zum Musizieren machte, schubsten sie ihn durchs Fenster, verstellten die Tür und wollten ihn nicht eher in Ruhe lassen, bis er etwas gespielt hätte. Grieg hämmerte furios in die Tasten und suchte dann fluchtartig das Weite. In einem Brief an einen Freund beschwerte er sich über das raue, kulturlose Hardangervolk. Das kam seiner Freundin Brita zu Ohren. Und weil es gegen ihr Heimatgefühl ging, packte sie den 1,52 Meter kleinen, großen Komponisten und drohte: „Das sagst du aber nie wieder!"

Natur in den Tönen. Längst steht die Hütte im Hotelgarten und daneben Grieg samt Frau Nina und deren Schwester, alle drei Figuren grob in Holz gehauen. Heute hätte Grieg wenig Grund, sich über das kulturlose Hardangervolk zu beschweren. Denn seit zehn Jahren ist die Zeit der Obstblüte um Pfingsten um eine Attraktion reicher: Künstler aus dem skandinavischen Königreich und anderen europäischen Ländern feiern in und um das Hotel Ullensvang ein kleines, feines Musikfest am Fjord: das Hardanger Musikfestival. Es bezieht die Landschaft und ihre Menschen selbstverständlich mit ein. Hehre Kunst und Folklore dürfen sich mischen, sah doch schon Norwegens größter Komponist die heimatliche Volksmusik als Wurzel seiner romantischen Klangwelt: „Ja, die Natur in den Tönen und die Töne in der Natur!"

Musik für die Seele. Norwegen, das in diesem Jahr des am 4. September 1907 verstorbenen Komponisten gedenkt, bietet viele Möglichkeiten, die Harmonie von Griegscher Musik und landschaftlicher Schönheit zu erleben. In seiner Heimatstadt Bergen findet alljährlich ein renommiertes Musikfestival statt, das natürlich auch seine Werke erklingen lässt. Ein Grieg-Spaziergang durch Bergen, das sich mit insgesamt sechs Statuen des Komponisten schmückt, führt zu seiner (ungeliebten) Schule, zum Marktplatz mit dem Denkmal des in Bergen geborenen Dichters Ludvig Holberg (1684-1754), für dessen feierliche Enthüllung Grieg „Aus Holbergs Zeit", eine „Suite im alten Stil" komponierte, ferner zur Grieg-Akademie (1874 wurde ihm das gesamte Musikwesen in Bergen übertragen) und zur Grieg-Halle, dem einem Konzertflügel nachgebildeten größten Musiksaal der Stadt.

Höhepunkt für alle Musikfreunde ist ein Besuch in Griegs Wohnsitz „Troldhaugen", etwa sechs Kilometer außerhalb der geschichtsträchtigen Hafenstadt gelegen. Das Haus wirkt, als hätten Edvard und Nina Grieg es eben verlassen. In der hölzernen Villa auf dem „Trollhügel" lebte Grieg von 1885 an, hier entstanden bis 1905 zahlreiche Lieder, Chorwerke und Klavierstücke. Danach nahm seine künstlerische Aktivität aufgrund des schlechten Gesundheitszustandes ab. Als er am 4. September 1907 starb, wurde er in ganz Norwegen betrauert. Seine schmucklose letzte Ruhestätte fand der Künstler in einer Felswand am Ufer, wo später auch die Urne seiner Frau beigesetzt wurde.

Auf dem idyllischen Gelände befindet sich eine Hütte mit Blick auf den Grimstadfjord, wo Grieg ungestört komponieren konnte. Ein moderner Konzertsaal ergänzt das Ensemble. Hier erklingen, mit Blick aufs Wasser, in den Sommermonaten etwa sein wunderbares Klavierkonzert in a-Moll oder einige seiner 68 lyrischen Klavierstücke: „Einsamer Wanderer", „Waldesstille", „Traumgesicht"… Grieg sagte einmal: „Künstler wie Bach oder Beethoven haben Dome und Tempel auf den Höhen errichtet, ich wollte lieber, wie Ibsen es ausdrückte, Wohnstätten für meine Mitmenschen bauen, in denen sie sich zuhause fühlen und glücklich sein sollen, und habe versucht, eine nationale Kunst durch Aufsuchen der Quelle der norwegischen Volksseele zu schaffen."

Zuletzt aktualisiert: 06. Oktober 2016