Selbstbewusst, fröhlich und völlig abhängig

01. Januar 1900 | von

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adja und Anke sind zwei fröhliche Mädchen im Alter von elf Jahren. Wenn man mit ihnen zusammen ist, wird schon nach kurzer Zeit eine besondere Liebenswürdigkeit und Rücksichtnahme im Umgang miteinander offensichtlich. Wenn sie zum Beispiel an bestimmten Tagen während der Ferien einen Märchenfilm anschauen – einen alten Schinken wie sie sagen -, bestimmen sie jeweils im Wechsel, welcher Film es sein soll. Dennoch tastet jene, die mit der Auswahl des Films an der Reihe ist, vorsichtig ab, wo der bevorzugte Wunsch der Zwillingsschwester liegt und entsprechend fällt die Entscheidung aus. Es scheint ein selbstverständliches Anliegen zu sein, den Wunsch der Schwester einzubeziehen. Bewundernswert ist ihre unendliche Geduld in allen täglichen Lebenssituationen. Es gibt kein Quängeln, Jammern, Drängen und Klagen. Beide sind sehr ausgeglichen und wirken sehr zufrieden.

Traumatischer Lebensbeginn. Geduld ist in der Tat von Nadja und Anke gefragt, denn sie sind keine gewöhnlichen Mädchen. Beide Kinder sind Tetraplegiker, das heißt sie sind an allen Gliedmaßen gelähmt. Diese Lähmungen sind letztlich auf einen ärztlichen Kunstfehler zurückzuführen. Beide Mädchen sind so genannte Frühgeborene. Sie verfügten über eine Eigenatmung und wurden trotzdem beatmet, wie das bei Frühgeborenen unter einem bestimmten Geburtsgewicht üblich ist. Die Folge war ein Sauerstoffüberschuss im Gehirn, der Hirngefäße platzen ließ. Obwohl die Eltern medizinisch vorgebildet sind, wurde ihnen die Situation erst bewusst, durch den Hinweis einer Hebamme. Bruni, die Mutter, blieb mit den Kindern drei Monate in der Klinik. Für die kleinen Lebewesen muss das ein Trauma gewesen sein, das sich in wenigen Sätzen nicht beschreiben lässt. Alle Therapien, wie Drainagen, wiederholte Rückenmarkpunktionen und alle anderen diagnostischen Maßnahmen, wurden jeweils ohne Betäubung vorgenommen. Nadja hatte es besonders schwer, sie war so traumatisiert, dass sie keine Berührung, Liebkosung oder Streicheleinheiten der Eltern aufnahm. Sie hatte vorerst mit dem Leben abgeschlossen.
Bruni kämpfte um ihre Kinder. Der Gynäkologe riet der jungen Mutter, sich zu wünschen ihre Kinder seien tot, schließlich könne sie ja noch weitere Kinder bekommen. Bei der Entlassung machte der Arzt die Eltern darauf aufmerksam, dass ihre Kinder eventuell einmal eine Halbseitenlähmung bekommen könnten. Rührend erzählt Bruni wie glücklich sie waren, endlich die Kindern zu Hause zu haben und eine richtige Familie zu sein. Ihnen war keine Mühe zu viel, allerdings ahnten sie noch nicht, was noch auf sie zukommen sollte.

Absolut abhängig. Die Entlassung nach Hause war nur möglich, weil die Eltern medizinische Kenntnisse hatten, denn jedes Kind benötigte einen Monitor zur Überwachung der Atmung. Bis im Alter von zehn Monaten waren die Säuglinge unauffällig. Doch dann zeigten sich Reflexe, welche zu diesem Zeitpunkt bereits zurückgebildet sein sollten. Auffallend war außerdem, dass die Kinder nicht greifen, den Kopf nicht heben konnten und die Unterarmstütze nicht möglich war.
Bis heute können Nadja und Anke weder gehen noch stehen. Sie können sich weder an- noch auskleiden, auch nicht alleine zur Toilette gehen. Sie sind nicht in der Lage, ihre jeweilige Position zu korrigieren oder ihre Rollstühle in Bewegung zu setzen. Ihre Arme und Hände vermögen sie nicht entsprechend einzusetzen.
Bei Nadja fehlt die Feinmotorik der Hände und Finger gänzlich. Sie benötigt viel Hilfe beim Essen, Trinken und Spielen. Sie ist insgesamt stiller und zurückgezogener als Anke. Anke ist lebhaft, und Nadja steht manchmal etwas in ihrem Schatten.

Weitere Strapazen. Durch die Spastik und Schonhaltung und den Nichtgebrauch der Beine sind die Hüftpfannen sehr flach und die Oberschenkelköpfe rutschten aus den Hüftpfannen. So wurde Nadja mit acht Jahren innerhalb von acht Tagen zwei Mal operiert. Unmittelbar an die Operation folgte eine sechswöchige Lagerung in einem Gipsbett. Die Eltern machen sich heute Vorwürfe, zwei so große Operationen in so kurzer Zeit zugelassen zu haben. Für Nadja war das wie ein eiskalter Wasserguss. Sie wirkte völlig verstört, litt an Erbrechen, Appetitmangel und Magengeschwüren. Nadja brauchte über ein Jahr, um sich von den Strapazen zu erholen und wieder an Gewicht zuzulegen.
Anke wurde an einer Seite operiert und bildete Dekubiti (Druckgeschwüre). Im Frühjahr wurden bei ihr die Metallplatten entfernt, mit anschließendem vierwöchigen Rehabilitationsaufenthalt. Sie lag Monate nachts in einer Schiene, welche die Hüfte in die richtige Stellung brachte und ihr die unerträglichen Schmerzen nahm.

Erschöpft vom Alltag. Seit vier Jahren besuchen Nadja und Anke eine Behindertenschule in der 70 Kilometer entfernten Hauptstadt. Mit dem neuen Schuljahr im Herbst des Jahres geht Nadja weiterhin zur gleichen Schule, während Anke nun eine weiterführende Schule besucht. Theoretisch hat sie die Möglichkeit, hier ihre Mittlere Reife oder ihr Abitur zu machen. Aber zunächst müssen die Eltern abwarten, ob sie den Belastungen gewachsen ist und ob der Preis nicht zu hoch ist. Morgens um 6.15 ist Abfahrt! Bis dahin muss Bruni ihre zwei behinderten Töchter geduscht und angekleidet haben, ihnen das Frühstück gegeben haben – die Kinder sind wohlgemerkt körperlich schwerst behindert! Aufgrund der Verkehrsverhältnisse kommen die beiden abends erst um 18.15 völlig erschöpft zurück. Anke muss dann auch noch Hausaufgaben machen. Wird sie diese Belastung bestehen?
Neben der Schule haben die Kinder regelmäßig ihre Krankengymnastik, Bewegungstherapien, Entspannungsübungen und Massagen. Ansatzweise machen sie jetzt auch eine konduktive Therapie, eine Art Ergotherapie, welche die Eltern vor den Operationen mehrmals mit den Kindern in Ungarn wahr genommen haben, weil diese hier noch nicht anerkannt ist.

Begeisterte Schülerinnen. Beide Mädchen gehen gerne und mit großer Begeisterung zur Schule. Ferien finden sie langweilig. Beide können nur mit Hilfe des Computers schreiben. Nadja hat zusätzlich an ihrem Laptop noch einen besonderen Aufsatz, so dass ihre Finger nicht daneben rutschen können.
Im Frühjahr des Jahres gingen Nadja und Anke zur Erstkommunion. Bruni, die Mutter leitete eine Kommuniongruppe und hatte natürlich auch ihre Töchter in der Vorbereitung. Sie waren mit Eifer dabei und haben die Vorbereitung sehr ernst genommen. Sonntags besuchen sie zusammen mit ihren Eltern den Kindergottesdienst in der Gemeinde. Für Nadja und Anke ist das jeweils ein wichtiges Ereignis.

Schicksalsschläge. Bruni, die Mutter, hatte in Abständen mehrmals gutartige Tumore in den unteren Extremitäten, die operativ behandelt werden mussten. Des Weiteren wurde bei ihr in jüngster Zeit eine polyarthritische Rheumaerkrankung (Entzündung zahlreicher Gelenke) diagnostiziert. Seit Jahren litt sie unter Gelenkschmerzen und akuten Entzündungen, aber sie beachtete ihre Beschwerden nur, wenn sie absolut untragbar waren und schob diese immer auf die körperliche Überbelastung durch das Gewicht der Kinder.
Ich bewundere Bruni, diese zierliche Person, sehr, wie sie in der Lage ist, die Kinder zu heben und deren Sitzposition mit immer währenden Geduld zu korrigieren. Nadja wollte unbedingt auf meinen Schoß. Ich hatte große Mühe das Kind zu heben und noch größere, sie auf dem Schoß zu halten.

Noch mehr Lasten? Werner, der Vater der Kinder, hat einen verantwortungsvollen Beruf im medizinischen Bereich mit vielen Überstunden, so dass die Hauptlast zwangsweise bei Bruni liegt.
Allerdings wurde Bruni bisher sehr von ihren Eltern unterstützt. Der Vater war immer ein Retter in der Not und griff ihr stark unter die Arme. Eigentlich wäre das Maß an Problemen für diese Familie ja übervoll, aber nun ist Brunis Vater an einer bösartigen Darmerkrankung operiert worden. Bruni sagt: Ein Leben ohne meinen Vater kann ich mir in der jetzigen Situation für unsere Familie nicht vorstellen. Und so bete ich zu Gott, dass er uns erhalten bleibt. Ihr Ehemann, hat daraufhin eine andere Stelle mit regelmäßigen Diensten und freien Wochenenden angetreten. Andererseits bedeutet das auch weniger Verdienst. Darauf sind sie aber angewiesen, weil die Behinderung der Kinder ungeheure Summen verschlingt.

Am Antoniusgrab. Bruni sagt: Zu gerne würde ich mich für Nadja und Anke in den Rollstuhl setzen, aber der liebe Gott hat mich scheinbar für die Füße bestimmt Ich würde alles geben, wenn beide eines Tages nur ein kleines bisschen unabhängiger werden könnten, zum Beispiel alleine aus dem Bett kommen, telefonieren, alleine zur Toilette gehen könnten, sich zur Not tagsüber versorgen könnten. Ob der heilige Antonius für uns bittet, fragt sie. Kürzlich sagte Anke: Mama, wenn ihr mal nicht nach Hause kommt, werden wir verhungern.
Als ich Bruni von meinem Vorhaben berichtete, über die Kinder zu schreiben und ihr ein Exemplar des Sendboten zukommen ließ, war sie überrascht, weil der Sendbote ihr fremd war. Sofort schrieb sie nach Padua mit dem Gebetsanliegen für die Kinder, das mit Fotos am Antoniusgrab ausgehängt wurde.

Selbstbewusste Mädchen. Ich freue mich sehr, dass beide Mädchen sehr selbstbewusst sind, gleichzeitig aber auch bescheiden. Bei meinem Besuch sollte sich jede ein Geschenk aussuchen. Nachdem ich ihnen aber schon ein kleines Geschenk mitgebracht hatte, meinten sie, nun noch ein zusätzliches, das sei entschieden zu viel. Ich blieb bei meinem Versprechen. So entschied sich Nadja für ein Stoffpferd, dass wir Lotte nannten. Immer und überall ist Lotte dabei und morgens beim Wecken will sie beißen, weil sie nicht aufstehen möchte. Anke konnte sich nicht entschließen. Sie bat mich, sie zur Verkäuferin zu fahren, um sich von ihr beraten zu lassen. Das waren sehr souveräne Verhandlungen und die Verkäuferin sah in ihr einen ernst zu nehmenden Partner.

Ohne Gott ginge es nicht. Bruni sagt: Du weißt, ohne Gott würde unsere Familie schon längst nicht mehr bestehen, wir brauchen ihn wie das tägliche Brot. Wir beten jeden Abend zur Muttergottes und ich glaube daran, das sie uns in irgendeiner Art und Weise helfen wird. Über die schmerzhaften Erfahrungen, die sie mit so genannten Freunden und anderen Mitmenschen gemacht haben, sprechen die Eltern nicht. Einige haben sich unter fadenscheinigem Vorwand von ihnen abgewandt, andere sprechen nicht mit ihnen und wieder andere wechseln die Straßenseite, wenn die Eltern mit den Kindern unterwegs sind. Andererseits gibt es auch sehr erfreuliche Begegnungen: Seit Jahren feiern die Kinder ihren Geburtstag bei einem älteren Ehepaar, das räumlich nicht eingeengt ist und spontan Freundschaft mit der Familie geschlossen hat. Den beiden war es ein Anliegen zu helfen.

Zuletzt aktualisiert: 06. Oktober 2016