Sich den dunklen Seiten stellen

24. Mai 2010 | von

Wie ist umzugehen mit dem sexuellen Missbrauch durch Geistliche? Wochenlang stritten Kirche und Staat über diese Frage, dann setzten sich Ende April Kirchenvertreter mit Politikern an einen sogenannten „runden Tisch". Seitdem sucht das Gremium nach Wegen, Kinder vor Übergriffen besser zu schützen. Der Generalvikar des Bistums Würzburg, Dr. Karl Hillenbrand, beleuchtet das heikle Thema „Missbrauch" mit viel Fingerspitzengefühl und fordert eine Kultur des Hinschauens, Helfens und Heilens. 



Seit Wochen beherrscht das Thema von Missbrauch und Misshandlungen im kirchlichen Bereich die Öffentlichkeit in Deutschland und darüber hinaus. Das Argument, dass es sich dabei nicht um ein kirchenspezifisches, sondern um ein gesamtgesellschaftliches Problem handelt, darf dabei kein Alibi sein, sich unserer besonderen Verantwortung als katholische Christen zu stellen. Gerade weil unsere Kirche für sich in Anspruch nimmt, in einer Gesellschaft, die zunehmend von sozialer Kälte geprägt scheint, Räume des Vertrauens und der Zuwendung zu schaffen, ist es erschütternd, in welchem Ausmaß durch solche Verbrechen gerade an Kindern und Jugendlichen Vertrauen missbraucht und Lebensperspektiven nachhaltig zerstört wurden. Scham und Erschütterung über dieses schlimme Geschehen dürfen aber nicht zu einer folgenlosen Betroffenheit oder gar lähmenden Sprachlosigkeit führen. Zum Christsein gehört nie Verdrängung, sondern stets gläubiges Durchdringen der Wirklichkeit. Deshalb ist es notwendig, diese dunklen Seiten der Kirche genau in den Blick zu nehmen, aber gleichzeitig darauf zu achten, wo in der häufig nur mit Emotionen geführten De-

batte problematische Argumente ins Spiel kommen. Dabei darf es weder eine Generalabsolution noch einen Generalverdacht der Kirche und speziell ihren Priestern gegenüber geben.



Meine Überlegungen, die vor dem Hintergrund meiner Tätigkeit in der Priesterausbildung (1983-1996) und meiner seitherigen Aufgabe als Generalvikar unseres Bistums, aber auch im Blick auf viele Gespräche in den letzten Wochen entstanden sind, wollen nichts weiter als eine Hilfe sein, Probleme zu benennen und Perspektiven zu entwickeln.



Schweigen aus Scham



Oft wird gefragt, warum sich viele Geschädigte erst jetzt, Jahre und Jahrzehnte nach den Missbrauchsfällen, zu Wort melden. Die Gründe hierfür habe ich im Gespräch mit Opfern und deren Familien in erschütternder Weise erlebt. Bei den Opfern war der Missbrauch mit Angst verbunden, die in eine regelrechte Schweigespirale mündete, im familiären Umfeld ebenso wie im kirchlichen Bereich. Damit verbunden waren und sind oft eine tief sitzende Scham und die Hilflosigkeit, solche traumatisierenden Erlebnisse zu verarbeiten. Besonders getroffen haben mich Sätze wie: „Mir hätte doch damals ohnehin keiner geglaubt." Besonders bewegt hat mich der Bericht eines Opfers, das über dreißig Jahre danach beim Anblick der Fernsehbilder vom Treffen des Papstes mit Missbrauchsopfern während seiner USA-Reise im Jahr 2008 den Mut fand, den Bistumsverantwortlichen die schlimmen Geschehnisse von damals mitzuteilen, gerade weil sie heute in neuer und bedrängender Weise präsent sind. Deshalb ist das Aufarbeiten auch lange zurückliegender Vorkommnisse so wichtig. Ich möchte alle Betroffenen ermutigen, Hemmschwellen zu überwinden und sich bei den jeweiligen diözesanen Ansprechpartnern zu melden. Solche Aufklärungsarbeit ist noch keine Wiedergutmachung, aber ein erster Schritt auf dem Weg zur Gerechtigkeit.



Juristische Verantwortung



Zu Beginn des Missbrauchsskandals war oft der Vorwurf zu hören, die Kirche wolle ihr eigenes Rechtssystem schaffen und meide deshalb die Zusammenarbeit mit den staatlichen Behörden. Ein Vorwurf, dem spätestens Ende April jegliche Nahrung genommen wurde: Seitdem sitzen Kirchenvertreter zusammen mit Politikern, Juristen, Psychologen und Vertretern von Opfern, Internaten und Schulen an dem von der Bundesregierung eingesetzten „Runden Tisch" gegen sexuellen Kindesmissbrauch. Das Gremium beschäftigt sich unter anderem mit der Verbesserung der Prävention, juristischen Konsequenzen und der Frage der Opferentschädigung. Parallel dazu werden innerhalb der deutschen Kirche die bislang bestehenden Richtlinien zum sexuellen Missbrauch verschärft. Ein Ende April vom Ständigen Rat der Deutschen Bischofskonferenz in Würzburg erstellter Entwurf soll im Juni verabschiedet werden. Die neue Fassung präzisiert das Verhältnis der kirchlichen Einrichtungen zu den staatlichen Strafverfolgungsbehörden – es sollen striktere Vorgaben gelten, wann Missbrauchsfälle staatlichen Behörden gemeldet werden. Außerdem sehen die Leitlinien vor, künftig mehr Gewicht auf die Prävention in kirchlichen Einrichtungen der Kinder- und Jugendarbeit zu legen und der Opferperspektive eine hohe Priorität einzuräumen.



Auch die Bischöfe der katholischen Kirche in der Schweiz und in Österreich ergriffen im März diesen Jahres Maßnahmen gegen den sexuellen Missbrauch in ihrem Bereich und überarbeiten derzeit die bislang dazu bestehenden Richtlinien.



Die seit 2002 bestehenden Leitlinien der Deutschen Bischofskonferenz sehen bisher schon eine Einschaltung der Staatsanwaltschaft bei begründetem Anfangsverdacht oder nach einer offiziellen kirchlichen Voruntersuchung vor. Sie wurden nun nochmals daraufhin präzisiert, dass die Justiz in jedem Fall eingeschaltet wird, außer ein Opfer lehnt dies in Kenntnis aller Umstände explizit ab. Dabei muss das kirchliche Vorgehen auf das staatliche Rechtssystem abgestimmt sein, weil christliches Leben keine Sonderwelt darstellt. Generell bin ich der Meinung, dass nicht nur eine Aufarbeitung der Tat wichtig ist, sondern genauso der Täter zur Verantwortung gezogen werden muss. Eine Differenz zwischen staatlicher und kirchlicher Reaktion ergibt sich jedoch in der Bewertung von Missbrauchsfällen, weil die moralische und die juristische Ebene nicht immer deckungsgleich sind. Vom Anspruch unserer Glaubensethik her dürfen Straftaten, welche die seelische und körperliche Entwicklung eines Menschen oft lebenslang schädigen, niemals ohne Reaktion bleiben. Ebenso war und ist es für mich unerträglich, wenn ein rechtskräftig vorbestrafter Priester ständig seiner Umgebung erzählt, er sei ja nur wegen „minderschwerer Missbrauchshandlungen" verurteilt worden und verstehe deshalb die harte Haltung der Diözese ihm gegenüber nicht. An solchen Verhaltensweisen zeigt sich, wie gefährlich es ist, rechtliche Würdigung und sittliche Wertung gleichzusetzen.



Versäumnis und Erkenntnis



Der Kirche und speziell den Bistumsverantwortlichen wird in der momentanen Debatte der Vorwurf gemacht, früher zu sehr weggeschaut und geschwiegen zu haben. Es hat aber in den letzten Jahren und Jahrzehnten einen nicht immer einfachen Lernprozess gegeben, wie mit der Missbrauchsthematik umzugehen sei – sowohl innerhalb der Kirche wie in der gesamten Gesellschaft.



Ich würde nicht pauschal von Vertuschung sprechen: Diese ist dort gegeben, wo ein mangelnder Aufklärungswille wider besseres Wissen vorliegt. Diese Haltung ist nicht zu entschuldigen. Im Rückblick nehme ich aber auch wahr, dass bis vor einigen Jahren angesichts des Missbrauchsphänomens insgesamt eine Sprach- und Hilflosigkeit bestand, die sicher auch durch weitgehende Tabuisierungen des Themas begünstigt war. Daraus resultierten dann speziell auf kirchlicher Ebene ungenügende Maßnahmen wie lediglich Versetzungen oder ein zu gutgläubiges Vertrauen auf die Kraft spiritueller und später therapeutischer Begleitungsmaßnahmen. Wenn Papst Benedikt XVI. in seinem Brief an die Katholiken in Irland von der wohlmeinenden, aber fehlgeleiteten „Sorge um den Ruf der Kirche und die Vermeidung von Skandalen" spricht, ist dies eine schmerzhafte, aber wichtige Einsicht. Auch wenn es nicht einfach war (und ist), die Komplexität des Problems zu erkennen und gesicherte Informationen zu gewinnen, wird sich die Botschaft des Glaubens auf Dauer nur bewähren können, wenn sich die Kirche auch mit unangenehmen Wahrheiten konfrontieren lässt. Ausdrücklich sei betont, dass den Medien dabei eine wichtige Aufgabe zukommt; reflexhafte Abwehrreaktionen oder gar das Entwickeln von Verschwörungstheorien sind nicht hilfreich.



Papst Benedikt XVI. hat inzwischen mehrfach Zeichen gesetzt, dass sich die Kirche dem Thema stellt. Mitte April betonte er in einer Predigt in Rom Bezug nehmend auf die Missbrauchsfälle, dass es notwendig sei, „Buße zu tun und zu erkennen, was falsch ist in unserem Leben". Und während seines Pastoralbesuchs auf Malta traf er sich mit dortigen Missbrauchsopfern und zeigte sich schmerzhaft bewegt von deren Geschichte. Er versicherte ihnen, dass die Kirche weiterhin alles in ihrer Macht Stehende tun werde, „um Anschuldigungen zu untersuchen, Verantwortliche der Justiz zuzuführen und wirksame Maßnahmen zu ergreifen, die junge Menschen in der Zukunft schützen sollen."



Zölibats-Debatte



In der momentanen Debatte wird immer wieder ein Zusammenhang zwischen sexuellem Missbrauch und Zölibat behauptet. Oft wird die Verpflichtung der Priester zur Ehelosigkeit dabei als „nicht lebbares Gebot zum Triebverzicht" bezeichnet. Aus meiner Erfahrung in der Priesterausbildung kann ich dazu bemerken: Beim Zölibatsversprechen handelt es sich nicht um einen Zwang, sondern um eine freiwillig übernommene Verpflichtung. Die Alternative zum Zölibat ist auch nicht, wie immer wieder suggeriert wird, das freie Ausleben der Sexualität, sondern die christliche Ehe, für deren Gelingen ähnliche Eigenschaften notwendig sind wie für die vom Glauben her motivierte Ehelosigkeit: Fähigkeit zum Verzicht, Kommunikations- und Konfliktfähigkeit, Einfühlungsvermögen und anderes mehr. Priesterliche Ehelosigkeit hat darum auch von ihrer Begründung her nichts mit Beziehungslosigkeit und schon gar nichts mit Lieblosigkeit zu tun. Diese Einsicht enthält zugleich wichtige Eignungskriterien für die Weihezulassung. In der Priesterausbildung wird schon seit Langem dem Faktor der psychosexuellen Reife und ihrer spirituellen Integration besondere Bedeutung beigemessen. Es muss mit allen Mitteln verhindert werden, dass die zölibatäre Lebensform von Menschen, die diesbezüglich in ihrer Entwicklung gestört sind, als Schutzraum für krankhafte Neigungen benutzt wird. Wichtig wäre aber auch ganz konkret, dass das Votum der Verantwortlichen ernst genommen wird und Diözesen keine Kandidaten übernehmen, die in anderen Bistümern nicht zuletzt wegen mangelnder affektiver Reife in ihrer Persönlichkeitsentwicklung abgelehnt worden sind.



In diesem Zusammenhang wird wieder einmal verstärkt die kirchliche Sexualmoral insgesamt an den Pranger gestellt. Dabei wird behauptet, sie habe ein Klima der Triebunterdrückung erzeugt, das für die Missbrauchsexzesse mitverantwortlich sei. Abgesehen davon, dass zu plakative Strukturerklärungen leicht dazu führen, dass der einzelne Täter seine Verantwortung für Missbrauchshandlungen dann auf das „System" abwälzen und ihm die Schuld geben kann, zeigt sich in dieser Argumentation ein fundamentales Verkennen grundlegender Einsichten. Bei allem Wandel, den auch die kirchliche Sexualmoral erfahren hat, blieb doch ihre entscheidende Intention gleich: Sie verlangt die unbedingte Achtung des anderen, seiner Würde und Integrität. Die christliche Morallehre ist von ihrem Ansatz her geradezu ein Alternativentwurf gegen Tendenzen, den Menschen auf seine sogenannte „Natur" zu reduzieren und darunter die Summe von angeborenen Anlagen zu verstehen, die möglichst in freier Selbstverwirklichung auszuleben sind.



Bei allen berechtigten Anfragen an zeitbedingte Begründungen kirchlicher Sexualmoral darf dieses unverzichtbare Grundelement nie vergessen werden: Der Mensch ist nie bloße Natur, er bezieht seine entscheidende Würde aus der Tatsache, dass er Geschöpf Gottes ist. Aus dieser Erkenntnis kommt letztlich der Einsatz der Kirche gegen alle Verletzungen der Menschenwürde und speziell gegen sexuellen Missbrauch und Gewalt. Diese vielleicht vergessenen Zusammenhänge müssen neu ins Bewusstsein rücken.



Wie viel Nähe darf sein?



In zahlreichen Begegnungen und Gesprächen mit Priestern in den letzten Wochen habe ich eine tiefsitzende Unsicherheit festgestellt. Ein Pfarrer äußerte sich zum Beispiel, er traue sich schon nicht mehr, Kindern bei der Beichte zum Zeichen der Versöhnung die Hand aufzulegen; ein anderer fragte nach, ob es denn noch sinnvoll sei, Ministrantenzeltlager zu organisieren. Ich nehme solche Bedenken ernst, weil sie von einem hohen Verantwortungsbewusstsein zeugen, warne aber gleichzeitig vor einer falschen Ängstlichkeit. Jede gute seelsorgliche Begegnung lebt von einem ausgewogenen Verhältnis von Nähe und Distanz. Pastorale Zuwendung wahrt stets den gebotenen Respekt vor der Person des Anderen und vereinnahmt niemanden für eigene Zwecke. Begleitungs- und Supervisionsmaßnahmen, die natürlich in eine umfassende Spiritualität integriert sein müssen, können dazu beitragen, das eigene Verhalten immer wieder wachsam auf seine „Stimmigkeit" hin zu überprüfen.



Gerade weil ich jede Form von Generalverdacht gegenüber Priestern beziehungsweise kirchlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern strikt ablehne, erfordert dies ein umso genaueres Hinsehen auf eigene und andere Verhaltensweisen. Beim Wahrnehmen dieser Verantwortung ist Überängstlichkeit genauso hinderlich wie falsche Selbstsicherheit. Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass der priesterliche Dienst nur dadurch neu an Ausstrahlung gewinnt, wenn immer wieder eine ehrliche Aus-

einandersetzung mit seiner Größe und seiner Gefährdung

gleichermaßen erfolgt.



Kultur des Helfens



Alles, was derzeit in den verschiedenen Stellungnahmen von Bischöfen und weiteren Verantwortlichen über eine Kultur des Hinschauens, des Helfens, des Heilens und Vorbeugens gesagt wird, ist richtig und wichtig. Vor allem bei den Hilfen ist ein entschiedenes und zugleich einfühlsames Vorgehen nötig. Tragfähige Antworten lassen sich nur finden, wenn Verantwortung umfassend wahrgenommen wird. Darüber hinaus beschäftigt mich aber in dieser schweren Krise unserer Kirche die Frage, was Gott uns damit sagen will. Das ist keine spirituelle Überhöhung, die Widerständiges und Schuldhaftes verdrängt, sondern die Suche nach einem gläubigen Umgang mit dieser bedrückenden Realität. Haben wir vielleicht angesichts der immer noch reichlichen finanziellen Ausstattung unserer Kirche hierzulande das Augenmerk auf die – sicher notwendigen – Strukturentwicklungen gerichtet und dabei zu wenig die konkreten Personen mit ihren Verletzungen und Nöten in den Blick genommen? Müssen wir nicht angesichts der immensen, erdrückenden Schuldsituationen, die in den letzten Wochen und Monaten zutage getreten sind, neu demütig werden und erkennen, dass gerade wir Priester nicht einfach Menschen für andere, sondern Menschen wie andere sind? „Demut" enthält aber auch das Wort „Mut": Deshalb vertraue ich darauf, dass Gott uns bei ehrlicher Bereitschaft zu Einsicht und Umkehr Wege zeigen wird, die uns weiterführen und weiterbringen.

Zuletzt aktualisiert: 06. Oktober 2016