Sozialistische Lichttempel unter der Erde

22. April 2010 | von

„Wie im Himmel, so unter der Erde", an diese kommunis-tische Parole denkt, wer die Moskauer U-Bahn benutzt. Nicht zu Unrecht heißen ihre circa 180 Stationen „unterirdische Paläste", wie unsere Autorin während ihrer 16 Moskauer Jahre feststellen konnte. Tatsächlich legt die teilweise sehr aufwändige Architektur zahlreicher Haltestellen diesen Vergleich nahe. Am 15 Mai wird die Moskauer Metro 75 Jahre alt.



Glänzende Foyers, breite mit großartigen Kronleuchtern erleuchtete Korridore, Mosaike, Kupfer, glitzernder Granit und marmorverkleidete Mauern: Der U-Bahn-Bau, der 1931 begann, war das sozialistische Prestigeobjekt der damaligen UdSSR, Stalins Aufbruchssignal in eine neue Zukunft. Mir vermittelte sich oft der Eindruck, in einer Welt zu leben, die an das Wortspiel des Kommunismus erinnert: „Wie im Himmel, so unter der Erde". Um wie viel intensiver müssen dies die ersten Fahrgäste der Moskauer Metro empfunden haben, als sie am 15. Mai 1935 auf den futuristisch anmutenden Rolltreppen in die Tiefe hinabfuhren – noch die Eindrücke ihrer Stadt im Kopf, die von Holzhäusern und schmutzigen Hinterhöfen geprägt war. Sie betraten staunenden Blicks weite, lichtdurchflutete Hallen. Die erste Linie – ein wahrgewordenes Märchen: 70.000 Quadratmeter verschiedenfarbigen Marmors, edle Metalle, Gold, leuchtende Mosaike, glitzernder Glasschmuck, funkelnde Kristall-

lüster. Stalin setzte das Beste vom Besten für sein Mammutprojekt ein und griff auch auf modernste kapitalistische Technik zurück wie eine englische Tunnelbohrmaschine.



Marmor für Millionen



Die prachtvollste U-Bahn der Welt besticht durch imposante, prunkvolle und schlicht-elegante Stationen. Die Komsomolskaja wird oftmals als die Schönste im gesamten Metronetz angesehen. Der 1952 eröffnete Haltepunkt liegt unterhalb des gleichnamigen Platzes und erstaunt durch sein barockes Erscheinungsbild: 72 Pfeiler, allesamt mit elfenbeinfarbenem Marmor verkleidet, stützen die gewölbte Decke aufs Dekorativste. Den Deckenbereich erhellen kostbare Kronleuchter, zwischen denen acht Monumentalmosaike, jeweils aus 300.000 Einzelteilen und von Stuck gerahmt, Szenen der russischen Geschichte präsentieren. Preisgekrönt ist die Majakowskaja. Diese elegant gestaltete Station wurde 1938 auf der New Yorker Weltausstellung mit dem Grand Prix ausgezeichnet. Sie beeindruckt durch schlichte Säulen aus Marmor und rostfreiem Edelstahl. Mehr als 30 Gewölbemosaike aus fluoreszierenden Materialien zeigen die Errungenschaften der sowjetischen Luftfahrt.



„Meine" Metrostation Sokol liegt im Norden der Stadt. Sie wurde 1938 eröffnet und weist mit ihrer gewölbeartigen Deckenkonstruktion auf viereckigen Stützpfeilern Ähnlichkeiten mit einer Kathedrale auf. Unzählige Male bin ich dort im Laufe meiner Moskauer Jahre in den „Bauch" der Großstadt hinabgestiegen, um mich in dem verwirrenden System von den 12 verzweigten U-Bahnlinien mit circa 180 Haltestellen fortzubewegen, die die Millionenstadt kreuz und quer „unter"-ziehen. Die Menschen hasten aneinander vorbei, erschöpft von den langen Entfernungen, die sie zwischen Heim und Arbeit zurücklegen müssen. Sie sind stolz auf ihre Metro, und ohne sie wäre ein Leben in dieser großen Stadt unmöglich. Sie gehört zu den tiefsten U-Bahnsystemen der Welt und ist mit über 2,5 Milliarden Fahrgästen pro Jahr auch eines der am stärksten in Anspruch genommenen. Von 5.30 morgens bis 2 Uhr nachts fahren die Züge auf rund 300 Schienenkilometern, zu den Stoßzeiten in einem Abstand von 1,5 bis 3 Minuten. Täglich werden bis zu neun Millionen Menschen transportiert.



Für Gehbehinderte oder rollstuhlfahrende Personen ist die Benutzung der Metro auf den ersten Blick ohne fremde Hilfe jedoch nahezu unmöglich. Das musste selbst ich erfahren, als ich aufgrund einer Knieverletzung monatelang Probleme beim Laufen hatte. Fast keine Station verfügt über barrierefreie Zugangsmöglichkeiten. Dennoch sieht man häufig zum Beispiel junge Männer, die beinamputiert aus dem Tschetschenienkrieg zurückgekommen sind. Sie werden von irgendjemandem die langen Treppen hinuntergetragen und auf einem der Bahnsteige abgesetzt.



Kurioses und Geheimes



Nach dem Ende des „Großen Vaterländischen Krieges" war der Bau einer Ringlinie zur Entlastung der zentralen Umsteigeknoten geplant. Es kursiert auch heute noch eine Legende, woher die Idee dazu stammen soll. Eines Tages kam eine Gruppe von Ingenieuren mit den Bauplänen zu Stalin. Als er gefragt wurde, ob er das Projekt akzeptiere, habe er seine Tasse Kaffee auf die Pläne gestellt und sei wortlos verschwunden. Die Unterseite der Tasse hinterließ einen

braunen Kreis auf den Zeichnungen. Beim genaueren Betrachten sahen die Ingenieure, dass der Kaffeekreis der ideale Verlauf der Linie war, nach der sie bisher vergeblich gesucht hatten. Das war für die Planer ein Zeichen für Stalins Genie, und noch heute ist die Ringlinie, die die wichtigsten Fernbahnhöfe

Moskaus verknüpft, auf allen Metroplänen braun eingezeichnet. Als ich 1991 nach Moskau kam, hielt sich noch hartnäckig das Gerücht über die Metro Zwei, ein geheimes, bis zu 150 Kilometer langes Zusatzsystem, welches den Regierungssitz im Kreml mit strategisch wichtigen Punkten wie zum Beispiel dem damaligen Regierungsflughafen Wnukowo verbinden soll. Eine Reihe von Fakten sprechen tatsächlich dafür, dass es diese zweite Metro gibt: Eingänge in Stollen und Schächte unklarer Bedeutung, vom normalen Streckennetz abweichende Schienen mit unbekanntem Ziel, rätselhafte Regierungsbeschlüsse, die ein „spezielles Transportsystem" betreffen etc. Die Medien hatten besonders in den Neunziger Jahren versucht, Licht in das Dunkel zu bringen, aber eine Bestätigung von offizieller Seite ist nie erfolgt. Sicher ist jedoch, dass Stalin alle Maßnahmen getroffen hatte, um sich bei einem eventuellen

Katastrophenfall so schnell als möglich in Sicherheit zu bringen.

Stichwort Katastrophen: Davon gab es bisher einige, die jedes Mal das Leben der Stadt von innen her trafen und Angst und Verzweiflung unter den Menschen verbreiteten. 1977 ein Terroranschlag mit drei Bombenexplosionen zwischen den Stationen Ismailowskaia und Perwomaiskaja und dann der Rolltreppenunfall 1982 an der Station Awiomotornaja mit acht Todesopfern und unzähligen Verletzten. Wegen eines Konstruktionsfehlers hatten die Bremsen versagt. Der bislang folgenschwerste Anschlag, 2004 verübt, hat vor wenigen Wochen grausige Konkurrenz bekommen: Am 29. März rissen zwei junge Selbstmordattentäterinnen 38 Menschen mit in den Tod.



Signal des Aufbruchs



Die Moskauer Metro: Spiegel einer Gesellschaft, in der bis heute trotz aller Veränderungen nach Glasnost und Perestroika im Unterbewusstsein Angst und ein Gefühl der Ohnmacht vorherrschen. Ich war nach Russland gekommen,

um dort zusammen mit anderen meine Erfahrung mit einem Gott, der Liebe ist, zu teilen. Eines Tages war ich mit meiner russischen Freundin Alla in der Metro unterwegs. Wir erzählten uns von dem, was uns im Blick auf unsere Arbeit, unsere Familien und nicht zuletzt auf unser Leben mit Gott bewegt. Plötzlich sprach mich zu meiner Verwunderung eine junge, unbekannte Frau an, die neben mir saß. „Da ist etwas zwischen Ihnen, das strahlt etwas aus."

„Wie im Himmel, so unter der Erde" – in kleinen Episoden wie dieser bekommt die Moskauer Metro für mich Glanz. Immer wieder wird dann ein Signal gegeben, das – wenn auch nicht im Sinne Stalins – von Aufbruch spricht.

Zuletzt aktualisiert: 06. Oktober 2016