Spirituelle Hochburg Europas

02. August 2010 | von

 Im Jahr 910 ließ sich der Benediktinerabt Berno zusammen mit zwölf Mönchen bei Mâcon, in einem abgelegenen Winkel Burgunds, nieder. Damals ahnte er sicher nicht, dass seine Abtei zum strahlenden Zentrum eines riesigen Ordens aufsteigen sollte: Vom 10. bis 12. Jahrhundert übte Cluny mit seinem Reformmodell auf weite Teile Europas spirituell, kulturell und politisch Einfluss aus.



 „Cluny. Stadt am Fluss Grosne im französischen Departement Saône-et-Loire, Region Burgund, 4.600 Einwohner. Bekannt durch seine nach der Französischen Revolution zerstörte mittelalterliche Abtei." Soweit die knappe Beschreibung der Gemeinde Cluny in einem Lexikon unserer Tage. Das Kloster gleichen Namens ist den Verfassern lediglich eine Anmerkung wert.



Welch eine Ungerechtigkeit! Denn die Abtei Cluny überstrahlte zu ihrer Blütezeit das gesamte Abendland. Von ihr gingen maßgebliche Einflüsse auf das Mönchtum des alten Kontinents aus, die sogenannte Cluniazensische Reform führte zur Gründung neuer oder zur Erneuerung bestehender Orden. Cluny wurde bald so mächtig und bedeutend, dass seine Abteikirchen den Ansprüchen des Klerus und der Gläubigen nicht mehr entsprachen. Schon 70 Jahre nach der Gründung weihte Abt Maiolus den zweiten Neubau, gut einhundert Jahre später, im Jahre 1089, Abt Hugo den dritten. Letzterer galt, 187 Meter lang und fünfschiffig, bis zum Wiederaufbau des Petersdoms in Rom jahrhundertelang als größte Kirche der Christenheit.



Vorgeschichte. Als Wilhelm I., Herzog von Aquitanien und Graf von Mâcon, mittels Urkunde vom 11. September 910 Cluny als Benediktinerkloster gründete, war seine Stiftung eine von vielen in jener Zeit. Allerdings waren damals viele Klöster zu Versorgungsanstalten für nicht erbberechtigte Söhne und Töchter verkommen. Deren Lebenswandel war zumeist alles andere als klösterlich. Zu allem Überfluss bezogen Adlige oder die hohe Geistlichkeit Klöster oft in ihre Händel ein und kamen so deren geistigem Auftrag in die Quere.



Neuer Geist



In diesem Umfeld bewies der Herzog Weitsicht und ging einen seinerzeit aufsehenerregenden Weg: Er unterstellte Cluny dem direkten Schutz des Papstes und entzog es damit den Einflüssen weltlicher oder geistlicher Gewalten vor Ort. Gleichzeitig verzichtete Wilhelm auf die wirtschaftliche Nutzung seiner Gründung. Lediglich den ersten Abt, Berno, setzte der Herzog selbst ein, die folgenden Äbte wählte der Konvent nach eigenem Willen. Clunys weitgehende wirtschaftliche und politische Unabhängigkeit allein hätte seine Bedeutung in der Folgezeit wohl kaum erklärt. Viel stärker wog der geistige Einfluss, der von Burgund ins damalige christliche Abendland ausstrahlte und der als „Cluniazensische Reform" Eingang in die Geschichtsbücher fand.



Durch die Gründung Clunys kam ein neuer Geist auf. Seine ersten Äbte legten die Regel des Ordensgründers Benedikt von Nursia weit strenger aus als dieser selbst. Sie veränderten die alte benediktinische Forderung des „Ora et labora" (Bete und arbeite) dahingehend, dass in Cluny dem „Ora", also dem Gebet, ein deutlich größerer Anteil des Tagesablaufs eingeräumt wurde als der Arbeit. Die Liturgie, insbesondere das Chorgebet, bekam überragende Bedeutung. Hatte Benedikt in seiner Regel das Beten von 37 Psalmen am Tag vorgeschrieben, so beteten die burgundischen Mönche unter Abt Hugo 215. An eine regelmäßige Handarbeit war angesichts dieser Dimension nicht mehr zu denken: Die Klosterwirtschaft beruhte daher im wesentlichen auf den Pachten und Abgaben jener Bauern und Landarbeiter, die auf und von dem Boden des Klosters lebten.



Liturgie und Karitas



Das Totengedenken nahm in der Liturgie Clunys einen breiten Raum ein. Es war Abt Odilo, der als Tag des Gedenkens an alle Verstorbenen den Allerseelentag einführte. Dieser wurde später von der gesamten katholischen Kirche übernommen. Neben der Liturgie kam die Fürsorge für Arme nicht zu kurz. Die Mönche richteten 12 Wohnplätze, später 18, für Bedürftige ein, die auf Dauer in der klösterlichen Gemeinschaft lebten. Schon in der Gründungsurkunde war darüber hinaus festgelegt, dass die Mönche „nach Möglichkeit des Ortes täglich die Werke der Barmherzigkeit den Armen, Bedürftigen, Fremden, die des Weges daherkämen, und Pilgern mit höchster Anspannung erweisen". Symbolischer Höhepunkt der Armenbetreuung war die rituelle Fußwaschung und Speisung Armer am Gründonnerstag im Anschluss an die „Messe der fremden Pilger".



Erfolgsmodell Reformabtei



Der cluniazensische Weg mit seinen Bausteinen wirtschaftliche und politische Unabhängigkeit, strenge Mönchszucht, Kampf gegen die Verweltlichung des Klosterlebens, besondere Form der Liturgie, des Totengedenkens und der Nächstenliebe, fand großen Anklang in Europa: Zur Blütezeit Clunys gehörten ihm rund 1.200 Klöster mit rund 20.000 Mönchen an. Berühmtester „Ableger" in Deutschland war Hirsau. Erfolg findet Nachahmer. Bald schon gründeten sich neue Orden, die sich häufig noch radikalere Regeln gaben als die Cluniazenser. Besonders in den Zisterziensern erwuchs Cluny starke Konkurrenz.



Mitte des 12. Jahrhunderts verlor die burgundische Abtei an Ansehen, der unaufhaltsame Abstieg begann. Die Französische Revolution versetzte im 18. Jahrhundert dem Orden den Todesstoß: 1791 wurde er aufgelöst. 1810 ließ Napoleon Bonaparte große Teile der Anlage sprengen und verwendete sie als Steinbruch für den Bau eines staatlichen Gestüts.

Zuletzt aktualisiert: 06. Oktober 2016