Stilbildender Meister mit dem Grabstichel

01. Januar 1900

Man ist es gewohnt, die deutsche Kunst auf einen Scheitelpunkt hin zu betrachten: auf Albrecht Dürer. Der Maler und Kupferstecher Martin Schongauer wird hauptsächlich als Vorläufer Dürers gesehen. Er reichte schon fast in die Dürer-Renaissance hinein, blieb aber doch der alten Formensprache der Spätgotik verhaftet, wird gesagt. Und da wird die Gefahr einer Hinordnung einzelner Künstler auf Höhepunkte der Kunstgeschichte deutlich: die jeweilige Eigenart und Größe rückt in den Hintergrund.

Höhepunkt der Spätgotik. Dabei bildet Schongauer in seiner eigenen Zeit selbst den Höhepunkt. Er verband die Tradition der deutschen Malerei mit der neuen niederländischen Kunst, die die Natur in allen Feinheiten nachzuahmen versuchte, und setzte das Gesehene in höchst eigenständige, vollendete Bildschöpfungen von besonderer Innigkeit um. Seine Werke waren auch jenseits der Alpen bekannt und fanden Widerhall in der italienischen, niederländischen und spanischen Kunst.
Frühreif zeigte sich Schongauer in der Malerei. Aus den wenigen Tafelbildern, die uns von ihm überkommen sind, ragt die Madonna im Rosenhag hervor, gleichzeitig das einzige gesicherte Bild, das sogar mit einer glaubhaften Jahreszahl versehen ist: 1473. Das Bild gilt als deutsche Sixtinische Madonna, womit gesagt sein soll, dass es unter den spätgotischen Madonnen den selben Rang einnimmt wie Raffaels berühmtes Bild unter den Renaissance-Madonnen. Blätter, Vögel, Rosenranken sind von größter Feinheit, die Figuren zart und innig im Ausdruck, die Farben klingen voll und leuchten.

Vollendete Schöpfungen. Begehrt sind bis auf den heutigen Tag die Kupferstiche Schongauers. Schon zu seinen Lebzeiten hatten sie ihm Ruhm eingetragen, und sie lagen in vielen Künstlerwerkstätten zur Nachahmung und Fortentwicklung aus. Die Stiche folgen einem sorgfältigen Bildaufbau, der zu einer zuvor nicht da gewesenen spannungsvollen Ausgewogenheit führt, gleich ob Schongauer eine Kreuzigung, eine Heilige, ein Rauchfass, raufende Lehrjungen oder eine Distelranke darstellte. Die Linien und Häkchen hat er mit dem Grabstichel in die Kupferplatte so eingeschnitten, dass Nähe und Ferne herausgearbeitet und Gestalten in Licht und Raum geradezu malerisch ausgeformt sind.
Schongauer suchte eine Vereinfachung, eine Überschaubarkeit der Darstellung, die sich nicht im Kleinteiligen verliert, doch wohl durchdacht ist, was die Zeitgenossen schätzten. Einige Stiche sind so malerisch in ihrer Auffassung, dass es nahe liegt, sie als Ersatz von gemalten Bildern zu begreifen, hergestellt für Kunden, die sich ein gemaltes Bild nicht leisten konnten. Die Große Kreuztragung, den großformatigsten Stich bis dahin, hängten sich möglicherweise Bürger als Andachtsbild über ihren Hausaltar.

Eigenständige Gattung. Schongauer unterzeichnete seine Stiche selbstbewusst, er schnitt die Anfangsbuchstaben seines Namens, dazwischen ein Kreuz mit einem nach unten gebogenen Häkchen an augenfällige Stelle ein: auf die Mittelachse des Bildes am unteren Rand der Platte. All das zeigt, dass Schongauer die Stiche als selbständige Kunstäußerung begriff, der Malerei vollgültig an die Seite gestellt, nicht, wie bisher, ihr untergeordnet.
Kein Wunder, dass Dürer auf seiner Gesellenwanderschaft den weiten Weg zu Schongauer nach Colmar zurücklegte, um dort in der Kunst des Kupferstichs unterwiesen zu werden. Doch er traf den Meister nicht mehr an. Im Alter von erst gut vierzig Jahren war er 1491 vermutlich an der Pest gestorben.

Inspirationsquelle Holland. Das Geburtsdatum Schongauers ist keineswegs gesichert. Man nimmt das Jahr 1450 an. Die Familie stammte aus Schwaben, der Vater war aber um 1440 nach

Colmar gezogen.  In dessen Goldschmiedewerkstatt hat Schongauer wahrscheinlich, gleich seinen Brüdern, gelernt. Kurze Zeit war Schongauer an der Leipziger Universität eingeschrieben. Seine Wanderschaft führte ihn ins Burgundische und in die Niederlande. Ihn beeindruckte vor allem die Strenge in Bildaufbau und Figurenauffassung eines Rogier van der Weyden, aber auch der lyrische Dieric Bouts. Nach Spanien, wie lange angenommen, dürfte Schongauer aber nicht gekommen sein. Endgültig hat er sich dann in Colmar niedergelassen.

Offene Fragen. Mit 116 Stichen ist das ganze Druckwerk Schongauers wohl vollständig erhalten. Kopfzerbrechen bereitet bis heute die zeitliche Einordnung, denn kein Werk ist mit einer Jahreszahl versehen und der Stil lässt keine sicheren Entwicklungslinien erkennen. Manche reden von früher Vollendung und einer Erstarrung im späteren Werk. Aber Schongauer ist zu früh gestorben, als dass man erkennen könnte, wie eine so große Begabung mit den bald aus Italien nach Norden kommenden Neuerungen umgegangen wäre.

 

  

 

 

Zuletzt aktualisiert: 06. Oktober 2016