Terror und Trümmern zum Trotz - eine Geschichte der Hoffnung

24. Februar 2017 | von

Aleppo, Syrien – eine der faszinierendsten Städte des Orients. Ihre Altstadt gilt als Weltkulturerbe. Die mittelalterliche Zitadelle und die Moschee prägen das Bild dieser Stadt, in der die Geschichte von Yudit und Loie beginnt.

Im Sommer 1999 hängt für Yudit und Loie der Himmel voller Geigen. Vor ihnen liegt eine gemeinsame Zukunft: „Wir wollten unsere Familie auf christlichen Grundlagen aufbauen und träumten davon, viele Kinder zu bekommen.“ Es ist Loie, der erzählt. „Aber bereits nach einem Jahr wurde deutlich, dass sich unser Kinderwunsch aus medizinischen Gründen nicht verwirklichen ließ. Es war ein Schlag! Wir waren doch so bereit, neues Leben zu schenken. Gemeinsam fühlten wir aber auch, dass Gott uns in diesem Schmerz  etwas sagen wollte.“ Yudit fährt fort: „Nach einiger Zeit verstanden wir, dass wir unsere Liebe für die Menschen, die uns umgeben, verdoppeln konnten. Loie ist zum Beispiel verrückt nach Kindern, und so begann er, eine Kindergruppe zu betreuen.“ „Und hier habe ich eine erstaunliche Erfahrung gemacht“, sagt Loie lächelnd. „Mit den Kleinen spielten wir viel und wir sprachen auch über Gott. Es wuchs eine tiefe Beziehung zwischen uns. Vielleicht habe ich da zum ersten Mal verstanden, was es bedeutet, die geistige Vaterschaft zu leben.“
Das junge Ehepaar öffnete sich immer mehr den Menschen in seiner Umgebung. Christen und Moslems gehörten zu ihrem schnell wachsenden Freundeskreis. Gemeinsam vertrauten sie Gott stets aufs Neue den Wunsch nach eigenen Kindern an. Und dann geschah das Unglaubliche. Nach sechs Jahren Ehe wurde Ioab geboren und zwei Jahre später Djamila. Yudit sagt: „Die Kinder sind für uns das Hundertfache, das das Evangelium denen verspricht, die auf Gott vertrauen.“

Gott hat stets etwas Neues zu sagen
„Aber dieser Gott hat uns immer wieder etwas Neues zu sagen“, fährt Loie fort. „Als Ioab zweieinhalb war, merkten wir, dass mit ihm etwas nicht stimmte. Er sprach nicht und hatte auch motorische Probleme. Mit Hilfe unserer Familie und unserer Freunde versuchten wir alles, um seine Situation zu verbessern: Jemand sorgte für die Physiotherapie, eine Freundin war Logopädin.“ Doch mit dem beginnenden Krieg wurde die Belastung irgendwann zu groß. Yudit und Loie waren erschöpft. Für einen Monat machten sie Ferien im Libanon. „Das war im Juli 2012“, erinnern sie sich. „Wir sind nie mehr nach Syrien zurückgekehrt.“
Die Sorge um Eltern, Verwandte, Freunde und die Angst vor der Zukunft ließen die Erschöpfung der Familie noch zunehmen. Oft trafen sich Yudit und Loie mit anderen syrischen Flüchtlingsfamilien zum Gebet um den Frieden in der Heimat. In der Gemeinschaft wurde der Schmerz kurzfristig erträglicher. „Drei Jahre lang hofften wir, wieder nach Hause zu können. Aber der Krieg breitete sich immer mehr aus und verwandelte unser blühendes Land in ein Trümmerfeld. In uns wurde alles dunkel und oft schrie ich innerlich: Warum?“ 
Irgendwann ergab sich schließlich die Möglichkeit zur Flucht nach Belgien. Yudit und Loie dachten an die Zukunft ihrer Kinder. „Unterwegs brachte man uns in ein Lager. Am Ende eines langen Korridors wies man uns einen Raum zu. Die Wände waren schwarz gestrichen. Die kleine Djamila begann zu weinen: Warum müssen wir hier sein? Es war die Hölle.“ Vor den Kindern ließen sich die jungen Eltern nichts anmerken, aber wenn sie allein waren, verloren sie oft die Fassung. Alles schien verloren. Hatte Gott, dem sie ihr Leben anvertraut hatten, sie vielleicht doch verlassen? Die Worte Jesu, die eine geheimnisvoll-abgründige, innere Dimension seiner Passion zum Ausdruck brachten, fanden auf einmal einen zuvor ungekannten Widerhall in ihrem Leben: „Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?“ (Mt 27,46). 

Wo bist Du?
„Ich bin Ärztin und wollte wieder in meinem Beruf arbeiten.“ Yudit kämpft bei der Erinnerung an die Erfahrung mit den Tränen. „Ich dachte, dass uns dies die Integration erleichtern und uns finanziell unabhängig machen würde.“ Belgien verlangte eine Qualifikation. Die Zusatzprüfung war für Yudit zu schwer. Sie fiel durch. „Da bin ich noch einmal abgestürzt. Ich saß in einer Kirche und haderte mit Gott. Ich schrie innerlich: Wo bist Du? Warum sehen wir nur Tod? Wo ist die Auferstehung, die Du versprochen hast?“
Yudit hält kurz inne, besinnt sich und spricht dann weiter: „Da war es plötzlich, als ob sich Gott mir zuwendet. Ich verstand: Ja, die Auferstehung findet statt. Ich sehe sie wahrscheinlich nur nicht. Vielleicht wird gerade im Moment meines größten Schmerzes ein Kind in den zerbombten Trümmern der Stadt Aleppo geboren oder eine Mutter gerettet, die tagelang verschüttet war.“ 
Loie nimmt die Hand seiner Frau und lächelt ihr zu, als er nochmal nachdrücklich wiederholt: „Gott hat uns immer wieder etwas Neues zu sagen. Gemeinsam versuchen wir, auf seine Stimme zu hören und seinem Willen zu folgen.“ Und nach einer kleinen Pause endet er: „Es ist ein beständiges Neubeginnen, jeden Tag, jeden Augenblick. Aber so wächst eine Hoffnung, die unzerstörbar ist, weil sie gerade in den Momenten der Verzweiflung und Ausweglosigkeit immer neu geboren wird. Sie erschließt stets aufs Neue einen Weg – vom Tod zur Auferstehung. Es ist die Hoffnung auf Frieden, den Frieden Gottes, der uns eines Tages alle als Schwestern und Brüder miteinander verbinden wird...“

Zuletzt aktualisiert: 12. März 2017
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