Trauer tragen

25. Oktober 2006 | von

Im November wird traditionell der Toten gedacht. Aber ist Trauern noch gesellschaftsfähig? Wenn der Mensch nicht weinen darf, wird er krank. Doch Heilung beginnt damit, den Schmerz zuzulassen und ihn auszuhalten. Bei dieser schwierigen Herausforderung brauchen Trauernde Wegbegleiter, die ihnen Halt und Hilfe bieten.

Der Tod des Partners, aber auch die Trennung von einer langjährigen Freundin, der Verlust des Arbeitsplatzes, der Umzug in ein Seniorenheim – in unserem Leben erfahren wir immer wieder Verluste und Abschiede. Sie lösen viele, oft sehr heftige, Reaktionen aus. Werden die zugelassen, dann sind Menschen in der Lage, diese Verluste zu verarbeiten, sich der neuen Lebenssituation anzupassen und eine neue Lebendigkeit zu entwickeln. Sie reifen als Persönlichkeit.
Trauer ist wegen des häufigen Abschiednehmens ein ständiger Lebensbegleiter und eine ständige Lebensaufgabe. Viele Menschen durchleben ihre Trauer ohne große Probleme, auch wenn dieser Prozess oft mehrere Monate oder gar Jahre dauert. Ein geringes Maß an Unterstützung kann dabei hilfreich sein. Werden die schmerzlichen Gefühle jedoch nicht zugelassen, so können körperliche und seelische Erkrankungen die Folge sein. Trauer kann krank machen, aber Trauer ist keine Krankheit, sondern vielmehr eine angemessene, gesunde Antwort auf die erlebten Veränderungen.

Totgeschwiegen. Der einschneidendste Abschied ist der Tod eines Menschen, vor allem des Lebenspartners. Für die Hinterbliebenen kann er den völligen Zusammenbruch der bisherigen Welt zur Folge haben. Das alltägliche Leben verändert sich: Plötzlich sieht man sich einer Vielzahl von Aufgaben gegenüber, die bis dahin der Verstorbene wahrnahm, wie Wäsche waschen oder einkaufen gehen, Behördengänge machen oder Reparaturen vornehmen. Man vermisst die gewohnten Gespräche. Keiner ist mehr da, der Zärtlichkeit gibt und dem man Zärtlichkeiten geben kann. Ebenso fehlt der Sexualpartner. Zukunftspläne zerbrechen, Finanzielle Probleme können auftreten, oder der Hinterbliebene findet sich in der Rolle eines Alleinerziehenden wieder.
Auch verändert sich die Beziehung zur Umwelt. Freunde brechen den Kontakt ab oder sprechen über alles, nur nicht über den Verstorbenen, wie diese Aussage einer Witwe bestätigt: „Warum spricht meine Umwelt nicht gerne über ihn? Dieses Schweigen ist für mich unerträglich.“ Manchmal zeigt sich, dass Freundschaften nicht so eng waren, wie man vorher dachte, was neue Trauer und Einsamkeit auslöst. Schmerzlich empfindet eine Trauernde, dass sie plötzlich als Gefahr für die Ehe von Freunden betrachtet wird: „Bis zum Tod meines Mannes waren wir mit Gerd und Maria eng befreundet; wir begrüßten uns immer mit Umarmung; oft gingen wir zusammen tanzen. Nach seinem Tod umarmte Gerd mich nicht mehr, und als ich nach einiger Zeit mit zum Tanzen ging, da schaute Maria ganz verärgert, als Gerd mit mir tanzte, was früher kein Problem war. Seither bin ich nicht mehr zum Tanzen gegangen.“

Lästig und belastend. Es fällt also auf: Obwohl jeder Mensch immer wieder selbst um etwas trauert, ist es für viele schwierig, mit Trauernden umzugehen.
Zunächst ist dies ein allgemeiner Trend. Dass das Durchleben von Trauer eine förderliche Seite hat, wird heute kaum gesehen. Im Gegenteil: In den vergangenen 50 Jahren hat sich der gesellschaftliche Umgang mit Sterben, Tod und Trauer dahingehend verändert, dass man von einer „Trauervermeidungskultur“ sprechen kann. Das soziale Umfeld, in dem Trauer ausgelebt werden kann (zum Beispiel die Großfamilie, die Dorfgemeinschaft oder Nachbarschaft), ist weitgehend verschwunden. Ferner ist eine Vielzahl von Ritualen verloren gegangen. So werden oft Beerdigungen im engsten Familienkreis gewünscht, die Zahl der anonymen Bestattungen nimmt zu, das traditionelle „Trauerjahr“ und die damit verbundenen Kleidervorschriften gelten als antiquiert. Es entsteht der Eindruck, dass Trauer peinlich geworden ist. Trauernde ziehen sich zurück, um ihrer Umwelt nicht mit der Gewalt ihrer chaotischen Gefühle zur Last zu fallen.
Und leider ist dies eine nicht seltene Erfahrung: Mit dem Bedürfnis, immer wieder von ihrem verlorenen Menschen zu erzählen, gelten Trauernde als lästig. Sie erleben, dass sie nicht mehr eingeladen werden, dass die Besuche oder telefonischen Kontakte abbrechen oder dass sie aufgefordert werden, so schnell wie möglich zur „Normalität“ zurückzukehren. So erzählt eine 32jährige Frau, die ihren Verlobten durch einen Herzinfarkt verloren hat, dass selbst ihre „beste“ Freundin sagte: „Hör endlich mit dem Rumgeheule auf!“

Seelische Achterbahn. Diese Reaktionen sind in der Regel nicht böswillig, sondern hängen damit zusammen, dass sich das Umfeld eines Trauernden hilflos und überfordert fühlt. Die Gefühlsschwankungen, die „seelische Achterbahn“, sind für manch Außenstehenden schwer zu ertragen. Solch eine Situation wird lieber gemieden. Sie kratzt am eigenen Selbstbild, alle Situationen des Lebens unter Kontrolle zu haben. Und das löst Angst aus. Gerade das Eingeständnis der eigenen Ohnmacht wäre aber eine angemessene Weise, einem Trauernden beizustehen.
Einem Anderen fällt der Umgang mit Trauernden schwer, weil er durch dessen Verlust die eigene Endlichkeit erlebt. Er sieht deutlich, dass auch er sehr leicht in eine ähnliche Situation geraten kann. Man sieht Tod und Trauer als Feind der Menschen, die doch schön, gesund, erfolgreich, glücklich und langlebig sein wollen.
Wieder andere Menschen sind sehr stark von Gefühlskontrolle geprägt. Das offene Zeigen der Trauer gilt ihnen als Schwäche. „Der lässt sich aber gehen!“, wird kommentiert. Auch wenn dies dem Hinterbliebenen nicht ins Gesicht gesagt wird: Der Trauernde spürt dennoch den Druck, funktionieren und Haltung bewahren zu müssen. Nur wem dies gelingt, der erfährt Zustimmung und Bewunderung. Der Preis dafür ist, den natürlichen und notwendigen Prozess zu unterdrücken.

Auch Jesus weint. Ein Druck anderer Art kommt nicht selten von religiösen Menschen. Diese verweisen darauf, dass der Verstorbene doch nun erlöst sei. Trauer wird als zu geringer Glaube an die Auferstehung ausgelegt, so dass sich Trauernde einer (eigenen oder fremden) Erwartungshaltung gegenüber sehen, ihre Gefühle zu unterdrücken.
Der christliche Glaube verharmlost aber nicht das Leid der Menschen und vertröstet nicht, sondern er bietet eine Deutung an und kann helfen, mit diesem Leid umzugehen. Somit kann er Trost spenden, sollte aber nicht mit Erwartungsdruck vorausgesetzt werden.
Ein Blick auf das Verhalten Jesu kann dabei eine Anleitung zum guten Umgang mit Trauer und Trauernden geben. Betrachten wir zwei bekannte Stellen aus den Evangelien unter dieser Perspektive, zunächst den Tod des Lazarus (Joh 11). Damals wie heute gilt: Der Tod eines Menschen stößt die bisherige Sinndeutung der Hinterbliebenen um und löst Fragen aus, in diesem Falle Martas Frage nach Gottes Hilfe. Jesus gibt Marta zunächst eine Antwort aus dem Glauben, mit der er den Tod des Lazarus deutet und auf die Auferstehung der Glaubenden hinweist, und Marta bekennt diesen Glauben. Mit der Gestalt ihrer Schwester Maria kommt aber die Tatsache in Blick, dass ein Bekenntnis zur Auferstehung nicht vorbei an der schmerzlichen Realität des Verlustes, nicht ohne Abschiedsschmerz geht. Auch Jesus, der zunächst völlig distanziert über den Tod seines Freundes spricht (vgl. Joh 11,11-15), muss sich diesen Emotionen stellen und beginnt zu weinen.

Trauerbegleitung. Eine weitere interessante Erzählung ist die Emmaus-Perikope (Lk 24,13ff), in der Jesus als „Trauerbegleiter“ gezeigt wird. Auch hier wird deutlich, dass der Tod eines Menschen den Verlust des bisherigen Lebenssinns bedeutet und Fragen auslöst. Die beiden Jünger verfallen aber nicht in Schweigen, sondern reden über all das, was geschehen ist. Der Auferstandene, der hinzutritt, eröffnet den Jüngern nochmals den Raum zum Erzählen, er hilft ihnen, ihre Gedanken und Gefühle neu zu ordnen, und erst anschließend deutet er das Geschehene.
Jesus gibt also ein Beispiel für den Umgang mit Trauernden: Er zeigt seine eigenen Gefühle und er lässt die Trauernden erzählen. Schließlich bietet er Deutungen aus seinem Glauben an. Hier liegen wichtige Hinweise für unseren Kontakt mit Trauernden, sei es in der Familie, im Freundeskreis, an der Arbeitsstelle, in der Gemeinde.
Trotz aller oben genannten Schwierigkeiten sollten wir der Aufgabe, Trauernde zu trösten, nicht aus dem Weg gehen. In den letzten Jahren ist ein hochprofessioneller Markt entstanden mit Trauergruppen, Reisen für Trauernde, kreativen Angeboten und ähnlichem. Kommerzielle Anbieter haben eine große Zahl von Mitarbeitern, die sich auf diesen Arbeitsbereich beschränken. Auch im Internet gibt es Hilfe, zum Beispiel unter www.verwitwet.de. Aber jeder einzelne ist gefragt und sollte sich nicht abschrecken lassen. 

Ohnmacht des Leidens. Trauernde erwarten von Trauerbegleitung nicht in erster Linie Antworten oder Ratschläge, sondern sie wollen sich verstanden erleben; sie suchen einen Mitfühlenden. Und sie suchen dieses Mitfühlen nicht zuerst bei Profis, sondern bei Menschen, die ihnen nahe stehen. Sie suchen Menschen, die die Ohnmacht des Leidens gemeinsam mit ihnen aushalten. Wenn Trauernde immer wieder von ihrem Verlust erzählen können, ist es ihnen möglich, durchdenkend und nacherlebend den Verlust aufzuarbeiten. Die Trauernden finden im Prozess des Erzählens heraus, „wer sie unter den veränderten Umständen sind beziehungsweise sein wollen“. Durch Annahme und Wertschätzung wird es ihnen möglich, die Wirklichkeit des Verlustes und die ihres veränderten Lebens anzunehmen.
Hier bekommen auch die Kirchengemeinden eine Aufgabe: Traditionell zählen die Geistlichen zu den Trauerbegleitern und werden heute noch selbst dann gefragt, wenn der Verstorbene oder seine Familie wenig Kontakt zur Kirche hat. Allerdings haben Pfarrer in den großen Seelsorgeeinheiten heutzutage so viele andere Aufgaben, dass für eine intensive Trauerbegleitung wenig Zeit bleibt. Hinzu kommt für die Seelsorger: In solchen stressvollen Situationen fällt es nochmals schwerer, sich der eigenen Ohmacht zu stellen, die Todesfälle und die Begleitung Trauernder natürlich auch bei Geistlichen auslösen. Hier ist die Gemeinde als Ganzes gefragt.

Raum für Tränen. Wir betrachten es als eine bedeutende Aufgabe der Kirche in unserer Gesellschaft und für unsere Gesellschaft, daran mitzuwirken, dass Menschen Raum und Unterstützung für ihre Trauer bekommen. Dazu gehört auch, ihnen dabei zu helfen, trotz des Verlustes Sinn zu erleben und dieses Erleben religiös zu deuten. Den Trauernden sollte ermöglicht werden, all ihre Gefühle, auch Wut und Enttäuschung gegenüber Gott und den Menschen, ausdrücken zu dürfen. Kann der andere dies aushalten ohne zu beschwichtigen, so erleben die Trauernden Halt und Annahme. Mit der Erfahrung begleitet zu werden erleben sie in ihrer Trauer einen neuen Sinn. Und wenn sie ein Gespür dafür haben, erfahren sie im Mitgehen der Mitmenschen das verborgene Mitgehen Gottes.
Es wäre ein falsches Zeichen, wenn in unseren Gemeinden Trauerbegleitung nicht mehr praktiziert, sondern an kommerzielle Profis abgegeben würde. Dass ein Mensch bei mir in schweren Zeiten aushält und mir beisteht, darf nicht nur gegen Geld möglich sein. Schlimm wäre es, wenn dies - nicht nur auf Seiten der Seelsorger, sondern der Gemeinden insgesamt - den Grund darin hätte, dass man der Konfrontation mit dem nur schwer Aushaltbaren entgehen möchte.

Beim Kreuz aushalten. Durch die Tatsache, dass Trauer in unseren Gemeinden einen Platz hat oder neu bekommt, können Menschen Mut fassen, selbst zu ihrer Trauer zu stehen. Sie können erleben, dass das, was die Kirche tut, Relevanz für ihr Leben hat.
Nach unserer Erfahrung gibt stößt man dagegen in den Gemeinden auf Widerstände. Denn wenn Trauer einen größeren Raum im Leben der Gemeinde bekäme, hieße dies auch, alle Gemeindemitglieder würden verstärkt damit konfrontiert. Wir haben aber den Eindruck, dass nicht wenige Gläubige am liebsten immer wieder hören möchten, alles sei schön und gut, alles sei nett und einfach. Es scheint, als können oder wollten sie sich nicht mit ihrem Leben und dem Schweren darin auseinandersetzen. Wird diese Auseinandersetzung vermieden, dann wird auch das Kreuz verleugnet, dann wird Glaube nur oberflächlich und realitätsfern. Wir halten es aber für wichtig, dass die Kirche, und das bedeutet jeder einzelne in ihr, ein klares Zeugnis gibt und beim Kreuz aushält.

Zuletzt aktualisiert: 06. Oktober 2016