Tugend kommt von taugen

Nur bürgerliche Fassade? Offensichtlich waren Nietzsches Angriffe gegen die Verformung der Tugenden gerichtet. Als Ausdruck bürgerlicher Wohlanständigkeit waren sie zu Fassaden geworden, waren heruntergekommen zu äußerlich vorgeschriebenen Regeln, aber sozial gültig und bedeutsam, gleichsam als eine Art von Polizeiforderung, durch die das Leben in Ordnung gehalten wird (Robert Musil).
Die große abendländische Tradition sieht in der Tugend jene durch Übung erworbene Fähigkeit und damit jene Tauglichkeit (Tugend kommt wortgeschichtlich von taugen) des Menschen, die ein umfassendes Glücken des persönlichen wie auch sozialen Lebens ermöglicht. Die Tugend wird als die höchste Entfaltung der menschlichen Möglichkeiten angesehen. Es geht um die optimale Entfaltung des Menschseins. Die Tugend verleiht dem Menschen Leichtigkeit, Sicherheit und Freude zur Führung eines sittlich geordneten Lebens. Tugend ist dann eine Haltung, die Qualität der Person selbst und keine Pflicht, die von außen aufgedrängt wird. Tugend im echten Sinne ist nicht das Gesollte, sondern das Gewollte.
Wir brauchen gelebte Haltungen, die angesichts der Probleme der Gegenwart gerade nötig sind und auf ein gelingendes Zusammenleben hinzielen. Sie müssen lebendige Antwort auf spezifische Nöte und Anforderungen unserer Zeit geben.

Sich wahrhaft annehmen. Dieser Tugend begegnen wir weder in den griechischen, noch in den römischen Tugendkatalogen. Wahrhaftigkeit beinhaltet nicht bloß die Bereitschaft, nicht mit Absicht etwas Unwahres auszusagen; sie meint mehr als nur Richtigkeit. Wahrhaftigkeit beinhaltet die Bereitschaft, die eigene Wirklichkeit mit all ihren positiven und negativen Seiten so wahrzunehmen und anzunehmen, wie sie ist.
Mir scheint, dass gerade diese Tugend uns heute angesichts der sozialen und wirtschaftlichen Probleme Not tut, denn sowohl viele Bürger als auch die Mehrzahl der Politiker scheinen sich der Wirklichkeit zu verweigern, das heißt, sie suchen, die eigenen Schwächen und Schattenseiten und die unseres Gemeinwesens zu verstecken. Dabei gibt es keinen Fortschritt beziehungsweise Therapie ohne gründliche Bestandsaufnahme. Wahrhaftigkeit beinhaltet ferner das Stehen zur eigenen Wahrhaftigkeit in Wort und Rede, schafft Vertrauen und Achtung voreinander. Ohne gegenseitiges Vertrauen und ohne Treu und Glauben ist Gemeinschaftsleben auf Dauer unmöglich. Wo einer die Aussage des andern anzweifelt, anzweifeln muss, kann ein sinnvolles Miteinander nicht gelingen.  Das gilt für die kleineren Gemeinschaften der Freundschaft, der Ehe und der Familie ebenso wie für die größeren Gemeinschaften der Gemeinde, der Kirche und des Staates.

Leben nach Maß. Eine andere Grundgestalt der traditionellen Kardinaltugend ist die temperantia. Die Rede von Mäßigung klingt allzu verneinend und einengend. Am ehesten läßt sich die Bedeutung mit dem Wort Maß umschreiben. Es geht um das menschengerechte Maß, um die innere Ordnung des Menschen, die ja nicht statisch vorgegeben, sondern in freier Verantwortung zu gestalten ist.
Das Haben-Wollen ist eine Grundtendenz im menschlichen Leben. Sie hat sich in den letzten Jahrzehnten kräftig entwickelt. Wir meinen, wenn ich dies und jenes habe, bin ich glücklich. Wir denken, so sei das Leben zu gewinnen. Wie arm sind wir, dass wir immer noch mehr haben müssen! Mit dem Haben gerät das Leben unter die Herrschaft der Kalkulation und Berechnung. Wenn das Haben zum Ziel des Lebens wird, dann meint der Mensch, er sei umso mehr wert je mehr er hat. Also setzt er alles daran, mehr zu haben. Seine Sehnsucht nach Leben pervertiert zur Sucht nach Haben, zur Hab-Sucht. Dann ist er schließlich ganz gefangen von den Dingen. Er hat nicht mehr Geld, das Geld hat ihn. Er besitzt nicht mehr, sondern er ist besessen (nicht Besitzender, sondern Besessener). Unsere Gesellschaft hat Scharen Besessener hervorgebracht: Abhängige, sagen wir, also Unfreie. Das Neue Testament bezeichnet die Hab-Sucht als Götzendienst (Eph 5,5; Kol 3,5).

Immer mehr? Im Umfeld unserer Konsum- und Erlebnisgesellschaft werden Menschen zudem durch aggressive Werbung manipuliert und in die Maßlosigkeit getrieben.
Nicht vorhandene Bedürfnisse werden durch die Werbung herbeigeführt. Zudem sind die angebotenen Dinge bewusst schnelllebig. Durch gelenktes Modeempfinden ist heute etwas aktuell, morgen schon wieder veraltet oder durch entsprechende Qualitätsvorgaben heute neu und morgen schon wieder kaputt.
Das Grundproblem des Menschen ist dieses: Wie werde ich mit der Angst fertig? Die beste Lebensgarantie, so scheint es vielen, bietet immer noch der Besitz in all seinen Varianten. Er soll die Angst bannen. Tut er das? Vorübergehend vielleicht, aber im Letzten ist der Wettlauf gegen Motten und Rost nicht zu gewinnen.

Entlastung Gottvertrauen. Wenn an der Wurzel des Immer-mehr-haben-Wollens die Angst steht (Heiden-Angst), dann ist diese Haltung letztlich nicht durch Appelle zu ändern, sondern nur so wie Angst zu überwinden ist: durch Vertrauen.

Zivilcourage gefragt. Tugenden sind ohne Zivilcourage, die in moderner Sprache einen Aspekt der Kardinaltugend der Tapferkeit verkörpert, nicht verwirklichbar. Diese Tugend beinhaltet den Mut, für seine Überzeugungen öffentlich einzutreten. Sie schließt eine gewisse Unabhängigkeit vom Urteil anderer mit ein. Gemeinsam geteilte Sinneinsichten sind rar geworden, die Sinnhaftigkeit der Wahrheitssuche wird häufig bestritten, obwohl immer wieder recht deutlich vor Augen steht, was Lüge ist. Deshalb gilt nach wie vor: Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar (Ingeborg Bachmann). In einer Gesellschaft, in der das Einbringen von gelebten Überzeugungen keinen Mut und keine Zivilcourage mehr erfordert, wäre bereits alles gleichgültig und beliebig. In unserer offenen Gesellschaft droht immer die Gefahr, dass der Mensch von Interessen und Interessengruppen vereinnahmt wird. Es gehört großer Mut dazu, gegen die Interessen der Mächtigen die Rechte der Armen und der am Rande der Gesellschaft Lebenden einzuklagen. Die Kirche kennt in ihrer Geschichte viele, die sich aus Tapferkeit engagierten und dies mit dem Leben bezahlen mussten. Trotzdem, oder gerade deswegen gilt:

Einsatz für andere. In dieser Tugend kommt das wechselseitige Verbunden- und Verpflichtetsein der Menschen in Not und Mangelsituationen zum Ausdruck. Wer sich solidarisch verhält sieht die soziale Grundstruktur des Lebens. Durch die Medien ist die Menschheit zusammengerückt. Solidarität gründet zunächst im bereitwilligen Erkennen solcher Situationen und sodann in der Fähigkeit, sich davon auch zuinnerst treffen zu lassen. Sie ist die feste und beständige Entschlossenheit, sich für das Gemeinwohl einzusetzen, das heißt für das Wohl aller und eines jeden, weil wir alle für alle in Verantwortung genommen sind. (Johannes Paul II., Enzyklika Solicitudo rei socialis Nr. 38). Es geht hier um ein Engagement für andere, das auf die je größere ausgleichende Gerechtigkeit abzielt. Solidarität beinhaltet sowohl den gewaltlosen Kampf gegen behebbare Formen und Strukturen der Ungerechtigkeit, als auch die Verbundenheit im Leid bei mitunter nicht veränderbaren Situationen. Sie wird authentisch nur dort gelebt, wo die Bereitschaft gegeben ist, auch persönliche Nachteile in Kauf zu nehmen. Die Tugend der Solidarität erinnert an die Grundformel der Ethik, Die Tugend der Solidarität erinnert an die Grundformel der Ethik, die so genannte Goldene Regel, die lautet: Was du nicht willst, das man dir tut, das füg‘ auch keinem andern zu. In der Bergpredigt hat Jesus formuliert: Alles, was ihr also von anderen erwartet, das tut auch ihnen. (Mt 7,12).
Wirkliche Solidarität führt auch zu einer Ehrfurcht vor der Schöpfung. Sie sieht deren Eigenbedeutung und verhindert ihre schonungslose Ausbeutung. Die Ehrfurcht, so Romano Guardini, ermutigt alles zu sich selbst. Wir können nicht fortfahren, die Schöpfung als bloßes Material anzusehen, das uns Menschen zur Verfügung steht, um von uns beurteilt und klassifiziert, ausgebeutet und verwendet zu werden.

Fundament Liebe. Wenn die Tugenden in Gott ihre Begründung haben, ist damit eine Letztbegründung geliefert und sie führen auch nicht zu menschlicher Überforderung. In und vor Gott gelangt der Mensch zur Verwirklichung seiner selbst. Er entdeckt, dass die Tugenden erst durch Gott ihre eigentliche Richtung und Verwurzelung finden und ihre gemeinsame Heimat in der Liebe liegt. Die Liebe ist daher bei allen großen Denkern des Abendlandes das formende Prinzip und Fundament aller Tugenden, denn ohne sie wäre alles nichts (vgl. 1 Kor 13). Die Liebe aber ist Gott selbst. Der Mensch darf wissen, dass die letzte Erfüllung seines Tugendbemühens ein Geschenk Gottes ist.
Es bleibt die große Frage: wie sind die Tugenden zu vermitteln? Wie kann das Gesagte umgesetzt werden? In den Kirchen gibt es ein Gebet, das lautet: Herr erneuere deine Kirche und fange bei mir an. Das Gleiche gilt für die Gesellschaft. Tugenden können nicht verordnet werden. Deshalb beginnt die Umsetzung damit, dass der Einzelne diese Haltungen praktiziert.
Übungsfelder sind die Familien, Schulen, Verbände, Vereine, Kirchen, Gewerkschaften, Bildungshäuser, kurz: alle Bereiche, in denen Bildung vermittelt wird.