Unterwegs zur wahren Heimat

25. Februar 2004 | von

“Ultreia“ - der anfeuernde Ruf der Pilger nach Santiago de Compostela erlebte in den vergangenen Jahrzehnten eine erstaunliche Renaissance. “Auf nach Santiago“, das ist das Motto vieler Menschen. Mögen sich ihre Motive auch von denen ihrer mittelalterlichen Vor-Gänger unterscheiden, das Beten mit den Füßen fasziniert und verändert sie heute genauso wie vor tausend Jahren.  

Was bewegt die Menschen dazu, sich auf einen mehr oder minder beschwerlichen Weg zu machen – hin zu einem “heiligen“ Ort?  Sind es heute andere Auslöser und Motive als zu Beginn der Wallfahrten?
Die Spurensuche sollte in der eigentlichen Blütezeit des Pilgerns beginnen: im Mittelalter. Damals gab es vor allem drei große Pilgerziele: Jerusalem, Rom und Santiago de Compostela. Peregrinatio – so das lateinische Wort für das, was wir heute Pilgern nennen, doch genauer übersetzt heißt es “in die Fremde gehen“ und ein peregrinus ist ein Mensch, der in der Fremde weilt. Damit ist ein erster Zugang zum mittelalterlichen Pilgerwesen möglich. Der Mensch empfand sich in seinem weltlichen Dasein als ein Fremder, sein Leben eingespannt zwischen Geburt und Tod war für ihn ein Pilgerweg auf Gott hin, ein in der Sein in der Fremde, fern von der eigentlichen Bestimmung des Menschen, seinem Dasein bei Gott. Die religiös motivierte Pilgerfahrt war nichts anderes also als ein körperlicher und augenscheinlicher Ausdruck seines gesamten Lebens. “Wisset, dass ihr Pilger seid auf dem Wege zum Herrn“, so bringt es Augustinus auf den Punkt und formuliert damit das Lebensverständnis eines ganzen Zeitalters. Sich auf den Weg zu machen, das Vertraute gegen das Fremde, die Gewissheit gegen die Ungewissheit einzutauschen, sich Gefahren auszusetzen war symbolischer Ausdruck des ganzen Lebens. Eingebettet in eine solche grundlegende Lebensvorstellung lassen sich dann durchaus unterschiedliche Motive und Gründe festmachen, die Menschen zur Pilgerreise veranlassten. Sei es als Strafwallfahrt, ein durchaus übliches Verfahren im Mittelalter, das Missetäter per Gerichtsurteil “auf die Reise schickte“, sei es als freiwillige Bußübung, von der sich der Pilger die Vergebung seiner Sünden erhoffte. Daneben trieb die Hoffnung auf ein Wunder, zum Beispiel Heilung von einer Krankheit, die Menschen zur Pilgerreise, aber auch die Erfüllung eines Gelübdes oder “einfach“ die Verehrung eines bestimmten Heiligen. Typisch für das Mittelalter war sicherlich die bezahlte Pilgerreise, bei der sich eine Art Berufspilger sich stellvertretend für einen (eher wohl betuchten) Mitmenschen auf die Reise machte.
 
Ziel Himmlisches Jerusalem. Doch auch ganz profane Abenteuerlust, Neugier auf fremde Länder und der Versuch, den tristen Alltag einmal hinter sich zu lassen, mögen auch schon im Mittelalter Beweggründe für eine Pilgerreise gewesen sein. Denn abenteuerlich war eine solch weite Fahrt in diesen Zeiten allemal. Die Nahwallfahrt zu Orten, die man vielleicht in ein, zwei Tagesreisen erreichen konnte, entstand erst in späteren Zeiten.
Für Jerusalem sind seit frühester Zeit Pilgerreisen verbürgt. Bereits seit Anfang des 4. Jahrhunderts war es, mit zunehmender Tendenz, Ziel solcher Pilgerfahrten, die auch durch die arabische Eroberung Palästinas im 7. Jahrhundert nicht versiegten. Dabei lag für Mitteleuropäer dieser Zeit Jerusalem fast unerreichbar weit weg und mit seinem Namen verbanden sie nicht nur eine Reise zu den Wirkstätten Jesu und seinem Grab, sondern vor ihrem inneren Augen entstand zugleich das Bild vom Himmlischen Jerusalem. Die Reise dorthin war also auch ein Weg zu einer Art endzeitlichem Ort. Jerusalem, so heißt es bei Jesaja, ist das Ziel der großen Pilgerfahrt der Völker, der Mittelpunkt des kommenden messianischen Reiches (Jes 2. Kap).
  Aus heutiger Sicht fällt es vielleicht schwer, sich in die Psyche eines Menschen beispielsweise des 11. oder 12. Jahrhunderts hineinzuversetzen. Aber die seelischen Mechanismen in einer Umwelt, in der der Glaube das ganze Leben der Menschen bestimmte, waren mit Sicherheit andere als heutzutage. Allein der Klang des Wortes “Jerusalem“ muss in den Menschen der damaligen Zeit andere Bilder und Assoziationen erzeugt haben als heute, wo vielleicht eher Krieg und Konflikt ins Bewusstsein kommen.

Pilgerzentrum Rom. Rom war ein weiteres wichtiges Pilgerziel, was mit den dort vermuteten Gräbern der beiden großen Apostel Petrus und Paulus zu tun hat, mit deren Besuch man die Verehrung der Heiligen zum Ausdruck brachte. Darüber hinaus gelangte man natürlich mitten ins Zentrum der Christenheit, an den Sitz des Papstes. Hier deutet sich auch noch ein anderes mittelalterliches Pilgermotiv an: die politische Wallfahrt, zu der sich Fürsten, Kaiser und Könige oder Bischöfe aufmachten, um ihre politischen Vorlieben und Verbundenheiten zum Ausdruck zu bringen. Es ist unabdingbar, sich bewusst zu machen, dass in diesen Zeiten weltliche und religiöse Macht untrennbar miteinander verbunden waren. Die Frage und die Auseinandersetzung darüber, wer denn nun letztlich Herr dieser Welt sei, durchzieht das gesamte Mittelalter, und so lassen sich auch Religion und Politik oft nur schwer von einander abgrenzen.

Am Ende der Erde. Neben diesen beiden berühmten Orten der Christenheit, Jerusalem und Rom, gewann Santiago de Compostela eine ebensolche Faszination und übertraf sie zu Zeiten sogar. Der Legende nach wurde der heilige Jakobus am Berge Sinai begraben und, als dort im 7. Jahrhundert Sarazeneneinfälle drohten, bis ans Ende der damals bekannten Welt gebracht. Das führerlose Boot landete mit dem Sarg in Finis terrae oder, wie es heute heißt, Cap Finisterre in Nordwest-Spanien. Der Überlieferung zufolge begrub man ihn auf einem Feld. Dort entdeckte etwa hundert Jahre später ein Hirte, von einem Licht oder Stern angezogen, das Grab des Heiligen. Eine Legende, der die Stadt Santiago de Compostela ihren Namen verdankt: Santiago bedeutet Heiliger Jakobus und Compostela stammt vom lateinischen campus stellae, Stern über dem Feld.
Woher rührt nun die Begeisterung der Menschen für dieses Apostelgrab? Die Araber, von den Spaniern auch Mauren genannt, hielten unter der Fahne Mohammeds Südspanien besetzt. Mit der Auffindung des heilige Jakobus hatten die Spanier nun ein eigenen Patron und zogen in seinem Namen gegen die islamischen Heere ins Feld. So gewann der heilige Jakobus den Beinamen Matamoro, Maurentöter, und entwickelte sich zu einer Art Hoffnungsträger in einer Zeit, in der die Menschen sich vom Islam bedrängt fühlten. Eine sehr martialische Auslegung des Christentums, aber auch dies ist Ausdruck einer Zeit, in der Religion und Weltmacht für viele kein Widerspruch waren.

Beschwerlich und gefährlich. So strömten immer mehr Menschen nach Santiago, Pilgerwege und Hospize entstanden, Pilgervereine und sogar Pilgerführer. Der heilige Jakobus mit dem Zeichen der Muschel wurde auf diese Art zum Pilgerheiligen schlechthin. Und einen solchen benötigten die Menschen damals auch, denn Pilgern war beschwerlich und vielerlei Gefahren drohten am Wegesrand. Das Liber Sancti Jacobi aus dem 12. Jahrhundert warnt vor allerlei Missständen und Schlechtigkeiten, denen sich die Pilger ausgesetzt sahen, und dies sicherlich nicht nur auf St. Jakobs Straßen. Abzocker, Wegelagerer, Betrüger, welche die Unkenntnis der Reisenden ausnutzen, und Geschäftemacher bedrohten die Pilger. So beklagte manch Reiselied derlei Unbill auf den Reisen. Der Jakobston erzählt auf seine Weise von der Ausstattung der mittelalterlichen Pilger und den Gefahren auf dem Weg:

wer das ellend bawen will (Wer das Elend bauen will, heißt: in die Fremde gehen will)
der heb sich auf und sei mein gsel
wol auf Sant Jacobs strassen
 
zwei par schuch der darf er wol
ein schüssel bei der flaschen
ein breiten hut den sol er han
und on mantel so er nit gan
es schnei, es regn es wehe der wind
dass in die luft nicht netzet

sow ziehn wir durch das Schweizerland ein
sie heissen uns gotwilkum sein
und geben uns ir speise
sie legen uns wol und decken uns warm
die strassen tun sie uns weisen.

so ziehen wir durch Soffeien (Savoyen) hinein
man geit uns weder brot noch wein
die säck stehn uns gar läre
wo ein bruder zu dem andern kommt
der sagt im böse märe.

Die wahre Heimat. Der Autor dieses Liedes hatte wohl so seine eigenen Erfahrungen mit den Bewohnern von Savoyen gemacht, vor denen er warnt, dafür aber preist er die Schweizer, die ihm anscheinend gastfreundlich begegnet waren. Interessant jedenfalls die Ausstattung der Pilger: zwei Paar Schuhe, ein Mantel und Hut, Schüssel und Flasche. Für heutige Verhältnisse wirklich eine Minimalausrüstung, denn weder Handy noch EC-Karte waren für einen Notfall bereit. Die mittelalterlichen Menschen lebten natürlich auch in der Heimat ohne solch moderne Absicherungssysteme, wie wir sie heute schätzen. Aber auch für einen Menschen dieser Zeit war es eine Herausforderung, sich mit leeren Händen in die Fremde zu begeben, und viele sahen ihre Heimat auch niemals mehr wieder. Sie starben im fernen Land. Ende einer Pilgerreise und doch gerade für die Menschen des Mittelalters der Anfang des Eigentlichen: seine Heimat bei Gott gefunden zu haben.

 

 


 

Zuletzt aktualisiert: 06. Oktober 2016