Verzaubert in der Jugend grünem Tale...

01. Januar 1900 | von

“Zwischen Bremen und Neapel, zwischen Wien und Singapur, habe ich manche hübsche Stadt gesehen, Städte am Meer und Städte hoch auf Bergen ... Die schönste Stadt von allen aber, die ich kenne, ist Calw an der Nagold, ein kleines, altes, schwäbisches Schwarzwaldstädtchen.”Nun, in die Liste der weltweit beliebtesten Städteziele wird man den durchaus pittoresken Ort wohl kaum einreihen. Dass er dennoch jährlich Besucher aus vielen Ländern anzieht, ist nicht zuletzt dem Mann zu danken, der Calw so enthusiastisch beschrieb: Hermann Hesse, der hier vor nunmehr 125 Jahren geboren wurde.

Jubiläumsjahr. Aus diesem Anlass wurde das Hermann-Hesse-Jahr ausgerufen, um den  bedeutendsten Vertreter der traditionellen Erzählkunst in der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts und meistgelesenen deutschsprachigen Autor dieser Epoche zu würdigen, dessen Bücher in mehr als hundert Millionen Exemplaren über den ganzen Globus verbreitet sind. Vom indischen Talasseri, wo Hesses Mutter als Tochter eines schwäbischen Missionars und Indologen geboren wurde, bis nach Montagnola im Tessin, wo der Dichter von 1919 bis zu seinem Tod im Jahr 1962 lebte, reicht der Reigen der Veranstaltungen im Jubiläumsjahr. Ausstellungen in Berlin, Brüssel und Budapest präsentieren Hesse als Botschafter deutscher Kultur, dessen Weltoffenheit, Toleranz und Humanität widerspiegelndes Werk bis heute nicht nur jugendliche Leser fasziniert. 

In seinem Geburtsort Calw findet von Ende Juni bis Ende August das große Hermann-Hesse-Festival statt – mit mehr als 200 Veranstaltungen, darunter ein Internationales Kolloquium, Konzerte, deren Bandbreite von der Uraufführung eines sinfonischen Werkes nach Motiven von “Siddharta“ bis zu einem Rockwochenende mit der amerikanischen

Kultband Steppenwolf reicht, Dichterlesungen, Open-Air-Filmnächte und Thementage, die in inhaltlicher Verbindung zu Hesses Leben und Werk stehen.

Wichtigste Adresse für “Literatur-Touristen“ in Calw ist das Hermann-Hesse- Zentrum im Schützschen Haus, Markt 30. Die Calwer Gedenkstätte erhebt gegenüber anderen den Anspruch, Leben und Werk im Ganzen zu zeigen. Den biografischen Stationen des Künstlerlebens gehen Abteilungen voraus, die über die pietistische Herkunft der Eltern und Großeltern und das missionarische Sendungsbewusstsein, das auch auf Hesse zeitlebens nicht ohne Wirkung war, informieren. Erstausgaben, Briefe, Aquarelle, Fotos und Erinnerungsstücke – von Hesses Reisekoffer, der ihn nach Indien begleitete, über sein Malstühlchen bis zum geliebten Gartengerät – faszinieren die Besucher. Vom 29. Juni an wird die zuvor in Berlin gezeigte Ausstellung “Welt-Flecht-Werk – Die Einheit hinter den Gegensätzen“ in komprimierter Form als neue thematische Ebene das Hermann-Hesse-Zentrum bereichern.

Stätten der Kindheit. Darüber hinaus können Hessepilger in Calw neben seinem Geburtshaus am Markt Nr. 6, wo der Dichter am 2. Juli 1877 als Sohn eines baltendeutschen Missionars das Licht der Welt erblickte, zahlreiche Schauplätze erleben, die sich in seinem Werk wiederfinden. So fand das imposante Rathaus unter anderem in Hesses Erzählungen “Eine Fußreise im Herbst“ und “Schön ist die Jugend“ Eingang.

Prägende Bilder. Auch die evangelische Stadtkirche am Marktplatz, die nahe Salzgasse und die Lateinschule, die Hesse besuchte, sind Stätten seiner Kindheit, die in Erzählungen auftauchen. Im Geleitwort zum Band “Gerbersau“ bekannte Hesse: “Wenn ich als Dichter vom Wald oder vom Fluss, vom Wiesental, vom Kastanienschatten oder Tannenduft spreche, so ist es der Wald um Calw, ist es die Calwer Nagold, sind es die Tannenwälder und Kastanien von Calw, die gemeint sind, und auch der Marktplatz, Brücke und Kapelle, Bischofstraße und Ledergasse, Brühl und Hirsauer Wiesenweg sind überall in meinen Büchern...“

Bei aller Verwurzelung – Hesses Kindheit in Calw war nicht ohne Schatten. Den strengen Prinzipien von Familie und Schule begegnete der Junge mit Eigensinn. Er habe, resümiert er später, der pietistischen Erziehung, die ein Unterdrücken und Brechen der Individualität anstrebte, viele Schwierigkeiten gemacht. Mit der Devise “Sei du selbst“ sollte Hesse zeitlebens seine Individualität bewahren.

Jugendtraum im Kloster. Als 14-jähriger kam Hermann Hesse auf die protestantische Klosterschule nach Maulbronn, um sich dort auf das von der Familie für ihn vorgesehene Theologiestudium in Tübingen vorzubereiten. In dem ehemaligen Zisterzienserkloster - als vollständigste mittelalterliche Klosteranlage nördlich der Alpen gehört es zum Unesco-Weltkulturerbe - blieb er nicht lange. Er brach nach wenigen Monaten  aus, weil er “entweder Dichter oder gar nichts“ werden wollte. Und dennoch hielt ihn Maulbronn irgendwie fest. Später sollte Hesse in einem Gedicht über den Maulbronner Kreuzgang schreiben: “Verzaubert in der Jugend grünem Tale steh ich am moosigen Säulenschaft gelehnt und horche, wie in seiner grünen Schale der Brunnen klingend die Gewölbe dehnt... Hier ward mein erster Jugendtraum zunichte, an schlecht verheilter Wunde litt ich lang; nun liegt er fern und ward zum Traumgesichte und wird in guter Stunde zum Gesang.“ Mit Sonderführungen und der Ausstellung “Hesse in Maulbronn“ (7. bis 30. Juni) wird des Dichters gedacht.

1895 ging Hesse doch nach Tübingen, allerdings nicht, um Theologie zu studieren, sondern um eine Buchhändlerlehre anzutreten. Der elterlichen Aufsicht entronnen, erklärt der 18-jährige seine literarische Unabhängigkeit: “Dass mein Privatstudium der Ästhetik und Literatur im Einklang mit meinem Berufe steht, erfrischt mich natürlich sehr.“

Tübinger Erinnerungen. Er bleibt vier Jahre in der Heckenhauerschen Buchhandlung am Holzmarkt 5. “In diesen Jahren las ich viel und schrieb meine ersten Sachen. In den ersten Tübinger Zeiten war ich sehr strebsam und solide, später soff ich viel mit Studenten herum, erfüllte meinen Beruf aber gut.“ Seine Zeit in der romantischen Universitätsstadt am Neckar ist besonders gut in der Erzählung “Die Novembernacht. Eine Tübinger Erinnerung“ nachzuempfinden. Darin streift der Dichter Hermann Lauscher, hinter dem sich Hesse verbirgt, mit einem Freund durch die nächtliche Stadt. Im Jubiläumsjahr können Hesse-Pilger geführte Spaziergänge auf seinen Spuren unternehmen. Und natürlich die wunderbar altmodische Buchhandlung am Holzmarkt besuchen, die Hesses Werk liebevoll verpflichtet scheint. Hier gibt es antiquarische Bücher, Autographen und Aquarelle – und das eingerahmte Zeugnis, das die Zufriedenheit des Lehrherrn mit Hesse dokumentiert.

Von Tübingen zog es Hesse nach Basel, wo er, als Buchhändler und Antiquar arbeitend, seine schriftstellerische Karriere begann. Nach der Hochzeit mit der Schweizer Fotografin Maria Bernoulli ließ er sich in Gaienhofen am Bodensee nieder. “Gaienhofen ist ein ganz kleines schönes Dörflein, hat keine Eisenbahn, keine Kaufläden, keine Industrie, nicht einmal einen eigenen Pfarrer...“, schrieb er in einem Brief. Hier entstanden neben Romanen und Erzählungen zahlreiche Gedichte und Prosaskizzen über die Bodenseelandschaft und das Dorfleben. Darunter, aus einem herbstlichen Erlebnis an der Ufern des Untersees heraus, das berühmte Gedicht “Im Nebel“: “Seltsam im Nebel zu wandern! Einsam ist jeder Busch und Stein. Kein Baum sieht den andern, jeder ist allein....“

Die Welt ruft. In dem uralten Bauernhaus in der Ortsmitte wohnte er bis 1907, dann zog er mit Frau und dem 1905 geborenen Sohn Bruno in ein Landhaus außerhalb “Am Erlenloh“. Die Hesses lebten nun in der Gesellschaft von Musikern,  Maler- und Dichterfreunden, die sich ebenfalls am Untersee niedergelassen hatten. 1909 wurde Sohn Hans Heinrich geboren, 1911 Sohn Martin. Sechs Wochen nach dessen Geburt trat Hesse aus “lauter innerer Not“ eine große Reise an. “Ich hatte Gaienhofen erschöpft, es war dort kein Leben mehr für mich, ich reiste nun häufig für kurze Zeiten weg, die Welt war so weit da draußen, und ich fuhr schließlich gar nach Indien, im Sommer 1911.“

1912 verkaufte der Schriftsteller das Gaienhofener Landhaus und zog samt Familie in die Schweiz.

Das Bauernhaus am Kapellenweg, das Hesse zuvor in den Jahren 1904 bis 1907 bewohnt hatte, ist seit 1993 Gedenkstätte, birgt es doch “die erste legitime Werkstatt“ des Literaturnobelpreisträgers. Hier steht der klobige, selbst entworfene Schreibtisch, der ihn sein Leben lang begleiten sollte. Im nahgelegenen “Hermann-Hesse-Höri-Museum“ in der ehemaligen Dorfschule werden die gesamten acht Jahre des Dichters am Bodensee dokumentiert.

Herrliche Trophäen. Unter anderem sind hier die Handschrift des Gedichts “Im Nebel“ und seine Schreibmaschine zu sehen. Jene Smith Premier No.4, die er 1908 in Konstanz kaufte, die sein unentbehrliches Schriftstellerwerkzeug wurde und die er – vorausschauend – in der “Ballade vom Klassiker“ amüsant  verewigte: “Unter andern herrlichen Trophäen in des Volksmuseums Heiligtum, sieht man seine Schreibmaschine stehen, sonntags viel bestaunt vom Publikum.“ Im Jubiläumsjahr organisiert das Museum Sonderausstellungen, “Hermann Hesse und die Buchkunst“ (24. März bis 26. Mai) und “Hermann Hesse – der Schriftsteller als Zeichner und Maler“ (5. August bis 13. Oktober). Überdies werden im Sommer literarische Wanderungen auf Hesses Spuren angeboten, die durch Lesungen von Hesse-Gedichten in der herrlichen Bodenseelandschaft stimmungsvolle Erlebnisse versprechen.

 

Buchtipp: “Hermann Hesse – Schauplätze seines Lebens” von Herbert Schnierle-Lutz, Insel Taschenbuch Nr. 1964, Insel Verlag Frankfurt /M. und Leipzig, 1997.

Angebote: “Auf Hermann Hesses Spuren” heißt das Pauschalarrangement zum Preis ab 130 EUR pro Person, das in Gaienhofen angeboten wird. Enthalten sind zwei Übernachtungen mit Frühstück, die Eintritte ins Hermann-Hesse-Höri-Museum und ins Otto-Dix-Haus, eine Überfahrt mit der Solarfähre nach Steckborn / Schweiz, wo Hesse seinerzeit mit seinem Ruderboot einzukaufen pflegte, sowie ein Hesse-Menü (Auskünfte erteilt die Gemeinde Gaienhofen, Kultur- und Gästebüro, Im Kohlgarten 1, 78343 Gaienhofen, Tel. 07735/81823). 

Calw offeriert u.a. ein Festivalangebot für die Zeit vom 29. Juni bis 31. August. Es enthält eine, drei bzw. sechs Übernachtungen mit Frühstück, einen Stadtrundgang zu den Stätten des Dichters, einen Besuch im Hermann-Hesse-Zentrum, den Besuch des Geburtszimmers (nur zum Festival geöffnet) und die Teilnahme ein einem Konzert plus weitere Extras ab 120 EUR  bzw. 205 EUR  oder 320 EUR  mit Unterbringung im Drei-Sterne-Hotel (Buchungs-Hotline 0180/ 5005669).

Klosterstadt-Express: Vom 1. Mai bis 13. Oktober sind an Sonn- und Feiertagen die Hesse-Orte Maulbronn, Calw und Tübingen per VDC-Klosterstadt-Express verbunden und mit diesem Sonderzug bequem erreichbar.

Auskunft: Informationen zu den Festival-Veranstaltungen gibt es ebenfalls bei der Buchungs-Hotline 0180/5005669 sowie im Internet unter www.hesse2002.de

Zuletzt aktualisiert: 06. Oktober 2016