Von großen Gestalten lernen

Das Gedenken „500 Jahre Reformation“ zieht sich durch die Januar-Ausgabe des Sendboten. Ein ehemaliger evangelischer Regionalbischof verbindet in unserem „Thema des Monats“ die heilige Elisabeth von Thüringen mit Martin Luther.
01. Januar 2017 | von

Die Wartburg gilt als einer der großen geschichtsträchtigen Orte Deutschlands, nicht zuletzt auch dank zweier Personen, die eine bestimmte Zeit ihres Lebens auf ihr gelebt haben, die eine von 1211 bis 1227, der andere von Mai 1521 bis März 1522: Elisabeth von Thüringen, mit deren Gestalt sich wie bei wenig anderen der Begriff der „Barmherzigkeit“ verbindet, und Martin Luther, der geniale Bibelübersetzer, für den die „Gnade“ zum Schlüsselwort geworden war. 

Von königlicher Abstammung
Elisabeth wird 1207 als Tochter des ungarischen Königs Andreas II. und seiner Ehefrau Gertrud aus dem Hause Andechs-Meranien geboren. Im Alter von vier Jahren wird sie auf die Wartburg gebracht und mit dem Erbgrafen Ludwig verlobt. Als sie dreizehn Jahre alt ist, wird die Hochzeit gefeiert. Mit fünfzehn bekommt sie ihr erstes Kind, mit siebzehn ihr zweites, mit zwanzig Jahren ihr drittes.
Die Ehe ist – für die damalige Zeit – sehr glücklich. Elisabeth steht ihrem Mann, dem jungen, mächtigen Landgrafen Ludwig zur Seite; ist er unterwegs, führt sie die Regierungsgeschäfte. Ihr Mann hat Sinn für ihre Frömmigkeit und für ihr soziales Engagement. Elisabeth ist durchdrungen von der Liebe zu den armen und kranken Menschen. Sie kümmert sich persönlich um sie, wäscht und pflegt Kranke in dem Spital, das sie zu Füßen der Wartburg gegründet hat. In der Zeit einer furchtbaren Hungersnot lässt sie Getreide an die hungernden Menschen austeilen. 

Hinwendung zu den Armen
Was war der Grund für dieses Engagement? Elisabeth war ergriffen vom Armutsideal des heiligen Franziskus, von dem sie über den Franziskaner Rüdiger gehört hatte. Sie war erfüllt von der mystischen Christusliebe des Franziskus und durchdrungen von dem Glauben, dass uns Christus vor allem in den armen Menschen begegnet. 
Das alles gab ihr die Kraft, auch nach dem Tode ihres Mannes durchzuhalten. Damals, als er nicht mehr verständnisvoll und schützend hinter ihr stand, konnten sich nämlich die Gegner ihres völlig unstandesgemäßen, jeder höfischen Etikette widersprechenden sozialen Verhaltens endlich Luft machen. 
Elisabeth muss die Wartburg schließlich sogar verlassen, über einen Zwischenaufenthalt auf Burg Pottenstein kommt sie nach Marburg, wo sie aus ihrem Witwenbesitz ein Spital baut, in dem sie aufopferungsvoll die Kranken, auch die mit der ansteckenden Lepra behafteten, pflegt. Dort stirbt sie im Jahre 1231 im Alter von 24 Jahren, aufgezehrt vom Dienst an den Ärmsten und Kränksten. Großartig und faszinierend und doch auch befremdend ist das Leben dieser Frau, die aus einem tiefen Glauben heraus die Nächstenliebe lebte, bis zum Exzess. 

Suche nach dem gnädigen Gott
Martin Luther wird am 10. November 1483 in Eisleben als Sohn eines Bergwerkunternehmers geboren. Zunächst studiert er Jura. Durch einen Blitzschlag erschüttert, tritt er ins strenge Augustiner-Eremitenkloster von Erfurt ein und wird Mönch. Er ist ein guter Mönch, doch weiß er nie mit letzter Gewissheit, ob er Gott wirklich recht ist. Wenn Gott wirklich gerecht ist, wenn er die Gedanken, Worte und Werke eines Menschen auf die Waagschale legt, kann doch kein Mensch vor ihm bestehen! Aber Luther will es wissen: Ist mir tatsächlich vergeben, bin ich wirklich erlöst? Habe ich genug getan? Genug gebetet und gebeichtet, genug die Heiligen angerufen, genug Almosen gegeben, bin ich fromm genug? 
Und dann kommt der Durchbruch, die entscheidende Entdeckung, die als „Turmerlebnis“ in die Geschichte eingegangen ist. Beim intensiven Studium der Heiligen Schrift, insbesondere des Römerbriefs, wird es Luther deutlich – hören wir ihn selbst: „Bis Gott sich erbarmte und ich, der ich Tag und Nacht nachgedacht hatte, den Zusammenhang der Worte begriff, nämlich: Der Gerechte wird aus Glauben leben. Da fing ich an, die Gerechtigkeit Gottes zu verstehen, durch die der Gerechte als durch ein Geschenk Gottes lebt, nämlich aus Glauben heraus. Und dass dies der Sinn sei: dass durch das Evangelium Gerechtigkeit Gottes offenbart werde, nämlich eine passive, durch die Gott uns in seiner Barmherzigkeit durch Glauben rechtfertigt, wie geschrieben steht: Der Gerechte soll aus Glauben leben. Hier spürte ich, dass ich völlig neu geboren sei und dass ich durch die geöffneten Pforten in das Paradies selbst eingetreten sei, und da erschien mir von nun ab die Schrift in einem ganz anderen Licht. 

Widerwilliger Gründungsvater
Konzentriert hat sich diese Entdeckung oder Wiederentdeckung Luthers in der Lehre von der Rechtfertigung. Dass diese Lehre, der Kern des Evangeliums, von den Päpsten nicht angenommen wurde, führte Luther dazu, den Papst – im apokalyptischen Denken seiner Zeit – als Antichrist zu bezeichnen, andererseits aber auch dazu, zu sagen: „Einen Papst, der dieses Evangelium zulässt und anerkennt, würde ich auf Händen tragen und ihm die Füße küssen.“ Doch weil Papst und Bischöfe diese Lehre nicht annehmen, wird Luther, der ursprünglich nur eine Reform der Kirche will, zum Reformator und wider Willen zum Gründer einer neuen Kirche.

Was bin ich wert?
Aber ist die Lebensfrage Luthers, die Suche nach einem gnädigen Gott heute noch aktuell? Bewegt diese Frage den heutigen Menschen noch? Kann man mit Luthers Entdeckung und mit der Lehre von der Rechtfertigung heute noch jemand hinterm Ofen hervorlocken? Verstehen die Leute überhaupt noch, worum es da eigentlich geht? Werden die Menschen nicht von ganz anderen Fragen bewegt? Von der Frage nach dem Sinn des Lebens zum Beispiel? Aber vielleicht hängen die Frage nach der Rechtfertigung und die Frage nach dem Sinn ja ganz eng zusammen?
Als Landpfarrer im Steigerwald habe ich immer wieder vor allem alte und kranke Gemeindeglieder besucht. Einmal sagte eine alte, abgearbeitete Bäuerin im Gespräch: „Wissens, Herr Pfarrer, mei ganz Lebn lang hob i gärbert, und etz konn i halt gor nix mehr machen; etz bin i nix mehr wert.“

Gottes geliebtes Kind
Was hat dieser Frau das Recht gegeben, zu leben? Sie hat gedacht: Es ist meine Arbeit, es ist das, was ich leiste. Aber ist es das? Und wer nun nichts mehr leisten kann? Oder nie etwas leisten konnte? Hat der kein Recht mehr, zu leben? 75 Jahre ist es gerade her, dass man im sogenannten 3. Reich behinderte Menschen, die wenig oder nichts leisten konnten, vergast hat. Gott sei Dank gab es einige wenige Mutige wie den Löwen von Münster, Bischof August Graf von Galen, oder Pastor Fritz von Bodelschwingh in Bethel, die dagegen aufgestanden sind. Oder was ist mit denen, die gerne arbeiten würden und keine Arbeit haben, mit denen im Senegal, im Kongo, in Afghanistan etc.? Haben sie kein Recht auf eine menschenwürdige Existenz? Eine Arbeit, die Freude macht und die sinnvoll ist, das ist etwas Großartiges, aber kann sie den letzten Sinn des Lebens, das letzte Recht zu leben vermitteln?
Als Christen glauben wir etwas anderes: Nicht, dass ich so viel arbeiten kann, nicht dass ich so gescheit bin, so hübsch, nicht einmal, dass ich so fromm bin, gibt mir das Recht zu leben. Sondern dass der, der hinter allem steht, der tiefste Grund allen Seins, der allmächtige, ewige Gott zu mir sagt: „Du bist meine geliebte Tochter“, oder: „Du bist mein geliebter Sohn“. Das Recht zu leben müssen wir uns nicht erkaufen, wir kriegen es geschenkt, einfach so, gratis, aus Gnade, weil wir Gottes Kinder sind. 

Gnädig und barmherzig
Wer das einmal begriffen hat und wer sich das immer wieder, jeden Tag neu zusagen lässt, der wird frei. Der wird unwahrscheinlich dankbar. Der hört auf, aus sich etwas machen zu wollen – er ist ja wer: eine Königstochter, ein Königskind! –, der hört auf, mit dem lieben Gott Geschäfte machen zu wollen. Der hört auf, an Äußerlichkeiten herumzuschmirgeln und zu -kratzen und zu meinen, damit Gott recht zu werden. Nein, einfach aus Dankbarkeit versucht er, immer wieder etwas von Gottes Liebe und Freundlichkeit weiterzugeben an die Menschen an seinem Weg, und mit ihnen und sich selber gnädig umzugehen. Wer Gnade und Barmherzigkeit gefunden hat, muss auch nicht mehr gnadenlos über andere urteilen, muss nicht mehr unbarmherzig mit andern umgehen, kann gnädig und barmherzig sein.

Vorbild Elisabeth und Luther 
Ausgehend von diesen beiden großen Gestalten des Glaubens: Wo provozieren sie uns Heutige, was können wir von ihnen lernen?
Schauen wir zuerst noch einmal auf Elisabeth. Sie hat nicht aus einer berechnenden Werkgerechtigkeit heraus gelebt. Das provoziert vielleicht so manchen Protestanten. Nein, Elisabeth hat nicht aus Angst gehandelt, wollte sich auch nicht den Himmel verdienen. Sie hat aus einer tiefen Christusliebe und -verbundenheit heraus gelebt und gewirkt und aus der Freude, die aus dieser Liebe erwächst. Ein Leben aus einem starken Gottvertrauen und einer großen Liebe und inneren Freiheit, das hat es auch vor der Reformation schon immer wieder gegeben. Interessant, dass wir es vor allem da finden, wo die Menschen in der innigen mystischen Verbindung zu Gott und Christus leben. 
Im Blick auf Elisabeths soziales Engagement könnten wir sagen: Gott sei Dank haben wir heute bei uns nicht mehr diese mittelalterlichen gesellschaftlichen Verhältnisse, sondern ein gutes soziales Netz und ausgezeichnete caritative Arbeit. Aber gibt es nicht auch bei uns genügend Menschen, die nicht auf der Sonnenseite des Lebens stehen, die nicht zu den Schönen und Reichen gehören?

Persönlich verstandene Hilfe
Zu Elisabeths Zeit wusste man bei uns noch nichts von Amerika und Australien und nur wenig von Afrika und Asien. Inzwischen ist die Welt klein geworden, und wir denken und leben global. Wir ziehen unseren Nutzen aus der Globalisierung, doch es darf uns nicht kalt lassen, dass es viele Länder gibt, in denen Menschen Tag für Tag ums Überleben oder zumindest um ein menschenwürdiges Leben kämpfen müssen! Und ich denke an die vielen Menschen, die auf der Flucht sind vor dem Krieg, vor Verfolgung, vor dem Hunger ... . Klar, dass da Almosen nicht genügen. Klar, dass es da Menschen braucht, die sich aus ganzem Herzen und mit aller Kraft für Gerechtigkeit, Frieden und gute Umweltbedingungen einsetzen. Glaube und sozialer Einsatz, Glaube und Kampf für gerechte Verhältnisse sind nicht zu trennen. Der Reichtum, den wir haben, darf nicht Selbstzweck sein und egoistisch verwendet werden, er hat dienende Funktion.
Und noch etwas zeigt uns Elisabeth: Sie hat nicht nur Geld für die Armen und Kranken gegeben. Die Fürstin und Landesmutter hat sich höchstpersönlich um sie gekümmert, hat sie gewaschen und verbunden. Zu all dem fordert uns Elisabeths Vorbild auf. 

Gottvertrauen und ernsthafte Nachfolge
Und was ist das Provozierende an Luther? Es ging ihm vor allem anderen um – Gott. In seiner Auslegung des 1. Gebotes sagt er: „Wir sollen Gott über alle Dinge fürchten, lieben und vertrauen.“  Es geht ihm also um ein Leben im Vertrauen auf Gott und in der Bindung an ihn, an den Gott, der sich in Jesus von Nazareth als menschenliebender Gott offenbart hat. 
Und zu einem Leben in der ernsthaften Nachfolge dieses Jesus von Nazareth in Armut, Keuschheit und Gehorsam sind nicht nur Mönche und Nonnen berufen. Jeder, wo Gott ihn auch hingestellt hat im Leben, ist berufen, in seinem Beruf Gott und den Menschen zu dienen. Das ist die Grundlegung der sogenannten lutherischen Berufsethik: „Die Hausfrau, die ihren Haushalt gut in Ordnung hält, tut einen genau so wichtigen Gottesdienst wie der hl. Antonius, der in der Wüste sitzt und den ganzen Tag meditiert und betet“ – so sinngemäß Martin Luther. Und statt sein Geld für wertvolle Epitaphien, Altarstiftungen und Messstipendien auszugeben, sollte man es lieber in den „Gotteskasten“ legen, damit es den Armen zugutekommt.
Es gibt noch mehr Provozierendes, das wir Luther verdanken: Wir verdanken ihm die Lehre vom „allgemeinen Priestertum der Gläubigen“, das sich aus der Taufe ergibt. Wir verdanken Luther auch die Einsicht, dass die Gier nach Geld und Macht die Kirche korrumpiert. Dass eine Kirche, der es vor allem um ihren Selbsterhalt und ihre Selbstdarstellung geht, ihre Glaubwürdigkeit verliert. Das haben auch schon vor Luther viele gesagt, aber durch ihn hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass die Kirche sich ständig aus der Kraft des Heiligen Geistes erneuern, dass sie eine „ecclesia semper reformanda“ sein muss.

Fragen und Antworten
Abschließend die Frage, was – bei aller Unterschiedlichkeit – die beiden verbindet. Beide sind mittelalterliche Menschen. Ja, auch Luther war noch tief vom Mittelalter geprägt. Beide sind uns heute fremd, fremd in ihrer Radikalität. Elisabeth in der Radikalität ihrer Hingabe an den Dienst für den armen Nächsten, Martin Luther in der Radikalität der Suche nach dem, was das Leben rechtfertigt, nach dem tiefsten Sinn des Lebens, und im mutigen Einstehen für seine gottgeschenkte Erkenntnis gegen alle Mächte der Kirche und der Welt. Beide sind wie eine gotische Kathedrale ganz nach oben ausgerichtet, ganz auf Gott hin, und darum auch ganz da für die Mitmenschen, jeder auf seine Weise. Beide sind uns fremd und doch vielleicht gerade deswegen hochaktuell. Gut, dass sie uns nicht nur die entscheidenden Fragen stellen:
Was gibt meinem Leben seinen tiefsten Sinn, was gibt mir wirklich das Recht zu leben?
Sehe ich in dem leidenden Mitmenschen, bei uns oder in der weiten Welt, wirklich Christus selbst, der sich mit diesem ganz identifiziert hat?
Ist mein Leben jeden Tag auf Gott, auf sein Reich der Gerechtigkeit und des Friedens hin ausgerichtet? 
Gut, dass sie uns auch Antworten gegeben haben, die heute noch tragen!

Zuletzt aktualisiert: 01. Januar 2017
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