Wahrheit unter allen Umständen

01. Januar 1900 | von

Meine Berufung habe ich immer als Pflicht begriffen, die Wahrheit über die Welt zu sagen, dieser Satz aus dem Munde eines Politikers – so mancher würde da am Wahrheitsgeahlt der Worte zweifeln. Anders jedoch bei Václav Havel, der mit diesen Worten tatsächlich seine Berufung formuliert. Auf zwei unterschiedliche Weisen hat er ihr in seinem Leben Folge geleistet: zunächst als Autor, heute als Politiker. Sicher eine ungewöhnliche Karriere für einen Künstler - jedoch eine logische Entwicklung, wenn man das Leben des tschechischen Präsidenten verfolgt.

Hemmschuh Herkunft. Geboren 1936 als Sohn eines böhmischen Unternehmers, wird ihm wegen dieser bourgeoisen Herkunft eine höhere Schulbildung von den Kommunisten verwehrt. Havel wird Chemielaborant und macht das Abitur an der Abendschule nach. Anschließend versucht er, in die Akademie der Musischen Künste aufgenommen zu werden – vergebens. Ernüchtert weicht er auf das Studium der Ökonomie des Verkehrswesens aus. Doch sein ganzes Interesse gilt der Kunst, denn schon als 15jähriger hatte er Gedichte geschrieben. Nach seinem Wehrdienst arbeitet Havel an einem Theater, zunächst als Techniker und Kulissenschieber, später als Regieassistent und Dramaturg. 1962 bis 1966 bekommt er dann doch noch die Möglichkeit, Dramaturgie zu studieren.
Doch Havels Engagement gegen die kommunistische Führung nach der Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 hat Folgen: ihm wird jegliche künstlerische und schöpferische Tätigkeit untersagt. Havel, der zu dieser Zeit bereits im Ausland als Schriftsteller anerkannt ist, verdient nun sein Geld als Arbeiter und schreibt im Untergrund. Seine absurden Bühnenstücke, wie Das Gartenfest, spiegeln vor allem die Entfremdung des Menschen. So will er die Wahrheit über die Gesellschaft vermitteln.

Um die Wahrheit geht es ihm auch bei seinen politischen Aktionen, gemäß seiner Devise: Ich glaube überhaupt, daß es immer Sinn hat, die Wahrheit zu sagen, unter allen Umständen. Trotz ständiger Beobachtung durch die Staatssicherheit und vieler Demütigungen engagiert er sich unter anderem für politische Gefangene und für die Unabhängigkeit der Literatur. Er wird Mitbegründer der Bürgerinitiative Charta 77. Wiederholt bezahlt der Dichter mit Gefängnisstrafen für seinen Mut, die Wahrheit zu sagen. Insgesamt verbringt Havel etwa fünf Jahre im Gefängnis. Die Erlaubnis, einmal pro Woche einen Brief schreiben zu dürfen, nutzt er zum Abfassen von Essays, die er seiner Frau Olga schickt. Nobelpreisträger Heinrich Böll vermutete in einem Interview, daß diese Briefe nicht zensiert wurden, weil die Inhalte überwiegend philosophisch, psychologisch und theologisch sind, aber nicht direkt politisch. Sie werden Mitte der achtziger Jahre unter dem Titel Briefe an Olga veröffentlicht.

Die Wende kommt 1989. Studentenunruhen, Massenproteste, Demonstrationen auf dem Wenzelsplatz in Prag und Streiks bringen die Regierung unter Präsident Husák ins Wanken. Havel wird zu einem der Führer des Bürgerforums. Nun beginnen sich die Ereignisse zu überschlagen. Havel sagt später in einer Rede darüber: Die Maske fiel so schnell, daß wir inmitten der sich drängenden Geschäfte buchstäblich nicht einmal Zeit hatten, uns zu wundern. Schließlich wird der Dichter und Dissident am 29. Dezember 1989 zum Präsidenten der Tschecholslowakei gewählt.
Sein hoher moralischer Anspruch bleibt auch in diesem Amt bestehen. In seiner Neujahrsansprache 1990 sagt er: Lehren wir uns selbst und andere, daß Politik nicht nur die Kunst des Möglichen sein muß, besonders wenn man darunter die Kunst der Spekulation, des Kalküls, der Intrigen, geheimer Verträge und pragmatischen   Manövrierens versteht, sondern daß sie auch die Kunst des Unmöglichen sein kann, nämlich die Kunst, sich selbst und die Welt besser zu machen.
Im Juli 1990 wird der kleine, zurückhaltende Mann mit der tiefen Stimme zum ersten Präsidenten der Tschechischen und Slowakischen Föderativen Republik gewählt. Zwei Jahre später tritt er von diesem Amt zurück, denn er konnte ein wichtiges Ziel nicht erreichen: den Zusammenhalt der beiden Staatsteile. Die Slowakei wird ein eigener Staat. Im Januar 1993 wird Havel erster Präsident der tschechischen Republik. Dieses Amt hat er bis heute inne.
Im Ausland ist der Dichterpräsident hoch angesehen. Er unterstützt die Einheit Deutschlands und das Zusammenrücken Europas. Dafür wird er mit dem Karlspreis und vielen anderen Ehrungen ausgezeichnet. Gleichzeitig schreckt er auch auf dem internationalen Parkett nicht vor der Wahrheit zurück. So betont er in Anwesenheit des wegen seiner Nazi-Vergangenheit umstrittenen österreichischen Präsidenten Kurt Waldheim: Es gibt keine volle Freiheit, wo nicht der vollen Wahrheit freie Bahn gegeben wird.

Zuviel Moral? Innenpolitisch ist der Präsident mittlerweise umstritten. Schon früh wurde ihm vorgeworfen, zu viele politische Posten mit Freunden zu besetzen. Hierzu ist jedoch anzumerken, daß sein Bekanntenkreis im Untergrund überwiegend aus politisch Aktiven bestand, aus Leuten, die sich dem System nicht angepaßt hatten. Ihnen konnte er auch als Präsident vertrauen. Erst heute gibt es auch demokratische Berufspolitiker. Schwerer traf ihn sicher der Vorwurf, sich zuviel um Symbole und Moral zu kümmern und zu wenig um alltägliche Probleme. Er hält aber die post-kommunistische Gesellschaft für moralisch krank, weil sie sich angewöhnt habe, das eine zu sagen und etwas anderes zu denken, wie er in einem Radio-Interview sagte. Hierin sieht er tatsächlich seine Hauptaufgabe: Mein Programm als Präsident ist es also, Geistigkeit in die Politik zu tragen, sittliche Verantwortung, Menschlichkeit, Demut und die Rücksicht darauf, daß etwas Höheres über uns ist, daß unser Tun sich nicht im schwarzen Loch der Zeit verliert, sondern irgendwo aufgezeichnet und bewertet wird, daß wir weder das Recht noch Grund haben zu denken, wir verstünden alles und dürften daher alles.

Private Schläge wie der Tod seiner ersten Frau Olga (1996) und schwere Erkrankungen haben Havel eine zusätzliche Last aufgelegt. Zuletzt ist es etwas stiller um den Dichterpräsidenten geworden. Doch trotz aller Kritik: Eine Zeit nach Havel kann sich in der Tschechischen Republik aber auch in Europa noch kaum jemand vorstellen.

Zuletzt aktualisiert: 06. Oktober 2016