Was ist Wahrheit, was Lüge…?

26. Juli 2005

Die Pilatus-Frage „Was ist Wahrheit?“ (Joh 18,36) tönt einfach. Zu beantworten ist sie so schwer wie die andere: „Was ist Lüge?“ Sieht man genauer hin, sind Wahrheit und Lüge oft genug stark verquickt, schwer durchschaubar.

 

Sind wir zur Lüge verdammt? Diese Frage stellt der Moraltheologe Eberhard Schockenhoff. Verdammt in und durch Medien, in der Politik, in vorgeblich neutralen Wissenschaften, ja in eigentlich allen Lebensbereichen. Er antwortet mit „nein“. Aber bis zu diesem „Nein“ ist es kein einfacher Weg.

Klassisch geht man vom klaren Gegensatz von Wahrheit und Lüge aus. Später gibt es Gedanken, die sagen, manche Lügen schützen die eigentliche Wahrheit. Unterdessen behaupten einige, Lüge sei kreativer, ja lebensnäher und -föderlicher als die ungeschminkte Wahrheit. Klartexte im Getümmel sind schwer zu finden. Doch bleibt dies Aufgabe…

 

Lüge ist Handlung, Ausdruckshandlung auf der einen, Eindruckshandlung auf der anderen Seite. Schon hier herrscht sowohl hinsichtlich des physischen wie moralischen Eindrucks kein Verhältnis eindeutiger Identität. Noch die einfachste Lüge ist komplex, aufgebaut um einen Kern: eine primäre, freie Täuschungsabsicht, eine (bewusste) Diskrepanz von Sachverhalt und Bezeichnung oder Überzeugung und Ausdruck. Mit Augustinus gesprochen (er wie Immanuel Kant einer der heftigsten Gegner noch der allerkleinsten Lüge): „Die Lüge ist offensichtlich eine unwahre mit dem Willen zur Täuschung vorgebrachte Aussage.” oder „Die Lüge ist eine unrichtige Zeichenkundgabe mit der Absicht des Täuschens.” Sie ist zudem Rede gegen Wissen und Gewissen. Damit ist eine klassische wie folgenreiche Definition als Haftpunkt bezeichnet.

Wie jede Handlung lässt sich auch Lüge nach ihren Elementen befragen. Das Lehrstück von den „Quellen der Moralität” als grundlegendes ethisches Analyseinstrument nennt drei: Handlungsabsicht, Handlungsumstände und Handlungsfolgen. Die moraltheologische Tradition hat diese Differenzierungen ernst genommen und Lügen unterschieden nach – besonders wichtig – der Schwere des Tatbestandes, nach subjektiven oder objektiven Wirkungsgraden, nach Anlass und Situation. Begriffe wie die der Phantasie- und Scherzlüge, der Not- oder Angstlüge, der Zweck-, Nutz- oder Dienstlüge (zur Wahrung eines Dienstgeheimnisses z.B.) et cetera lassen sich erst hier beurteilen.

 

Ethische Analyse. Dies lenkt den Blick auch auf strukturelle Momente von Gewalt, Zwang, Ungerechtigkeiten, die eine Wahl „Sage ich die Wahrheit oder lüge ich?” erheblich beeinflussen. Hier verschärft, verändert sich die Frage nach der rigorosen Wahrheitsverpflichtung. In einer durch die Umstände konstituierten Struktur des Bösen, der Unwahrheit und der Verletzung kann man den möglichen Zwang zur Lüge nicht einfachhin als Verpflichtung zur Wahrheit an den Einzelnen zurückadressieren. Soll er wahr reden, wahrhaftig sein in jeder Handlung und Äußerung? Ist er verpflichtet zu prophetischem, gar heroischem Handeln?

Beschreibbar ist diese ethische Haltung wohl, vorschreibbar kaum. Hier hat die ethische Analyse, bevor sie den einzelnen Handlungsträger in den Blick und in die Pflicht nimmt, nach den institutionellen, sozialen und politischen Handlungsmöglichkeiten zu fragen. Hier muss handlungstheoretische Analyse ansetzen, will sie den Einzelnen in dramatischen Dilemmasituationen nicht überfordern. Die Analyse muss dann aber ethisch auch deshalb besonders sorgfältig und kritisch sein, weil Umstände allzu leicht missbrauchbar sind – zur Exkulpation und schnellen Verantwortungsdelegation. Schuld an meiner Lüge sind die anderen, die Umstände...

 

Weitere Perspektiven sind nötig, etwa eine normethische Präzisierung und eine Annäherung, die über das Normethische hinausweist. Keine Einzelnorm, selbst das „Du sollst kein falsches Zeugnis ablegen wider den Nächsten” nicht, beschreibt den sittlichen Anspruch einer Situation völlig hinreichend. Handlungs- und normtheoretisch generell wie auch im besonderen Blick auf die Lüge in ihren formalen, materialen, situativen Varianten ist wichtig, dass es sowohl eine Stufung innerhalb sittlicher Normensets (nach Inhalt und Bedeutung) gibt, und dass Norm­ethos als Rahmenethos immer verwiesen bleibt auf korrespondierende, komplementäre weitere Ethosformen. Genauer gesagt lässt sich jede Handlung, die unter der Frage nach Wahrheit und Lüge befragt werden kann, auch unter anderen normativen Aspekten (Lebensrecht, Gerechtigkeitsforderungen, Selbstverteidigung etc.) und ethischen Implikationen (Nächstenliebe, Solidarität, Empathie etc.) belichten. Es kann von Fall zu Fall ethisch vordringlicher sein, andere Normpostulate (Menschenrechte, Autonomie, usw.) vor eine Konzentration auf die Lügenthematik zu rücken. Auch innerhalb strikt normethischer Überlegung zur Handlung Lüge lässt sich eine differenzierte, flexible, aber nicht einfach nivellierende Sicht auf Lüge und Lügen entwickeln.

 

Differenzierung. Für einen „kultivierten“ Blick auf die Lüge, einen Blick also, der Einzelhandlung, komplexere Handlungsgefüge, biographische Einbettung in multifaktorielle Referenzrahmen und jeweilige Situation ernst nimmt, stellt sich die Frage nach der Mehrdimensionalität von Wahrheit und Lüge. Gerade ein substantialistischer, statisch-ungeschichtlicher Wahrheitsbegriff als Ausgang für eine ethische Bewertung von Phänomenen uneigentlicher Rede, „vorsittlicher” Falschaussage, manifester Lüge läuft ja Gefahr, überschießend auf Einzelphänomene zu reagieren. Umgekehrt redet diese Differenzierung keineswegs Nivellierung, Bagatellisierung und Trivialisierung der Lüge das Wort. Vor dem Hintergrund des Differenzmodells handlungskonstitutiver Elemente sind mit Schockenhoff zu bedenken: a) die Dimension der Sachlichkeit, Sicherheit, Logik, b) die Dimension der Interpersonalität, c) die Dimension der Personalität und schließlich d) als Ratifikations- und Realisationsebene dieser Interdependenzen die Dimension der Situativität.

Diese Ebenen sind jeweils in dynamischen Wechselwirkungen, in ihrer Sonderheit und in ihrem jeweiligen Ermöglichungs- und Begrenzungszusammenhang auf aktualer, habitueller Ebene und den je kreativen wie destruktiven Potenzen zu befragen.

 

Theologische Wahrheitsverpflichtung. Die lange Zeit moraltheologisch dominierende Steilvorlage für die rigorose Verwerfung der Lüge hat Augustinus († 430) geliefert. Sein Ansatz bei der primären Täuschungsabsicht mit der Falschbezeichung ist von einem stark aussagebezogenen Wahrheitsbegriff geprägt, für den jeder Akt der Nichtübereinstimmung von Sachgehalt und Artikulation ein Verstoß gegen eine stabile, sittliche, theologische Ordnung des Guten darstellt. Das rigorose Verbot der Lüge meint im Kern: Wer im Kleinen die Lüge salviert, läuft die Gefahr des Dammbruchs. Selbst beste Sekundärabsichten (zur Schadensvermeidung etwa) und Folgen dürften darüber nicht hinwegtäuschen. Augustinus kann keine Lüge einordnen in einen größeren Kontext, zum Beispiel als Mittel und Strategie zu übergreifender Konfliktlösungen.

Thomas v. Aquin († 1274) verlässt den Boden des augustinischen Lügenverbots nicht, setzt aber zusätzliche Akzente. Sein Wahrheitsbegriff verkennt die heikle Spannung von Subjekt- und Objektpol nicht. Ein differenzierter handlungstheoretischer Wahrheitsbegriff, der sachliche Wahrheit und personale Wahrhaftigkeit kennt, öffnet deutlicher den Blick auf sachliche wie personale Falschheit. Zudem konzentriert sich Thomas nicht auf die „veritas in dictis” (Wahrheit in Worten) allein, sondern bezieht weitere Kommunikationskomplexe in die Verhandlungsmasse ein, wenn er von der „veracitas in factis et dictis” (Wahrhaftigkeit in Taten und Worten) spricht. Vor dem Hintergrund eines dynamischen Haltungsethos gewinnt Thomas eine erheblich größere Lebensnähe in der verständigen, nachgerade nachsichtigen Beurteilung von Nutz- oder Notlüge.

 

Zunehmende Relativierung. Während für Augustinus und Thomas noch verhältnismäßig stabile Ordnungsvorstellungen und Deutungsmonopole Hintergrund ihrer Überlegungen zu Wahrheit und Lüge darstellen, verschieben sich Blickwinkel deutlich durch gravierende historische, politische und geistesgeschichtliche Entwicklungen (Aufbrechen der konfessionellen Einheit, Folgen der Entdeckung der Neuen Welt, Änderung des Menschenbildes seit der Renaissance, und so weiter…). Überlegungen zur Mentalreservation oder doppeldeutigen Rede in der Barockscholastik sind vor der Absicht zu sehen, aus Schutzgründen immer mehr und immer diffizilere Ausnahmen von der Wahrheitsverpflichtung zuzulassen. So ernsthaft Gründe dafür sind, der Eindruck einer subtilen, gar gewalttätigen Doppelmoral, einer quantitativ zunehmenden Relativierung der Wahrheitsverpflichtung bleibt zwiespältig.

Schutzthematik, Sicherung des Privaten und Persönlichen vor den Übergriffen des Totalitären werden mit den Erfahrungen des 2. Weltkriegs und des Nazismus besonders akut und führen zu einer vorsichtigen Verlagerung der Problematik des absoluten Lügenverbotes: Die Wahrheit ist geschuldet nur dem, der ein moralisches Recht auf sie hat. Diese Momente wirken hinein in aktuellere Fassungen. So formulierte der „Katechismus der katholischen Kirche” in Nr. 2483: „Die Lüge ist der unmittelbarste Verstoß gegen die Wahrheit. Lügen heißt, gegen die Wahrheit reden und handeln, um jemand zu täuschen, der ein Recht hat sie zu kennen.”

Dies unterläuft eine rigorose Verwerfung der Lüge, verlagert aber die Frage auf den Berechtigungsaspekt. Damit fängt die Begründungsdiskussion wieder an. Aber das ist kein Nachteil, sondern Zeichen für die Unabschließbarkeit und Komplexität des Themas selbst. Zugänge wie die über den Begriff der „geschuldeten Wahrheit” oder den der „situationsadäquaten Wahrheit” lösen das Lüge-Wahrheit-Problem ethisch letztlich nicht.

 

Biblische Marken. Das normative Verbot der Lüge ist also nur eine – aber gewichtige – Form. Neben ihr gibt es die prophetische, theologisch-politische Kritik an kultisch-politischen Verfestigungen der Lüge, ein eher privates, weisheitliches Ethos, das sich unbefangen der Pluriformität alltäglicher Erscheinungen und Lebensvollzüge widmet (so auch der Lüge), exemplarische Erzählungen von Nutz-, Schadens- und Notlügen.

Am bekanntesten ist diese Option des Alten Testaments für die Wahrhaftigkeit durch das Verbot des Dekalogs geworden: „Du sollst kein falsches Zeugnis geben“ (Ex 20,12 bzw. Dtn 5,20). Dabei steht dieses Verbot in Ex 20, also in seiner frühen Form, gegen die „falsche Zeugenaussage vor Gericht“, untersagt die Lüge also zunächst nur dort, wo sie dem Nächsten am meisten schadet, ihn seinen Besitz oder eventuell gar das Leben kosten kann! Aber es geht schon hier nicht nur – wie fälschlicherweise immer wieder in schlechter kulturhistorischer Analyse behauptet wird – um den Volksgenossen Israels, sondern allgemeiner um den räumlich Nächsten, den Nachbarn. Das Alte Testament sodann kennt keinen Begriff „der für sich allein die Übereinstimmung von Wort und Sache (= objektive Wahrheit) meint”. Die Grundbedeutung liegt in der Zuverlässigkeit des gegebenen Wortes. Treue und Zuverlässigkeit gibt es alleine bei Gott. Gott ist kein Mensch, der lügt (vgl. Num 23,19), gleichwohl bleibt in dieser theologischen Differenz präsent: der „wahrheitsfähige Mensch” bleibt verquickt mit jener anderen Feststellung und Klage aus Ps 116: „Die Menschen lügen – alle.”

In der Vielgestalt der Fassungen und durch die Nicht-Systematik hindurch bleibt ethisch jedoch ein roter Faden. Er bündelt sich in der Ablehnung der Lüge umso schärfer, je aggressiver und destruktiver Lüge auftritt, und zwar nicht als Verletzung einer abstrakten Wahrheitsidee, sondern als fundamentale Bedrohung konkreter Personen und Gruppen in ihrer individuellen und sozialen Existenz. Das legt durchaus einen vorsichtigen Umkehrschluss nahe. So formuliert etwa Dietrich Bonhoeffer: „Das wahrheitsgemäße Wort ist nicht eine in sich konstante Größe, sondern ist so lebendig wie das Leben selbst. Wo es sich vom Leben und von der Beziehung zum konkreten anderen Menschen löst, wo die Wahrheit gesagt wird, ohne Beachtung des­sen, zu wem ich sie sage, dort hat sie nur den Schein, aber nicht das Wesen der Wahrheit.“

 

Verantwortlich aufrichtig. Wahrhaftigkeit ist je neues Ringen um die Wahrung aufrichtiger Kommunikation. Hält man sich die biblischen Aussagen und das komplizierte Ringen der Theologie in der Geschichte vor Augen, so kann man vielleicht als Antwort auf die Frage (Josef Römelt stellt sie) „Wie viel Wahrheit braucht der Mensch?“ formulieren: Er braucht auch heute, in einer immer komplexeren Welt das je neue Rin­gen um Wahrhaftigkeit, damit die sensiblen Vollzüge mensch­licher Kommunikation und Gemeinschaft nicht in ihrer Wurzel zerstört werden. Es geht dabei nicht um eine Offenlegung bloßer Fakten um jeden Preis. Es geht um mehr: Um eine Verantwortlichkeit, die um des gemeinsamen Schicksals willen bereit ist, in den sachlichen und kulturellen An­liegen unseres Lebens ohne Blick auf den eigenen Vorteil und Nutzen aufrichtig Informationen, Einsichten, Pläne, Deutungs­versuche und Hoffnungen zur Verfügung zu stellen und ins eige­nen Verhalten aufzunehmen, um unser Leben existentiell befriedigend bewältigen zu können.

Für Definitionen von Lüge, befrage nicht den Lügner – klar, oder? – , sondern den Belogenen. Und erinnere dich: „Jesus Christus ist der Weg, die Wahrheit und das Leben.“ (Joh 14,6) Der Weg auf die Wahrheit zu, durch die vielen kleinen und großen Lügen hindurch!

 

Zuletzt aktualisiert: 06. Oktober 2016