Was soll nur aus dir werden?

Dass es bald Zeugnisse gibt, ist für viele Schüler/innen mit der Freude darüber verbunden, dass das Schuljahr zu Ende geht und die Ferien kommen. Der Druck vor dem Zeugnis und die Angst vor mittelmäßigen oder schlechten Noten ist jedoch oft groß.
28. April 2016 | von

Bald ist es wieder so weit: Die Zeugnisse drohen – zumindest bei den Kindern, die als Schulversager gebrandmarkt werden. Aber nicht nur sie bangen vor der Zeugnisausgabe. Es sind selbst Schüler mit guten Zensuren, zwischen „sehr gut“ und „befriedigend“, die mit Sorge ihrem Zeugnis entgegenfiebern. Eine Drei in einem (beliebigen) Fach kann für manche Schüler und deren Eltern bereits eine mittlere Katastrophe bedeuten. So bekommen immer mehr Schüler trotz guter Noten Nachhilfeunterricht, um den Übergang zum Gymnasium zu schaffen oder um die Abschlussnoten zu verbessern. Bei letzteren droht ansonsten der Numerus clausus in fast allen Studiengängen.

Bis hinter die Kommastellen

Nach einer Bertelsmann-Studie bekommt jeder siebte Schüler (14 Prozent) in Deutschland Nachhilfeunterricht. Pro Monat geben Eltern rund 87 Euro für die Förderung ihres Nachwuchses aus – insgesamt rund 900 Millionen pro Jahr! Fast 40 Prozent aller Nachhilfeschüler haben eigentlich (sehr) gute bis zufriedenstellende Zensuren. Bei alldem ist der immense Einsatz der Eltern bei den häuslichen Schularbeiten noch gar nicht berücksichtigt. Sie vergleichen den Notenschnitt ihrer Sprösslinge bis hinter die Kommastellen. Und sie trimmen sie nicht aus Bosheit, sondern aus echter Sorge: Was soll nur aus unserem Kind werden?  Mit weniger guten Noten hat es kaum Chancen gegen die Konkurrenz. Wer kann es den Eltern verdenken, dass sie da zu allen möglichen „Hilfsmitteln“ greifen? Schließlich wollen sie ja nur das Beste für ihr Kind...

Ein Makel fürs Leben?

Noch bedrückender ist die Angst vor der Gefährdung der Versetzung in die nächst höhere Klasse. Sitzenbleiben ist für viele ein Makel fürs Leben, begleitet von Ärger und Scham und vielen Tränen. Auch in diesem Jahr wird es wieder 150.000  Sitzenbleiber erwischen – und noch einmal so viele werden die Versetzung u. a. mit Nachprüfungen so eben noch schaffen. Da stellt sich bei allen „Schulversagern“ – ob Jungen oder Mädchen – doch die Frage, ob diese Gruppe von Kindern den Anforderungen der Schule schlichtweg nicht gewachsen ist. Lag es früher häufig an einer gewissen Faulheit der Schüler, so kann man heute eher einen unbändigen Ehrgeiz und eine übertriebene Leistungsbereitschaft konstatieren – bei den Kindern selbst, noch mehr aber bei den Eltern. Das muss zu Problemen bis hin zu psychischen Störungen führen, wenn Eltern ihre Kinder zu Leistungen herausfordern, die diese einfach nicht erbringen können. Eine permanente Überforderung! Um dem vorzubeugen, müssen Eltern letztendlich das Potential ihrer Kinder richtig einschätzen lernen.

Von der Chance des Sitzenbleibens 

Schlechte Noten können aber auch ein Weckruf sein. Der „blaue Brief“ kann mitunter Wunder wirken und den lang vermissten Ehrgeiz anstacheln. Selbst das Sitzenbleiben kann zur Kehrtwende führen, sich in der Schule endlich mehr anzustrengen. In der Wochenzeitung „Die Zeit“ haben etliche Prominente eindringlich von der „Chance“ des Sitzenbleibens berichtet, „es allen zu zeigen“ und ab sofort hart (an sich) zu arbeiten. Wer hätte gedacht, dass zu den Sitzenbleibern so ehrgeizige Politiker wie Edmund Stoiber oder Winfried Kretschmann gehören? Edmund Stoiber: „Im Rückblick kann ich nur sagen: Die Ehrenrunde hat mir nicht geschadet. Meine Noten wurden immer besser, bis ich schließlich zur Spitzengruppe gehörte... Ich bin nicht dafür, das Sitzenbleiben abzuschaffen. Es ist eine Chance, noch einmal durchzustarten.“ Und Winfried Kretschmann: „...und so fand ich mich häufiger im Wirtshaus wieder als über meinen Schulbüchern. In der elften Klasse musste ich dann meine Ehrenrunde drehen.“ Winfried Kretschmann ist Lehrer geworden, bevor er später zum Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg „aufstieg“. Und dann gibt es noch den Chef des Pharmakonzerns Merck, Karl-Ludwig Kley, der beim Abitur in Mathe eine Fünf minus geschrieben hat und später trotzdem Finanzvorstand und danach auch noch Konzernchef geworden ist: „Ich war ein Spätstarter. Eltern sollten ihren Kindern Zeit zum Erwachsenwerden geben und sich nicht wegen schlechter Schulnoten verrückt machen.“ Dieser Aufstieg in späteren Jahren lässt doch hoffen, selbst wenn beim Tanz um möglichst gute bis beste Schulnoten der eine oder die andere gelegentlich aus dem Rhythmus gerät. Doch dieser Tanz darf nicht zu Verkrampfungen führen, weder bei Schülern noch bei Eltern und Lehrern.

Das Schulversagen kann zur entscheidenden Lebenswende führen. Es muss nicht zwangsläufig in ein erfolgloses Leben führen, auch wenn es zur belastenden Hypothek werden kann. Die Erfahrung zeigt: Gute Leute müssen nicht unbedingt „Einserschüler“ gewesen sein. Sitzenbleiben muss nicht bleibende Schäden hinterlassen. Mit Edmund Stoiber werden zahlreiche Spätzünder sagen: „Die Ehrenrunde hat mir nicht geschadet.“ Ehre, wem Ehre gebührt!

Zuletzt aktualisiert: 13. Oktober 2016
Kommentar