Webfehler im weltweiten Netz

25. Oktober 2004 | von

Individualisierung, Globalisierung, Cyberspace – Schlagworte mit denen wir alltäglich konfrontiert werden. Die Gesellschaft ist im Wandel. Von wo nach wohin wandelt sie sich denn? Ist denn diese unsere Gesellschaft mit ihren Grundwerten noch existent oder ist sie nur noch zum Schein vorhanden?

Zeit des Umbruchs. Es herrscht ein großer Konsens darüber, dass sich die Menschheit zu Beginn des dritten Jahrtausends unserer Zeitrechnung in einer Umbruchsituation befindet, die sich in ihrer Tragweite höchstens noch mit den Umwälzungen des Industriezeitalters vergleichen lässt. Unsere Gesellschaft – ein hochkomplexes Sys-tem menschlichen Zusammenlebens, das sich zu gewissen Grundwerten bekennt, bekommt als Auswirkung davon Risse. Die Massenmedien bestimmen unser tägliches Leben wie nie zuvor. Die globalen Märkte und weltweite Handelsbeziehungen mit ihren undurchschaubaren wirtschaftlichen Verästelungen lassen separate Nationalstaaten immer unwichtiger erscheinen und zugleich die einzelnen Gesellschaften austauschbarer wie noch nie.
Genauso fraglich wird zunehmend die Rolle des Individuums in dieser Gesellschaft. Wo ist denn der Platz für den Einzelnen in seinem gesellschaftlichem Umfeld, in seinem Beruf, den er im Laufe seines Lebens wahrscheinlich mehrmals wechseln muss? Ist er noch eingebunden in eine Familienstruktur, die sich ebenfalls in einem Auflösungsprozess befindet und einer Bindungslosigkeit weichen wird? Unsere Lebensweise ist mittlerweile global. Wenn wir uns nicht real mit dem Billigflieger auf Reisen rund um die Welt begeben, können wir dies mühelos und in Sekundenschnelle virtuell per Internet tun. Durch diese imaginäre Raumvergrößerung in ungeahnte, noch vor wenigen Jahren undenkbare Dimensionen tun sich verschwommene Horizonte auf, die einen Überblick kaum noch zulassen. In einer Gesellschaft, in der der Individualismus über allem anderen steht, gibt es nun scheinbare Freiräume, welche eine eigenverantwortliche Lebensgestaltung einfordern, was zugleich mit großer Unsicherheit verbunden ist.

Fragmentierte Gesellschaft. Viele Mitmenschen sind von dieser Unsicherheit überfordert und in gleicher Weise von einer Unübersichtlichkeit, was ihre eigene Lebensplanung anbelangt. Seit Generationen festgelegte Werte, die ein Grundgerüst für die Organisation eines Lebens bilden, fangen an zu bröckeln. Herkömmliche Familienverbände beginnen sich aufzulösen, Bindungen haben nur mehr einen Lebensabschnitt lang Bestand. Wen wundert’s, dass sich das auch auf die Bindungsfähigkeit der Menschen auswirkt: Das Zwischenmenschliche scheint angesichts dieser Ent-wicklung reichlich Unsicherheiten zu bergen, aus Angst vor Verletzung und Verlust lassen viele lieber gleich die Finger von tiefer gehenden Bindungen. Anstelle der realen Begegnung tritt dann oft die virtuelle Kommunikation: per E-Mail und in Chatrooms. An der virtuellen Realität wird auch von außen gebastelt: Mit einer Informations(sint)flut, die uns die Neuen Medien bescheren, und die kein Mensch auch nur annähernd überblicken kann. Sie birgt zugleich ein beachtliches Lügenpotential, denn nirgends können Millionen Menschen leichter und schneller mit manipulierten Bildern und Informationen gefüttert werden, als im Internet. Politik und Terrorismus haben das längst erkannt.

Werte mit Zukunft? Woran soll sich also der fortschrittliche Mensch angesichts dieser neu entstandenen Freiheit orientieren, die suggeriert, man könne sein Lebensglück wie aus dem Warenhauskatalog bestellen. Kein Wunder, dass sich Orientierungslosigkeit und Ungewissheit breit machen, die Angst auftaucht, irgendwie unter die Räder zu kommen“. Welch’ ungeahnte Höhenflüge wird uns denn die viel gepriesene Individualisierung bescheren – auf Kosten von wie vielen anderen, nicht so durchsetzungsfähigen Mitmenschen? Welche Begrenzungen innerhalb all dieser Möglichkeiten werden denn akzeptiert werden, wenn es etwa um Organersatz, Schönheitsoperationen oder die Genforschung geht. Unsere christlichen Grundwerte laufen Gefahr unterlaufen zu werden und einem Sozialdarwinismus (nur die “Stärksten können Überleben) zu weichen. Die falschen Götter sind nicht weit.

Virtuelle Realität Auch wenn wir uns nun – um die zur Zeit wichtigsten Denkmodelle vorzustellen – von der modernen in eine globale Gesellschaft wandeln, von der Produktions- zur Dienstleistungsgesellschaft übergehen, wir von der Klassen- in eine reine Erlebnis-gesellschaft gelangen, es sollte noch eine Gesellschaft im Sinne von Gemeinschaft und Solidarität übrig bleiben und nicht nur eine Ansammlung von Individualisten, die nur an sich denken. Auf der Flucht vor einer als unerträglich empfundenen Realität werden heute per elektronischer Kommunikation Kontakte in aller Welt gesucht. Diesen Internetpartnern fühlen sich viele verbundener als ihrem realen Nachbarn in der Wohnung gegenüber. Es ist ja auch so einfach: Man kann sich mühelos hinter seiner wahren Identität verbergen, irgendjemand ist quasi rund um die Uhr verfügbar und unter falschem Benutzernamen lassen sich auch geheimste Wünsche ausleben – und dies alles, ohne dass Verantwortung übernommen werden muss. Schließlich agiert der Internetnutzer mit einem Menschen ohne Gesicht – und er kann ein solches im sprichwörtlichen Sinne auch selbst nie verlieren. Der elektronische Kommunikationsbereich hat inzwischen derartige  Auswüchse erreicht, dass aktuelle Schätzungen von etwa einer Million Online-Süchtiger allein in Deutschland ausgehen. Der Gebrauch hat in den letzten Jahren so exzessive Ausmaße erreicht, dass man nur noch von einer Sucht sprechen kann, eine die allerdings gesellschaftsfähig ist.

Realitätsflucht. Mühelos kann man sich seine eigene Welt zurechtzimmern, aus der Realität flüchten, seinen Spieltrieb oder sein Zuwendungsbedürfnis ausleben. Ohne Beziehungsprobleme lassen sich schnell auch erotische Phantasien mittels eines Gesprächspartners“ oder per erotischer Website befriedigen. Auf die Anleitung zum Kindesmissbrauch oder andere Perversitäten bis hin zum Mord per Internet soll an dieser Stelle nicht eingegangen werden.  
Auch das Ersteigerungsfieber“ hat im Moment viele Zeitgenossen im Griff: Unter dem Slogan 3-2-1 meins wird über eBay bis zur letzten Sekunde vor Auktionsende um sprichwörtlich alles gezockt – selbst eine Niere für eine Organtransplantation stand schon kurzzeitig zum Verkauf.

Generationenkrise. Für die Generation unter 30 ist die Computerisierung unserer heutigen Welt (Spiele, Fotos, Emails,...) eine absolute Selbstverständlichkeit geworden. Sie bringen eine Medienerfahrung mit, die ihre Elterngeneration nur noch bedingt nachvollziehen kann und will. Aber im globalen Dorf“ darf ein gehetzter Me-dienkonsument nichts verpassen – und der PC ist ihm ein geradezu ein heiliges Statussymbol. Die Verweigerer werden auch immer weniger, obwohl der Grossteil der Bevölkerung privat seinen PC nur zum Schreiben oder Hin- und Herschicken elektronischen Tratsches in Form von Trivialtexten benutzt. Als Arbeitsinstrument verwendet mittlerweile fast jeder Zweite den PC und für viele ist er inzwischen zum wichtigsten beruflichen “Handwerkszeug“ geworden. Trotz alledem – eine unbestimmte Angst vor der Medienflut gärt, auch wenn die junge Generation diese wesentlich optimistischer betrachtet. Doch bei all den Visionen der schönen neuen Informationswelt – die Frage wird immer sein: Wo bleibt dabei der Mensch?

Medienanalphabeten. Es lässt sich nicht übersehen, dass gerade in der älteren Generation eine gewisse Sprachlosigkeit und Akzeptanzprobleme gegenüber technischen Innovationen herrschen. Auch darf nicht vergessen werden, dass vielleicht viele Menschen aus niedrigen Bildungsschichten diesem technischen Tempo – auch in finanzieller Hinsicht – nicht gewachsen sind, und die Gefahr besteht, dass sich eine Zweiklassengesellschaft mit Wissenden und Unwissenden bildet. Darüber hinaus unken nicht wenige Pessimisten, dass die Informationstechnologie die Massenbeschäftigung abschaffen und nur noch einen Bruchteil von Arbeitern in vollautomatisierten Fabriken hinterlassen wird. Was werden wir mit der vielen freien Zeit anfangen? Werden wir uns dann noch mehr in künstliche Erlebniswelten à la Disneyland oder Las Vegas mit simulierten Vulkanausbrüchen flüchten, in eine Simulationskultur, die zum Sinnbild einer ganzen Epoche werden könnte und in der wir nur noch einem Gott kennen: den Götzen Unterhaltung.

Reizüberflutung. Oder wird es zu krass wechselnden Kurzzeitkulturen kommen, denn ohne großes Nachdenken können wir uns ja durch alle Fernsehprogramme zappen, die angewählte Internetadresse ändern oder – falls nötig – auch unsere Bezugspersonen. Wie wird sich das auf die Persönlichkeit und Bindungsfähigkeit auswirken? Wie die Neuen Medien Geist und Seele von Kindern und Jugendlichen formen, lässt sich zum Teil bereits feststellen: Massive Sprachentwicklungsstörungen und Aggressionen sind nur zwei Symptome. Um sie nicht zu willenlosen Opfern ihrer eigenen Ansprüche werden zu lassen, wird eine Erziehung zur Medienkompetenz immens und immer wichtiger.
 “Ja nichts verpassen“ heißt die Devise, wenn mal wieder sehnsüchtig auf eine neue E-Mail gewartet wird. Der Erreichbarkeits- und Mitteilungswahn wächst sich geradezu zum Psycho-Problem aus. Mailen, Chatten, Surfen – die Infoflut ist eh nicht mehr zu bewältigen, und wir laufen Gefahr, uns vor lauter Übersättigung in eine Zeitfalle zu verstricken. Dabei ist doch die Verfügung über Zeit – ob für uns oder unsere Mitmenschen – der größte Luxus. Besinnung tut Not, denn schon 1992 prophezeite uns der große Medienkritiker Neil Postman, dass wir uns noch zu Tode informieren werden. Das soziale Leben – und damit letztlich die Menschlichkeit – wird einem schnellen technischen Wandel untergeordnet. Flexibilität wird zum höchsten Lebensprinzip erhoben und Bindungslosigkeit ist ein Muss. Die drohende Vision: Auflösung der Gemeinschaften.

Tiefe Geborgenheit. Wenn nun Bindungen kein Leben lang mehr gelten, sondern nach Bedarf nur zeitweise aufrechterhalten werden, die Arbeit nicht mehr sinnstiftend für ein ganzes Leben ist, und man vor lauter Individualisierung nicht mehr die Nöte der anderen sieht – ist dann nicht ein fester Halt in der christlichen Gemein-schaft wichtiger denn je? Die Zahl der Wohlstandsempfänger wächst stetig, die Grenzen zwischen Reich und Arm werden immer fließender. Sozialleistungen müssen gekürzt werden, weil immer weniger Erwerbstätige diese finanzieren müssen. Eine bedrohliche“ soziale Kälte macht sich breit. Es kommt nicht von ungefähr, dass immer weniger Mitmenschen bereit sind, sich ehrenamtlich zu betätigen oder soziales Engagement zu zeigen. Besonders kirchliche Organisationen können davon ein Lied singen. Alles ist mittlerweile einem Nützlichkeitsdenken unterworfen und nüchtern wird kalkuliert: Was bringt es mir?“
Zufriedenheit und Lebenserfüllung wären eine mögliche Antwort. Und es ist eine klare Erwiderung auf eine drohende Leere und eine bewusste Entscheidung, die Welt um sich herum vor lauter Konsumdenken nicht zu vergessen. Für andere da sein stellt ein Gefühl der Verbundenheit her, das nur im persönlichen Miteinander möglich ist. Ein Bildschirm kann niemals das dankbare Lächeln eines Mitmenschen ersetzen.
Wahre Geborgenheit ist ein Geben und Nehmen, was nur in einer in sich ruhenden Gemeinschaft möglich ist. Diese Geborgenheit – Kraft und Stütze zugleich – schenkt uns die Familie, vor allem aber und unerschütterlich der Glaube an den einen wahren Gott. Dieser wird uns durch alles hindurch tragen, was uns ängstigt, und helfen, auch die schwierigen Situationen der Zukunft zu meistern.

Zuletzt aktualisiert: 06. Oktober 2016