Wenn Frauen in der Bibel blättern

23. Mai 2008 | von

Ihr sollt wissen, Brüder, dass ich mir schon oft vorgenommen habe, zu euch zu kommen, aber bis heute daran gehindert wurde; denn wie bei den anderen Heiden soll meine Arbeit auch bei euch Frucht bringen" (Röm 1,13). So Paulus in seinem Brief an die Gemeinde von Rom. Dreizehn Mal wendet sich der Völkerapostel Paulus allein in diesem Schreiben an seine Glaubensbrüder. Die Schwestern sind natürlich mitgemeint. Im Galaterbrief betont Paulus ausdrücklich, dass alle Gläubigen aufgrund ihrer Taufe gleich sind: „Deshalb gibt es nicht mehr Juden und Griechen, nicht Sklaven und Freie, nicht Mann und Frau; denn ihr alle seid einer in Christus Jesus" (Gal 3,28). Dann folgt, noch im selben Abschnitt, ein geradezu klassischer Freudscher Lapsus: »Ihr seid alle durch den Glauben Söhne Gottes in Christus Jesus" (Gal 3,26)!

Rahmengebende Gesellschaft. In gewisser Hinsicht ist dieser Fauxpas verständlich. Denn wie alle biblischen Schriftsteller lebte Paulus in einer durch und durch patriarchalisch geprägten Gesellschaft. Insofern bedeutet es schon einen gewaltigen Fortschritt, wenn er betont, dass vor Gott alle Getauften gleich sind. Der Gedanke, dass diese Gleichheit eine Gleichstellung von Mann und Frau auch im sozialen Bereich impliziert, stand für ihn genauso wenig zur Debatte wie die Abschaffung der Sklaverei. Ob und wie man die damaligen Strukturen hätte verändern können, ist ein Problem, das uns erst seit Beginn der Neuzeit beschäftigt. Den biblischen Verfassern hingegen war daran gelegen, dem Liebesgebot (Lev 19,18; Lk 10,27) im Rahmen der zu ihrer Zeit bestehenden Gesellschaftsordnung Geltung zu verschaffen. Wie revolutionär der Gedanke einer Gleichheit von Mann und Frau vor Gott damals war, erahnen wir erst, wenn wir die zeitgeschichtlichen Hintergründe etwas ausleuchten. Als besonders aufschlussreich erweist sich ein Lobpreis des Rabbi Jehuda (um 150 n. Chr.), den der Mann dreimal am Tag sprechen soll und der sich noch heute im (orthodoxen) Gebetbuch Sidur Sefat Emet findet: „Gelobt seist du, Ewiger, unser Gott, König der Welt, der mich nicht als Heiden erschaffen. Gelobt seist du, Ewiger, unser Gott, König der Welt, der mich nicht als Sklaven erschaffen. Gelobt seist du, Ewiger, unser Gott, König der Welt, der mich nicht als Frau erschaffen." Nur am Rande sei vermerkt, dass man hinsichtlich der Stellung der Frau fast in der ganzen antiken Welt ähnlich dachte.

Sexismusdebatte. Die ganze Bibel ist von Männern geschrieben, und zwar aus ihrer Perspektive. Die Schriftauslegung ihrerseits war bis vor wenigen Jahrzehnten fast ausschließlich dem Klerus – also Männern – vorbehalten. Dies brachte es mit sich, dass die Anliegen der Frauen über Jahrhunderte hin kaum berücksichtigt wurden. Das ist mit ein Grund, weshalb Frauen die Autorität der Heiligen Schrift gelegentlich in Frage stellen mit der Begründung, die Bibel sei ein Produkt von Männern, welches diese vorwiegend dazu benützten, um ihre Herrschaft über die Frauen zu festigen. Dass das gelegentlich vorkam, wird keine Kennerin und kein Experte der Kirchengeschichte bestreiten. Wenn aber deshalb die ganze Autorität der Bibel grundsätzlich in Frage gestellt wird, läuft das letztlich auf eine Ablehnung des biblischen Glaubens überhaupt hinaus. Außerdem zeugt eine solche Haltung von einem unhistorischen und unkritischen und damit letztlich von einem fundamentalistischen Denken, insofern die biblischen Texte ohne Rücksicht auf ihre sozialen, kulturellen und individuellen Entstehungsbedingungen betrachtet werden.

Kein Mauerblümchen. Eine weitere, weniger radikale Weise des feministischen Umgangs mit der Bibel läuft im Grunde auf ein befreiungstheologisches Anliegen hinaus. Voraussetzung für diese Art der Annäherung bildet die Tatsache, dass die biblischen Verfasser immer wieder für die Armen, die Schwachen und die Entrechteten Partei ergreifen, zu denen auch und gerade die Frauen, und unter diesen vorab die Witwen, gehören. Eine befreiungstheologisch ausgerichtete feministische Bibellektüre weist darauf hin, dass die biblischen Schriftsteller wie die meisten ihrer Zeitgenossen den Vorstellungen ihrer Zeit verpflichtet waren. Wenn das übersehen wird, besteht die Gefahr, dass die Bemühungen der Bibelleserinnen letztlich in einer Abrechnung mit den Bibelschriftstellern und den Bibelauslegern und damit in einem mehr oder weniger offenen Geschlechterkampf endet – was im Endeffekt lediglich auf eine Umkehrung der herrschenden (Macht-)
Verhältnisse hinausliefe.

Ein besonderes Anliegen der feministischen Bibelauslegung besteht darin, die Frauen endlich aus dem Schatten der Ereignisse und aus dem Abseits der Geschichte herauszuholen. Tatsächlich treten sie ja in der Bibel beileibe nicht als Mauerblümchen und Aschenputtel in Erscheinung, im Gegenteil. In Israel und in der frühen Kirche hatten Frauen wichtige Funktionen inne. Die Erforschung der historischen Rolle der biblischen und frühchristlichen Frauengestalten führt dazu, dass Frauen heute mitunter ganz unerwartet auf neue Identifikationsfiguren stoßen. Sie werden sich bewusst, dass zu den Urvätergeschichten wesentlich auch die Geschichte der Erzmütter Sara, Rebekka, Lea, Rahel … gehört. Sie besinnen sich auf Heldinnen wie Judit und Ester, welche sich in einer Zeit, da die Männer versagten, für ihr Volk einsetzten. Sie verweisen auf Gestalten wie Abigajil, die listenreich den Zorn Davids besänftigte und ihre Leute vor seiner Rache bewahrte (1 Sam 25). Sie erkennen sich wieder in der Witwe Rut, die sich nicht einfach wiederverheiraten ließ, sondern ihrerseits die Initiative ergriff und sich ihren Mann selber aussuchte.

Von Frauen entdeckt. Vorbilder und Identifikationsfiguren finden Frauen auch im Neuen Testament. Sie erkennen sich wieder in Marta aus Betanien, in der Schwester des Lazarus, welche mit den Worten „Ja Herr, ich glaube, dass du der Messias bist, der Sohn Gottes, der in die Welt kommen soll" (Joh 11,27) ein Messiasbekenntnis ablegt, das jenem des Petrus („Du bist der Messias, der Sohn des lebendigen Gottes": Mt 16,16) in nichts nachsteht. Sie verweisen auf die Jüngerinnen Jesu, deren Namen die Evangelisten zu überliefern nicht für nötig fanden (einige wenige Ausnahmen bestätigen die Regel), so dass die meisten von ihnen wohl eine Daseinsbescheinigung, aber kein Gesicht und kein Profil haben (vgl. Mk 15,40-41; Lk 8,1-3).
Überdies erinnert die feministische Exegese daran, dass die prophetische Berufung und Sendung der Bibel zufolge keinerlei Schranken zwischen den Geschlechtern kennt. So rechnet Joël ohne weiteres damit, dass die Gabe der prophetischen Rede grundsätzlich jedem Menschen geschenkt sein kann: „Eure Söhne und Töchter werden Propheten sein, eure Alten werden Träume haben und eure jungen Männer haben Visionen. Auch über Knechte und Mägde werde ich meinen Geist ausgießen in jenen Tagen" (Joël 3,1-2). Auch anderen biblischen Zeugnissen zufolge stellt die prophetische Rede kein den Männern vorbehaltenes Privileg dar. Mirjam, die Schwester des Mose und des Aaron, welche nach dem Durchzug durchs Schilfmeer ein Dankeslied anstimmt und im Gegensatz zu ihren beiden Brüdern doch nichts zu sagen hat, gilt unbestritten als Prophetin. Von der Richterin Debora heißt es, dass die Israeliten ins Gebirge Efraim hinaufzogen, um sich von ihr Recht sprechen zu lassen; sie ist es denn auch, welche ein ganzes Heer zusammenruft, um das Volk von den kanaanitischen Unterdrückern zu befreien (Ri 4,4). Ähnliches gilt von der Seherin Hulda; von ihr und nicht etwa von den Tempelpriestern lässt König Joschija (640 bis 609) sich beraten (vgl. 2 Kön 22; 2 Chr 34).

Junia wird Junias. Von prophetischem Reden lesen wir mehrmals auch im Neuen Testament, von Prophetinnen hören wir jedoch nur am Rand. Lukas erwähnt eine Seherin namens Hanna, welche die meiste Zeit im Tempel im Gebet verbringt (Lk 2,36). In der Apostelgeschichte berichtet er von vier prophetisch begabten Jungfrauen im palästinischen Kaisareia (Apg 21,8-9), ohne sich aber näher über deren Tätigkeit auszulassen. Paulus schließlich verrät uns, dass auch Frauen während der liturgischen Feiern als Prophetinnen in Erscheinung traten (1 Kor 11,5).

Ebenfalls bei Paulus finden sich reichlich Belege, dass Frauen in den frühchristlichen Gemeinden wichtige Funktionen und Aufgaben wahrgenommen haben. Viele seiner Mitarbeiterinnen versteckt der Völkerapostel nicht einfach hinter den Kulissen, sondern stellt sie namentlich vor, so Evodia und Syntyche, die sich in Philippi um die Verbreitung des Glaubens verdient gemacht haben (Phil 4,2-3); ferner Priszilla (oder Priska) aus Korinth, die den Apostel mit ihrem Gatten Aquila auf seinen Reisen teilweise begleitete (Apg 18,1.18; Röm 16,3-4; 1 Kor 16,19); außerdem Frauen, welche wichtige Dienst- oder Leitungsämter innehatten, wie die Purpurhändlerin Lydia, die sich in Philippi taufen ließ (Apg 16,14-15), und Nympha in Laodikeia, die beide einer Hausgemeinde vorstanden (Kol 4,15). Eine wichtige karitative und leitende Stellung scheint auch die im Römerbrief erwähnte Phöbe zu Kenchreä bei Korinth eingenommen zu haben (Röm 16,1-2).

Schließlich nennt Paulus noch eine gewisse Junia, die mit ihm zusammen im Gefängnis und vermutlich mit einem „Apostel" namens Andronikus verheiratet war (Röm 16,7). Diese Junia bezeichnet er unbefangen als „Apostelin". Angesichts dieser Tatsache waren manche Kirchenväter nicht etwa sprachlos vor Staunen, sondern voll lauten Lobes. Die spätmittelalterlichen Theologen allerdings machten dann aus der glaubensstarken Junia kurzerhand einen männlichen Junias, was viele Frauen noch heute auf die Palme bringt, verständlicherweise.

Weibliche Züge. Der Auseinandersetzung mit der Bibel aus fraulicher Perspektive verdanken wir nicht unwesentliche Korrekturen einer einseitig männlichen Gottesvorstellung. Wohl vergleichen die Propheten Hosea und Jesaja Gott mit einem Vater, der sich zu seinem Sohn – gemeint ist das auserwählte Volk – herabneigt (Hos 11,1; Jes 63,15f). Betont wird aber auch die Mütterlichkeit Gottes, welcher sein Volk „gehen lehrte", es „auf die Arme nahm", ihm „zu essen gab"
(Hos 11,1-4). Als Israel klagt, dass es von Gott vergessen sei, zeigt sich Gott von seiner mütterlichen Seite: „Kann denn eine Frau ihr Kindlein vergessen, eine Mutter ihren leiblichen Sohn" (Jes 49,15)? Dann wieder erweist sich die „Hand des Herrn" als zärtliche Hand einer Frau: „Wie eine Mutter ihren Sohn tröstet, so tröste ich euch" (Jes 66,13). Bilder, die auf die weibliche und mütterliche Seite Gottes verweisen, finden sich auch im Neuen Testament. So vergleicht Jesus Gott nicht nur mit einem besorgten Hirten (Lk 15,4-7), sondern (im Gleichnis von der verlorenen Drachme) auch mit einer fürsorglichen Frau (Lk 15,8-9). Geradezu rührend ist der Vergleich, den Jesus in einer Drohrede gegen die Schriftgelehrten verwendet: „Wie oft wollte ich deine [Jerusalems] Kinder um mich sammeln, so wie eine Henne ihre Küken unter ihre Flügel nimmt; aber ihr habt nicht gewollt" (Mt 23,37) – ein Bild dies, das sich an Psalm 17,8 anlehnt („Gott, birg mich im Schatten deiner Flügel").

Die feministische Bibelauslegung zielt vorwiegend darauf, verschüttete Überlieferungen und von den Männern verschwiegene Sachverhalte, welche die Anliegen der Frauen betreffen, in Erinnerung zu rufen. Dabei geht es nicht primär um die Stellung der Frau in der Gesellschaft (übrigens ein durchaus legitimes Anliegen), sondern um das Gottesbild, um die Gott-ebenbildlichkeit des Menschen und um die daraus resultierende Gleichstellung von Mann und Frau.

Positiver Feminismus. Die feministische Bibelinterpretation sieht ihre Aufgabe darin, die im Lauf der Zeit verblassten weiblichen Bilder und Symbole zum Leuchten zu bringen. Damit trägt sie dazu bei, dass Frauen ihre religiösen Erfahrungen nicht in einen bereits vorgegebenen Rahmen einordnen müssen, sondern selber viel beitragen können zur Belebung der Gottesbeziehung und zu neuen, bereichernden Gotteserfahrungen.

Das hat auch die Päpstliche Bibelkommission erkannt, welche sich schon vor anderthalb Jahrzehnten anerkennend über die „positiven Beiträge der feministischen Exegese" geäußert hat: „Seit ihrem Aufkommen nehmen die Frauen aktiver an der exegetischen Forschung teil. Es ist ihnen oft besser als den Männern gelungen, die Präsenz, die Bedeutung und die Rolle der Frau in der Bibel, in der Geschichte der christlichen Ursprünge und in der Kirche wahrzunehmen. Der moderne kulturelle Horizont, der der Würde und der Rolle der Frau in Gesellschaft und Kirche mehr Beachtung schenkt, lässt uns dem biblischen Text neue Fragen stellen, aus denen sich Gelegenheiten für Neuentdeckungen geben. Die frauliche Spiritualität findet und korrigiert gewisse geläufige Interpretationen, die tendenziös waren und darauf hinausliefen, die Herrschaft des Mannes über die Frau zu rechtfertigen."

Zuletzt aktualisiert: 06. Oktober 2016