Wertlos ohne Liebe

01. Januar 1900

Es sind Zeilen, die sich Brautleute oft und gerne für ihre Hochzeitsmesse wünschen. Das Hohelied der Liebe, das Paulus im 12. und 13. Kapitel seines ersten Briefes an die Korinther aufzeichnet. Ich zeige euch jetzt noch einen anderen Weg, einen, der alles übersteigt: Wenn ich in den Sprachen der Menschen und Engel redete, hätte aber die Liebe nicht, wäre ich dröhnendes Erz oder eine lärmende Pauke. Und wenn ich prophetisch reden könnte und alle Geheimnisse wüsste und alle Erkenntnis hätte; wenn ich alle Glaubenskraft besäße und Berge damit versetzen könnte, hätte aber die Liebe nicht, wäre ich nichts. Und wenn ich meine ganze Habe verschenkte, und wenn ich meinen Leib dem Feuer übergäbe, hätte aber die Liebe nicht, nützte es mir nichts. Die Liebe ist langmütig, die Liebe ist gütig. Sie ereifert sich nicht, sie prahlt nicht, sie bläht sich nicht auf. Sie handelt nicht ungehörig, sucht nicht ihren Vorteil, lässt sich nicht zum Zorn reizen, trägt das Böse nicht nach. Sie freut sich nicht über das Unrecht, sondern freut sich an der Wahrheit. Sie erträgt alles, glaubt alles, hofft alles, hält allem stand. Die Liebe hört niemals auf. Prophetisches Reden hat ein Ende, Zungenrede verstummt, Erkenntnis vergeht. Und Paulus münzt diese Zeilen so ganz und gar nicht auf frischverliebte Brautleute, sondern auf seine Gemeinde, in der es (davon gibt der ganze Brief Zeugnis) nur so an Konflikten brodelt, sich Fraktionen bekämpfen, miteinander im Clinch liegen über die richtigen Wege zu glauben, Leben zu gestalten.

Eckwert, Grundhaltung. In dem, was Paulus in höchsten Tönen preist, geht es vorab um eine Grundhaltung, die bei allen Differenzen innerhalb der Gemeinde der Glaubenden, diese prägen soll, ja, an der sie erkannt wird. Es nimmt nicht Wunder, dass sich Antonius genau dieser theologisch-biblischen Tradition verpflichtet weiß, wenn er formuliert:
Wie Gott der Ursprung aller Dinge ist, so muss auch der Mensch die Liebe, den Quell aller Tugenden, vor allen Tugenden besitzen. Ist die Liebe wechselseitig und beharrlich, dann deckt sie die Menge der Sünden zu. Die Liebe muss aber wechselseitig, das heißt auf den Nächsten gerichtet und ein gemeinsames Band sein. Fernen muss sie beharrlich sein, damit sie weder im Glück noch im Unglück versage, sondern ausharre bis ans Ende.
Da ist sie wieder: Liebe als Grundhaltung und Eckwert, als Quellort und Gipfelpunkt aller anderen Haltungen, die Menschen, die Christen geschenkt bekommen und entwickeln wie leben sollen. Sie hat etwas mit Geduld, Beharrlichkeit, mit Ausdauer zu tun. Sie ist etwas erheblich anderes als die berühmte rosarote Wolke,
 der nicht minder vergötterte Himmel Nr. 7. Vielmehr hat die Grundorientierung Liebe im paulinischen und antonianischen Sinn etwas mit einer Grundhaltung des Respekts, der Achtung, der aufmerksamen Freude an der Schöpfung, an den Mitgeschöpfen und am Schöpfer zu tun. Nur dieser amor benevolentiae, diese Liebe des Gut- und Wohlwollens trägt und prägt in beider Sinn die mitunter sehr anstrengende und oft ganz und gar nicht idyllische Begegnung mit anderen. Verklärende Romantisierung hält derartigen Erfahrungen nicht lange stand, schlägt oft genug sehr schnell in das genaue Gegenteil, in blinden Hass, um. Auf diesen Abweg führt Liebe, wie sie Paulus und Antonius zeichnen nicht.
Kleine Übung. Vielleicht wird noch einen Tick deutlicher, was gemeint ist mit dieser geduldigen, heilenden, beharrlichen Liebe, wenn wir uns ein kleines Gedankenexperiment gönnen. Es ist ja verhältnismäßig leicht, gerade in Bezug auf Menschen, die einem besonders nahe sind zu sagen: Das ist ein guter Mensch! Den/die mag ich leiden! Aber versuchen wir ruhig mal, genau diese Worte unseren Urteilen (und die sind je ein Grundmoment des täglichen Ethos) nachzuschicken, in den Fällen, in denen wir uns aufregen, in denen wir kritisieren, bestürzt sind von Handlungen und Worten anderer. – Kleine Pause, nachwirken lassen. So. Genau. Das ist so einfach nicht. – Aber genau darin liegt (und liebt) der spezielle Charakter dessen, was Paulus und Antonius anzielen. Da mag mir jemand noch so auf den Keks gehen (und mein Protest noch so berechtigt sein), wenn ich den Satz Aber ein guter Mensch ist der/die doch! nicht hinterherschicken kann, dann habe ich vielleicht Erkenntnis, habe ich vielleicht Recht, habe Gründe, habe vielleicht dies und jenes mehr noch – die Liebe aber habe ich nicht.

... und der veränderlich Mond für die Nächstenliebe. (Antonius von Padua)

Ergebnisüberprüfung. Es ist wieder einmal Antonius, der diese anspruchsvolle, aber eben auch befreiend-heilende Haltung in ihrer Konsequenz und Bedeutung so knapp wie präzise zusammenfasst:
Glaube ohne Liebe ist wertlos, Glaube mit Liebe geeint aber zeigt den wahren Christen.
Eine weitere Verdeutlichung: Die Liebe, die das Reden, Urteilen, das Handeln (vorab) des Christen bestimmt, ist eine Trias, die im biblischen Doppelgebot von Gottes- und Nächstenliebe als Grundgebot der Sittlichkeit gut aufgehoben ist, aber bei dem man oft und lange auch die dritte Dimension vergessen oder unterdrückt hat. Das wie dich selbst gehört unverzichtbar dazu. In der berechtigten und nicht selten mühevollen Suche nach der Sorge um sich selbst, muss es auch den Punkt geben, an dem ich sagen kann Ich bin auch ein guter Mensch!, bin wert, angenommen und beachtet zu werden. Freilich – den Satz kann man leicht zur billigen Münze umprägen. Aber echt und ehrlich ist er dann, wenn er einem stotternd und zaghaft von den Lippen kommt angesichts all der Brüche, Einbrüche, die ich selbst mit mir erlebe. Sich diese einzugestehen – keine angenehme Sache, aber gleichwohl der Punkt, an dem ich Geduld und Wohlwollen lerne – mir gegenüber, anderen gegenüber. Antonius fängt auch diese Erfahrung ein:
Die strahlende Sonne ist ein Bild für die Gottesliebe und der veränderliche Mond für die Nächstenliebe. Oder siehst du darin keine Veränderlichkeit, sich mit dem Frohen zu freuen und mit dem Traurigen zu weine?. Diese doppelte Liebe macht den Menschen vollkommen, diese doppelte Liebe führt, wenn sie vollkommen ist, den Menschen zu jener
Seligkeit, wie sie die Engel besitzen.
Es ist ein spannend-schwieriger Weg, zwischen Eros (begehrender Liebe), Philia (Freundschaftsliebe in sozialer Dimension), Agape (als selbstloser Liebe) hindurch, dieser Grundsehnsucht des Menschen nach Begegnung und Annahme in ganzheitlicher Dimension zu entsprechen. Aber es ist der Königsweg.
Zuletzt aktualisiert: 06. Oktober 2016