Wie viele Sklaven lassen Sie für sich arbeiten?

05. Oktober 2020 | von

Unser „Thema des Monats” will provozieren: Das Thema „Sklaverei“ wird nicht nur biblisch-historisch umrissen, sondern sehr konkret auf unseren heutigen Lebensstil bezogen. Dabei ist eine einfache Lösung nicht in Sicht, wohl aber Bewusstseinsbildung.

Mein Opa, wie ich ein Pole, hat sich gewiss nicht als Sklave betrachtet – aber irgendwie war er doch so etwas in der Art. In der Nähe von Frankfurt hat er während des 2. Weltkriegs auf einem Bauernhof als Zwangsarbeiter gearbeitet. Von 1939 bis 1945. Er hatte wohl irgendwie Glück, denn mit dem Bauern ist sogar eine gewisse Freundschaft entstanden. Aber freiwillig ist er dort natürlich nicht gewesen. Und er hätte sich bestimmt etwas Besseres vorstellen können. Dass er Jahrzehnte später vom deutschen Staat eine kleine Entschädigung bekommen hat, konnte ihm die gestohlenen Jahre auch nicht wieder zurückbringen. 
Gegen solch offensichtliche Formen von Zwangsarbeit und Sklaverei wehren wir uns heute. Dass es Knechte und Mägde gibt, ist im modernen Europa heute kaum mehr vorstellbar. So glauben wir das zumindest – und meinen, dass die Sklaverei tatsächlich der Vergangenheit angehört. 

Biblischer Umgang mit Sklaverei
Aus der Vergangenheit fällt uns als Christen wohl als erstes das Volk Israel ein. Es befand sich lange Zeit in der Sklaverei in Ägypten. Erst Mose hat das Volk durch den 40-jährigen Wüstenzug wieder in die Freiheit geführt. – Dass es aber nach wie vor Sklaven gibt, bleibt bei den Israeliten trotz der eigenen leidvollen Vergangenheit eine Selbstverständlichkeit. Aber immerhin: Sklaven haben auch ihre Rechte. Sie dürfen beispielsweise nicht einfach grundlos getötet werden – und das war damals im Vergleich mit anderen Nationen schon ein gewaltiger Fortschritt. So musste ein Sklavenhalter, der seinen Sklaven schlug und der Sklave daran starb, mit Bestrafung rechnen – allerdings nicht, wenn der Sklave die Schläge noch ein oder zwei Tage überlebte. Dass man Sklaven überhaupt so behandeln darf, liegt daran, dass sie in der Bibel wie Frauen und Vieh zum Besitz gezählt werden – siehe Exodus Kapitel 20, Vers 17: „Du sollst nicht das Haus deines Nächsten begehren. Du sollst nicht die Frau deines Nächsten begehren, nicht seinen Sklaven oder seine Sklavin, sein Rind oder seinen Esel oder irgendetwas, das deinem Nächsten gehört.“
Auch im Neuen Testament ist es noch selbstverständlich, dass man einen (oder mehrere) Haussklaven hat. Und selbst wenn der Apostel Paulus im Galaterbrief betont, dass es „nicht mehr Juden und Griechen, nicht Sklaven und Freie, nicht männlich und weiblich“ gibt, weil „ihr alle seid einer in Christus Jesus“ (Gal 3,28), mahnt er an anderer Stelle dazu, dass „jeder in dem Stand bleiben (soll), in dem ihn der Ruf Gottes getroffen hat.“ (1 Kor 7,20)

Historische Beispiele
Sehr bekannt ist die Sklaverei aus dem Römischen Reich. Zunächst hat man dort Menschen versklavt, die ihre Schulden nicht mehr bezahlen konnten und dann eben abarbeiten mussten. Später hat man durch die gewonnenen Kriege Ausländer zu Sklaven gemacht. Meist hatten sie niedere Arbeiten zu tun, im Haushalt, im Bergwerk, beim Straßenbau oder in der Landwirtschaft – es gab aber auch gut ausgebildete Sklaven, die Lehrer oder Ärzte waren. Man hatte zwar als Sklave die Möglichkeit, sich „freizukaufen“ oder (mit etwas Glück) freigelassen zu werden – aber gleichzeitig galt auch: Wer in eine „Sklavenfamilie“ hineingeboren wird, wird damit selbst zum Sklaven. Sklaverei wurde also vererbt. 
Etliche Jahrhunderte später, Nordamerika: Hier gab es vor allem in den Südstaaten der heutigen USA Millionen von Sklaven, „importiert“ aus Afrika. 1860, bei einer Volkszählung, wurden fast vier Millionen Sklaven gezählt. Der Preis pro Sklave war sehr gering. Man musste als „Besitzer“ also keine große Rücksicht auf die Gesundheit eines Sklaven nehmen – man konnte ihn ja sehr günstig ersetzen. In manchen Regionen starb ein Viertel der importierten Sklaven schon innerhalb des ersten Jahres nach der Ankunft. Als Sklave musste man regelmäßige Schläge hinnehmen. Der Sklavenhalter konnte mit seinen Sklaven, die meistens auf Plantagen eingesetzt wurden, ziemlich willkürlich umgehen. Aufstände wurden meistens innerhalb von kurzer Zeit wieder niedergeschlagen. Rechtgefertigt haben sich die Sklavenhalter mit einer „Ideologie der Unterordnung“. So wurde behauptet, dass es „Natur- bzw. Gottesgesetze“ geben würde, die den Sklaven eben etliche Stufen unterhalb der Freien stehen lassen. Erst im Dezember 1865 wurde die Sklaverei mit einem Verfassungszusatz verboten – dass „Schwarze“ in den USA noch lange (und bis heute) viele Nachteile erleiden mussten und müssen, ist allgemein bekannt. 

„Moderne“ Sklaverei  mit vielen Gesichtern 
Dass Sklaverei und ähnliche Formen der Ausnutzung aber längst nicht der Vergangenheit angehören, machen immer wieder erschütternde Berichte bewusst. Menschen werden auf Kaffee-Plantagen, auf Schrimps-Kuttern, in der Textilwirtschaft, im Bergbau, im Bau oder in der Fleischverarbeitung ausgenutzt. Ausbeutung in den Lieferketten für die Produktion von Waren für die Industrieländer haben sich in den letzten Jahren auf erschreckende Weise normalisiert. Die „moderne Sklaverei“ hat viele Gesichter: Zwangsarbeit, Zwangsprostitution, politische Gefangene, Kinderarbeit, Rekrutierung von Kindersoldaten sind Formen sogenannter „moderner Sklaverei“. Man schätzt, dass mehr als 40 Millionen Menschen auf der ganzen Welt von „moderner Sklaverei“ betroffen sind, davon sind allein ca. 21 Millionen Menschen Opfer von Zwangsarbeit. Auch in Europa arbeiten viele Tausende Menschen unter sklavenähnlichen Bedingungen. 

Beispiel: Fleisch- und Wurstproduktion 
Die vielen Corona-Fälle während des Sommers in Großmetzgereien haben jetzt neues Licht auf die dortigen Zustände geworfen – ein Beispiel für problematische Arbeitsbedingungen ganz in unserer Nähe. Man steht in solch einem Betrieb meist in einer ziemlich kalten Umgebung an einem ziemlich schnell laufenden Fließband und muss eine schwere Arbeit verrichten. Es geht um hohe Stückzahlen und Profit – nicht um den Menschen, der die Arbeit macht. Viele haben sogenannte „Werkverträge“  und sind bei Subunternehmern oder Sub-Subunternehmern angestellt. Der eigentliche Auftraggeber bezahlt also am Ende nur das vereinbarte Ergebnis – für die Art und Weise des Zustandekommens hat er nur eine sehr eingeschränkte Verantwortung. Wer die Arbeit macht, bekommt oft nicht einmal mehr den Mindestlohn, keine Nachtzuschläge, kein Urlaubsgeld, und Überstunden werden auch nicht vergütet. Für die Unterkunft ist oft ein überteuerter Preis zu bezahlen – und trotzdem bleiben die Arbeiter, oft weit aus dem Osten Europas, auf die Einnahmen für ihre Familien angewiesen. 
In einem Schlachtbetrieb in Rheda-Wiedenbrück arbeiten ca. 4.500 Arbeiter (davon etwa 3.000 mit den erwähnten „Werkverträgen“) und zerlegen am Tag ca. 25.000 Schweine. Es geht also um Masse – und natürlich muss es billig sein.
Die Agraringenieurin Andrea Fink-Keßler erklärt die Hintergründe: „In Dänemark hatte Danish Crown 30 Euro für einen Schlachter bezahlt in der Stunde. Dann haben die ab 2005 angefangen, die Schweine nach Deutschland zu fahren, und dort mussten sie nur 13 bis 15 Euro bezahlen für die Stunde. Aber diese 13 bis 15 Euro, die hat jetzt zum Beispiel Westfleisch gekriegt. Westfleisch gibt an einen Subunternehmer was weiter und der Subunternehmer, der bezahlt seine Arbeitnehmer dann mit maximal 10 Euro, manchmal auch nur mit 1,70 Euro. Die mussten dann noch für die Schlafplätze bezahlen, zum Beispiel 400 Euro für einen Schlafplatz, dann für die Arbeitskleidung, dann für die Werkzeuge und und und. Da ist irre viel abkassiert worden in dem System.“

Mitverantwortung des Verbrauchers
Der Konsument kommt um seine Mitverantwortung für solche Zustände nicht herum. Auf der Jagd nach immer günstigeren Schnäppchen nimmt man wohl allzu oft billigend in Kauf, dass die Produktionsumstände mindestens problematisch sind. In vielen anderen Fällen ist der Zusammenhang zwischen Produkt und Produktionsbedingungen weniger präsent. Die Internetseite slaveryfootprint hilft dabei, zu berechnen, wie viele Sklaven jeder Einzelne beschäftigt. Im Durchschnitt sind es – dank unseres Lebensstils – bis zu 60 Sklavinnen und Sklaven!
Ein Blick auf verschiedene Produkte vermag hier die Augen zu öffnen: Reis ist das verbreitetste Grundnahrungsmittel der Welt. Aber manche Familien sind gezwungen, 15 Stunden am Tag in Reisfeldern zu arbeiten, das Getreide zu ernten und für unseren Markt vorzubereiten und das alles für einen Hungerlohn. Daran denke ich natürlich nicht, wenn bei uns Reis auf dem Tisch steht…
Tausende Kinder arbeiten in Indien an der Produktion von Teppichen. Einige von ihnen wurden von Menschenhändlern verschleppt und an die Fabriken verkauft. Man schätzt, dass es in Indien fünf Mal mehr Sklaven gibt als in irgendeinem anderen Land der Welt. Die Regierung hat sich zum Ziel gesetzt, dem bis 2030 ein Ende zu setzen. Ob dieses Ziel erreichbar ist, steht in den Sternen. Denn es soll ja auch alles billig sei. Und wenn die Inder keine billigen Teppiche mehr herstellen, dann findet sich vermutlich ein anderes Land… 
Rosen sind eigentlich sehr schöne Blumen. Aber auf vielen Rosenfarmen arbeiten Menschen unter unwürdigen Bedingungen – viele von ihnen sind Kinder, die diese Blumen pflücken, bis ihre Finger bluten. Wenn ein Bund Rosen beim Discounter nur 
€ 1,99 kostet, dann kommen diese meist aus Afrika. Der weltgrößte Rosenproduzent ist beispielsweise in Kenia zu finden. 3.000 Menschen arbeiten dort. Es werden Chemikalien verspritzt – ohne Atemschutz. Einfache Regenjacken gelten als „Schutzanzug“. Dass die Arbeiter in heruntergekommenen Baracken leben müssen, versteht sich dann fast von selbst. Monatslöhne liegen oft unter 50 Euro im Monat, selbst wenn die Lebenshaltungskosten niedriger sind: mit Sicherheit kein gerecher Lohn. 
In Deutschland ist der Garnelen-Konsum ziemlich hoch: 1,2 Kilogramm pro Kopf. Ein Großteil wird aus Thailand importiert, wo Menschenhandel in der Industrie weit verbreitet ist. Die Menschen sind unterbezahlt, erleben Gewalt und müssen oft 20 Stunden pro Schicht arbeiten. Krabben, die in der Nordsee gefangen werden, werden auch gern mal Tausende von Kilometern nach Marokko gefahren. Dort werden sie von Frauen gepult – zwei bis drei Sekunden brauchen sie pro Garnele. Sie sind schneller als jede Maschine, und außerdem auch günstiger. 
Und schließlich noch der Kaffee: Pro Sekunde werden in Deutschland 2.315 Tassen getrunken. Aber bis Kaffeebohnen in unserer Tasse landen, ist es ein weiter Weg. Zuerst müssen die Kaffeekirschen in Handarbeit gepflückt werden. Je nach Region variiert die Erntezeit. Und dafür brauchen die Kaffeebauern dann viele helfende Hände und beschäftigen Wanderarbeiter – oft ohne feste Arbeitsverträge oder irgendwelche Sicherheiten. Die Wanderarbeiter reisen oft mit ihren Familien durchs Land. Auch Kinder müssen dann bei der Ernte helfen. 
Fazit: Andere Menschen zahlen einen hohen Preis dafür, dass wir unseren hohen Lebensstandard zu vermeintlich günstigen Kosten leben. Und das ist uns mittlerweile größtenteils selbstverständlich geworden. Papst Franziskus stellt konsequenterweise fest: „Wir haben uns an die Leiden anderer gewöhnt. Es betrifft uns nicht, es interessiert uns nicht, es geht uns nichts an. Die Wohlstandskultur macht uns unempfindlich für die Schreie der anderen und führt zur Globalisierung der Gleichgültigkeit.“ 

Wandel beginnt im Denken 
Für uns sehr viel offensichtlichere „Sklaverei-Modelle“ von früher haben Jahrhunderte gebraucht, bis sie einigermaßen überwunden waren. Auch die „moderne“ Sklaverei wird nicht von heute auf morgen der Vergangenheit angehören. Ein wesentlicher Schritt dürfte sein, dass wir uns sehr viel mehr Gedanken machen und unser Bewusstsein schärfen, wer und was hinter unseren Produkten steckt: Wer zahlt den Preis für unseren Lebensstil? 
Und selbst wenn dann der Einzelne nicht ein komplettes System verändern kann, so haben wir es doch in vielem in der Hand, durch unser Einkaufsverhalten und unseren Konsum etwas zu bewegen. Denn: Man darf sich nicht einfach herausreden. Wir sind mitverantwortlich für alles das, was wir unter „moderner“ Sklaverei verstehen können. 

Zuletzt aktualisiert: 05. Oktober 2020
Kommentar