Wo gibt's noch das Original?

01. Januar 1900 | von

 Die Natur war uns Menschen halt schon immer ein Vorbild. Selbst im Kriege werden bewährte Strategien der Tierwelt imitiert. Täuschen und tarnen sind die Schlagworte, sprich ein verbergendes Verhalten von Tieren, das sie für Feinde unauffällig oder gar unsichtbar macht. Diese Taktik des Versteckens machte sich der erfinderische Mensch seit dem ersten Weltkrieg zu nutze, als die ehemals durchaus farbenprächtigen Uniformen Kampfanzügen in tarnendem Braun, Grau oder Oliv weichen mussten.
Dieses martialische Gepräge hat nun auch unsere aktuelle Modewelt erreicht. Es gibt wahrscheinlich inzwischen kein Kleidungsstück mehr, das nicht irgendwie tarnfarben-gefleckt zu erwerben ist, sei es nun ein Minirock oder das Mützchen für den Zweijährigen. Cool und stark muss sie aussehen, diese Spielart von Uniformität. Vielleicht soll sie den Träger aus einer gewissen Einfarbigkeit herausheben – oder etwa dem (unsicheren) Jugendlichen Schutz vor dem Entdecken im Großstadtdschungel bieten?

Konform statt individuell. Eine Modewelle, die typisch ist für Heranwachsende und ihre Orientierung an Altersgenossen, die vermeintlich bestimmen, was gerade in ist. Ehedem verlässliche Traditionen verblassen immer mehr und so wird die Konformität mit den jeweiligen Gruppengenossen zur Richtschnur des eigenen individuellen Verhaltens. Rasche Vorlieben wechseln einander ab, Reminiszenzen werden schnell durchgekaut (zum Beispiel Musik und Lebensstil der 60-er Jahre), wobei es doch immer um die Verfolgung und Erfüllung der eigenen individualistischen Wünsche gehen soll. Einmalig und damit etwas Besonderes zu sein, diesem Anspruch hechelt der Mensch hinterher – und es gelingt ihm immer weniger.
Wir stecken mitten in einer Krise des Überflusses. Unsere Grundbedürfnisse sind mehr als befriedigt, unser Wohlstand ist allen Unkenrufen zum Trotz immer noch sprichwörtlich. Eine Zeit der Besinnung einlegen, um über das Gegenwärtige nachzudenken oder auch nur eine Geste des Innehaltens einfordern? Viele tun eine solche Denkpause als nutzlos und indiskutabel ab. Denn wir sind mitten drin im Rennen, Schnelligkeit und Wachstum um jeden Preis ist die Devise für Gegenwart und Zukunft. Wir müssen, angetrieben von unserem Konsumdenken, beschleunigen – und das am besten auf der Überholspur. Der Wettbewerb eines jeden mit jedem ist eingeläutet.

Allein der Erfolg zählt. Unser Grundbedürfnis heute ist rein egoistisch: sich vom anderen zu unterscheiden und natürlich besser zu sein. In der Vorstellungs- und Vorbilderwelt der Menschen stehen dementsprechend auch die Wettbewerbsberufe ganz oben in der Werteskala: Der Sportler, der am schnellsten ist, gilt als das größte Idol, auch (oder gerade deswegen?) wenn er für das Erreichen seiner Ziele über Leichen geht und charakterlich nicht gerade das darstellt, was man von einem Vorbild erwarten könnte. In diese Liste gehört natürlich auch die Popgruppe (die am meisten Platten verkauft) oder der bestbezahlte Filmschauspieler. Tabellen und Rangfolgen bestimmen die Konkurrenz, nur Zweitbester zu sein ist gleich bedeutend mit Versagen. Die Verkaufszahl bestimmt die Wertschätzung. Selbst der Künstler, eigentlich doch Sinnbild für den Individualisten, wird eingeordnet und nach Erfolg (nicht nach Qualität!) bewertet. Gibt es doch eine ständig aktualisierte Künstlerrangfolge (kompliziert berechnet nach Anzahl der Ausstellungen in wichtigen Museen, Auszeichnungen, aktuellen Preisen für Bilder etc.), regelmäßig abgedruckt in führenden Wirtschaftsmagazinen. Show und Spektakel sind eben alles.
Konkurrenzdenken wird als ethischer Grundsatz gutgeheißen, der Wettbewerb absolut verklärt. Wer sich dieser scheinbaren Freiheit dieses mechanisierten Lebenszieles verweigert, lässt sich in keine Rangfolge einordnen und ist damit nutzlos. Das Individuum per se ist infolgedessen nur theoretisch wichtig, in der Praxis lediglich als Konsument gefragt.

Diktat des Neuen. Das macht es für den Einzelnen auch so schwierig, ganz einfach anders zu sein oder sein zu wollen. Ein Original also zu sein, jemand, der sich durch eigenständiges Denken, schöpferisches Tun, vielleicht auch sonderlichen Einfällen und Gepflogenheiten von seinen Mitmenschen unterscheidet. Anders, möglichst authentisch muss aber das neue Produkt sein – wieder eine ersehnte Marktlücke gefunden, in der sich das Neue etablieren und möglichst oft verkaufen kann. Sobald sich allerdings der Erfolg einstellt – ob bei Mensch oder Produkt – wird gnadenlos von den Mitbewerbern kopiert. Schließlich ist schneller zu sein als andere das A und O des Wettbewerbs. Bei vielen Fachmessen ist das Fotografieren strikt untersagt, lauern doch Spione der Konkurrenzbetriebe (speziell aus Fernost) auf neue Produktideen, um gnadenlos bereits nach wenigen Wochen billigste Plagiate auf den Markt zu werfen. Aber der Kunde will ja auch betrogen werden, solange der Schein der Authentizität gewahrt wird. Notfalls auch durch ein echtes Label (etwa in Form eines kleinen Aufnähers in Krokodilform als Zeichen für eine Luxusmarke) auf falscher (billigster) Kleidung. Dadurch wird natürlich auch ein gewisses Monopol ausgehebelt, sprich die Sicherheit, alleine ein Marktsegment zu bestimmen – was doch Ziel dieses ganzen Konkurrenzkampfes ist. 

Inflation des Authentischen. Aber wir brauchen all diese Dinge. Was wir allerdings für ein persönliches Bedürfnis halten, wird uns doch nur von den Medien, speziell der Werbung vorgegaukelt, denn diese so genannten Bedürfnisse schauen wir doch nur einander ab. Denn das Individuum ist in seinen ökonomischen Entscheidungen (was brauche ich?) bestimmt nicht frei, weil seine Bedürfnisse durch seine kulturelle Umgebung und sein soziales Umfeld geprägt werden. Die Warenvielfalt scheint bei uns ja unendlich groß zu sein. Wenn wir uns aber beispielsweise einmal auf der Suche nach einem neuen  Möbelstück durch diverse Geschäfte geschleppt haben, werden wir erstaunt feststellen, dass alles Angebotene irgendwie gleich aussieht oder das Gleiche ist (trotz jeweiligem einzigartigem Angebot). Um die eigene Wohnung nun nicht wie die des Nachbarn aussehen zu lassen, bleibt entweder, die eigenen Möbel selbst zu bauen, oder ins teure Luxussegment zu flüchten, wo bekanntlich für Geld wirklich alles (auch jede Geschmacksverirrung) zu haben ist. Denn schließlich soll Meines origineller sein als Deines. Instinktiv spüren wir natürlich, dass es mit diesem kreativen (Markt-)Individuum, als das wir funktionieren sollen (hier liegt schon der erste Widerspruch) nicht weit her ist.

Selbstverwirklichung im Einheitsbrei? Lässt sich denn der Trend zur Gleichmacherei und Anpassung, die schleichende Uniformität – sei es nun im Fernsehprogramm oder im Bereich der Lebensmittel in Form dieser unsäglichen Fertiggerichte – überhaupt noch aufhalten? Grotesk genug, dass es als Reaktion auf die Fastfood-Welle nun auch eine idealisierte Slow-Food-Bewegung gibt. Der Mensch verlernt immer mehr das Genießen, in einer Zeit, in der Zeit käuflich zu erwerben ist, etwa mit einer Tütensuppe, die ja in zwei Minuten fertig ist und uns so viel Zeit spart. Zeit, die wir allerdings erst wieder auffüllen müssen, mit ach so vielen üppigen Freizeitbeschäftigungen, die uns einen regelrechten Freizeitstress bescheren. Denn schließlich darf es keine Langeweile geben, sonst müssten wir am Ende noch über uns nachdenken und kämen womöglich zum Eingeständnis unserer eigenen Grenzen. Aber Grenzen gibt es heutzutage – und das ist wirklich ein Charakteristikum der Zeit – doch nicht! Alles ist machbar und planbar und artet in einer Machbarkeitseuphorie aus. Das macht natürlich auch vor dem Einzelnen nicht Halt: Wir brauchen unseren Mitmenschen nicht mehr, denn jeder verwirklicht sich selbst. Sucht und entwickelt er dabei auch eine eigene, unverwechselbare, also originale Persönlichkeit? Eher nicht. 

Rambomentalität. Diese Verwirklichung findet oft nur unter dem Deckmantel des reinen Egoismus statt, wenn die eigene Freiheit über alles (und jeden) gestellt wird. Ich bin nicht zuständig – diesen Satz bekommen wir heute so oft zu hören. Oder auch nach mir die Sintflut. Niemand fühlt sich mehr für seine Mitmenschen verantwortlich. Die Häufung von Intrigen und Mobbing in vielen Firmen ist beachtlich. Betrügereien (so genannte Kavaliersdelikte) am Mitmenschen haben sich rasant ausgebreitet, schließlich leben wir in einer Ellbogengesellschaft, in der das Recht des Stärkeren gilt. Da ist Durchsetzungsvermögen gefragt, denn wenn jemand sinnbildlich über Leichen geht weichen die Mitmenschen zurück. Diese Beweihräucherung des Selbst wird durch die Medien entsprechend unterstützt, in den filmischen Massenprodukten setzt sich ganz selbstverständlich der Stärkere durch und nicht vielleicht der (bedachtsam) Klügere. Das Kreisen um das eigene Ich bringt uns heute den Thrill – ein Kult, der zwangsläufig entsprechend viele Ego- und Exzentriker gebiert. Wurde bis dato stereotyp unter dem Begriff Exzentriker ein spinnerter Engländer mit etwas skurrilen Macken verstanden, so kann man überspannte Einzelgänger in unserer Gesellschaft zunehmend häufiger finden. Doch unser menschliches Zusammenleben kann auf Dauer nicht nur durch Übertrumpfen und Eliminieren des Schwächeren funktionieren, es ist auf die Übereinkunft über gewisse Ideale und Ziele angewiesen. Und die individuelle Freiheit kann nur auf der Grundlage einer funktionierenden Gesellschaft basieren. Die Kreativität des Einzelnen (der auch noch fähig ist, einen anderen zu verstehen) in all ihren Facetten ist unabdingbar für eine Gesellschaft, auch wenn sich ein Individualist vielleicht nicht allen gesellschaftlichen Normen anpasst.

Freiheit des Individuums. Das Ideal der Aufklärung (als kulturgeschichtliche Epoche des 18. Jahrhunderts) hat maßgeblich für unsere heutige Freiheit und Freizügigkeit gesorgt, da sie gewissermaßen die geistige Grundlage für den Ausbruch der französischen Revolution lieferte. Der Glaube an eine Vernunftstruktur und die natürliche Freiheit und Gleichheit aller Menschen prägte diese Epoche einer umfassenden Neubesinnung. Auch uns würde eine Neubesinnung gut tun, denn viele unserer Zeitgenossen kommen mit ihrer Freiheit gar nicht zurecht und flüchten sich voller Unbehagen in die Uniformität.

Geliebt und einzigartig. Dabei ist doch jeder Mensch ein Original, mit all seinen Stärken und Schwächen. Er wurde als solches von Gott geschaffen, als Bruder und Schwester Christi mit ewiger Würde, mit einer eigenen Biografie und einem absoluten Selbstwert – unabhängig von jeglicher Vorleistung – ausgestattet. Aus Liebe in die Einzigartigkeit berufen!
Wenn wir uns dies wieder bewusst machen, werden wir frei von den Zwängen der Gleichmacherei, frei von einengenden Egoismen, frei von seelenlosem Wettbewerbsdenken. Wir können schöpferischer mit uns selbst, unseren Mitmenschen und der Welt umgehen, selbstbewusster und mit mehr Humor auch auf unsere  kleinen Schwächen schauen. Freilich erfordert es Engagement, sich nicht mehr mit den Dingen und Ideen „von der Stange“ beschränken zu lassen, Mut,  eigene Ideen und Visionen zu entwickeln, auch im Anderen die Einzigartigkeit zu entdecken und zu tolerieren. Aber wir dürfen ja aus einer wunderbaren Kraftquelle schöpfen: unseren Glauben an Gott.

Zuletzt aktualisiert: 06. Oktober 2016