Wo Himmel und Erde sich berühren

01. Januar 1900 | von

Es ist nicht selbstverständlich sich auf den Weg zu heiligen Orten beziehungsweise speziellen Kraftzentren zu machen. Im Laufe der christlichen Geschichte wurde immer wieder gefragt: Ist denn Gott nicht überall, kann er uns nicht genau so gut hören, wenn wir in der Kirche unserer Heimatgemeinde beten? So haben schon Hieronymus, Augustinus, Thomas von Kempen und Erasmus von Rotterdam gefragt.
Rein rational gesehen ist die Frage nach der Berechtigung des Pilgerns zu besonderen Stätten also nicht zu beantworten. Es ist richtig: Gott ist überall und er kann uns an einem Ort genau so gut hören wie an einem anderen. Der heilige Augustinus sagte: Da Gott überall ist, können wir zu ihm nicht mit den Füßen, sondern nur mit dem Herzen gehen.

Impulse des Herzens. Aus psychologischer  Sicht sieht das anders aus. In unserem Glauben spielt die Menschwerdung Gottes eine entscheidende Rolle und deswegen müssen Impulse des Herzens, sehr ernst genommen werden. Es ist eine durchgehende universale Empfindung, dass bestimmte Orte heilig und bereichernde Kraftquellen sind. Dabei können wir unterscheiden zwischen Orten, die wir Menschen für Gott reserviert haben und jenen, die Gott von sich aus erwählt und geheiligt hat.
Ein Wallfahrtsort oder ein spezielles Heiligtum wird von Gott, von Jesus Christus oder einer heiligen Person, die dort gelebt oder sich erfahrbar gemacht hat, auserwählt. Heilige Orte liegen oft an einsamen, schwer zugänglichen Stellen, an denen sich gleichsam eine Tür zwischen Himmel und Erde geöffnet hat. Dort gibt es eine unsichtbare Verbindung zwischen Endlichkeit und Ewigkeit, zwischen Erde und Himmel, zwischen Mensch und Gott.
Wenn an einem Ort eine solche Erfahrung gemacht und sie von den Gläubigen beziehungsweise der Kirche anerkannt wurde, zieht er Menschen an. Sie wollen dort etwas Ähnliches erleben und hoffen, dass Gott ihre Gebete auf eine besondere Weise erhört. Dieses Gefühl wird spontan in jeder Religion und in jedem Zeitalter empfunden.

Kraftquellen. Ein Ort wird zu einem Heiligen Ort durch die Erfahrung der Gegenwart heiliger oder göttlicher Kräfte, die an ihm in einem außergewöhnlichen Ausmaß gemacht werden. An erster Stelle stehen hier die Orte der Heilsgeschichte wie Bethlehem, Nazareth oder Jerusalem. Hinzu kommen die Stätten an denen Erscheinungen oder Wunder erlebt wurden. Sehr früh pilgerte man auch zu den Gräbern der Apostel und Märtyrer zum Beispiel nach Rom oder nach Santiago de Compostela. Auch Orte, an denen ein Heiliger ein Schlüsselerlebnis hatte, wurden Ziele von Wallfahrten, wie beispielsweise der Berg La Verna, auf dem Franziskus von Assisi vor seinem Tod die Stigmata empfing. Ähnlich ist es mit den berühmten heiligen Grotten und Höhlen, wie Subiaco (hl. Benedikt), Manresa (hl. Ignatius v. Loyola). Die Anziehungskraft solcher Stätten beruht oft darauf, dass sich der Besucher mit dem Ereignis beziehungsweise den spirituellen Kräften, die dieses Ereignis ausgelöst haben, verbunden fühlt.
Es gibt auch Heilige Orte, die deswegen als heilig bezeichnet werden, weil es dort eine Reliquie eines Heiligen oder ein besonderes Kultbild gibt. Dazu zählt die Basilika des heiligen Antonius von Padua mit dem Grab des Heiligen.

Durchlässig für Gottes Wirken. Die Erfahrung, dass bestimmte Orte besonders heilig sind und von ihnen eine außergewöhnliche geistliche Kraft ausgeht, kennen die Gläubigen der verschiedenen Religionen, also nicht nur des Christentums. Deshalb brechen die Menschen auch immer wieder zu diesen Stätten auf. Sie alle scheinen instinktiv zu spüren, dass sie Gott – auch wenn er überall ist - an bestimmten Orten leichter finden können. Die Erfahrungen zeigen, dass bestimmte Orte transparenter sind, durchlässiger für das Wirken Gottes, so dass seine Gegenwart dort leichter und unmittelbarer erfahren werden kann. Offensichtlich helfen aber auch diese heiligen Stätten, dass die Pilger sich stärker Gottes Gnadenwirken öffnen und so leichter für Gott erreichbar sind. Die Menschen, die danach hungern Gott zu suchen und zu schauen, werden sich auch in Zukunft auf den Weg zu Heiligtümern machen.

Straße zu Christus. Hier sollen einige traditionelle und neuere geistliche Zentren beziehungsweise Wallfahtsstätten beispielhaft vorgestellt werden. Lourdes in Südfrankreich ist mit dem Mädchen Bernadette Soubirous, der Tochter eines armen Müllers, eng verbunden. Im Februar 1858 erschien ihr an der Grotte Massbielle die Jungfrau Maria. Bis April 1858 sollte das Kind die Gottesmutter noch 17 Mal sehen.
Danach gab es viel Streit um die Erscheinungen und deren Echtheit. Vier Jahre später ließ der Bischof von Tabes veröffentlichen, dass die Erscheinungen Wahrheitscharakter trügen, und die Gläubigen berechtigt seien, daran zu glauben. Er erteilte die Genehmigung zur öffentlichen Verehrung der Lieben Frau von Lourdes.
Bernadette selber wurde Klosterfrau in Nevers und starb dort im Alter von 35 Jahren.
Derzeit pilgern etwa 5 Millionen Gläubige aus 14 Ländern jährlich zu dem Heiligtum, einem Gnadenort für Gesunde und Kranke. Wer hier den Hunderten von leidenden und behinderten Menschen begegnet, wird sich sowohl mit Krankheit als auch mit der Möglichkeit eines Wunders auseinander setzen. Was aber letztlich dort von Gott an Gnaden ausgeteilt wird, entzieht sich unserer Kenntnis. In Lourdes geschehen nicht nur sichtbare Wunder. Viele Menschen haben dort wohl auf die Fürsprache Mariens ihren inneren Frieden wiedergefunden und Heilung der Seele erfahren. Jeder, der einmal dort war, wird bestätigen, dass er mit neuer Zuversicht und gestärktem Glauben nach Hause zurückkehrte.
Die wichtigsten Charakteristika von Lourdes sind der Heilige Bezirk, die Grotte, die tägliche Sakraments- und Lichterprozessionen, der Kreuzweg und die jährlich stattfindenden internationalen Soldatenwallfahrten. Eine Besonderheit sind weniger die Heilungen, als vielmehr die Gnaden, die sich in den Bekehrungen, in der Reinheit des Geistes und der Lebensänderung von betroffenen Menschen offenbaren. Hier wird ein richtungsweisendes Wort von Papst Paul VI. wahr: Maria ist immer die Straße, die zu Christus führt.

Altöttingen ist eine uralte geschichtliche Stätte. Seit über 1200 Jahren zählt der Ort zu den bedeutendsten geschichtlichen, kulturellen und religiösen Zentren Bayerns, als Taufstätte des frühchristlichen Bayern, als Residenzstätte und Pfalz bayrischer Herzöge und Könige. Einer Legende zufolge soll der heilige Rupertus von Salzburg hier den ersten christlichen Bayernherzog und damit das ganze Land getauft haben.
Den Beginn der Wallfahrt lösten zwei Heilungen von Kindern im Jahre 1489 aus. Eines war ertrunken, das andere von einem beladenen Erntewagen überrollt worden. Seit die Kinder auf die Fürsprache der Gottesmutter völlig gesundeten, pilgern Jahr für Jahr unzählige Menschen aus Bayern und der ganzen Welt zur schwarzen Madonna von Altötting.
Allerdings ist Altötting kein Schauplatz einer Wundersucht. Die geistig-religiöse Atmosphäre wird vielmehr bestimmt durch die betende Gemeinschaft des gläubigen Volkes, das sich mit Maria um Christus schart.
Ein interessantes Phänomen ist die seit Jahrzehnten ansteigende Zahl der Fußpilger. Der weitaus größte Teil von ihnen – ihre Zahl wird auf 50.000 geschätzt - sind Jugendliche. Die Wallfahrtsseelsorge hat dieser Tatsache durch die Einführung eigener Programme und Gottesdienste für die Jugend Rechnung getragen.

Marienverehrung. Zu den Besonderheiten von Altötting zählt zweifelsfrei die Intimität der Gnadenkapelle inmitten des weiträumigen Kapellenplatzes mit dem schönen und ansprechenden Gnadenbild. Die Votivtafeln im Innern und im Umgang der Kapelle, sprechen eine eigene Sprache. Es sind Mirakelberichte, geschrieben, gedruckt und gemalt; sie geben Zeugnis von der Fürsprache der Gottesmutter in den verschiedensten Notlagen der Hilfe suchenden Menschen.
Eine andere Form der Huldigung Mariens ist die abendliche Lichterprozession. Sie wurde von den Kapuzinern eingeführt, die den geistlichen Dienst und die Begleitung der Pilger übernommen haben.

Leuchtspur des Franziskus. Wer das spirituelle Kraftzentrum Assisi vorstellt, kommt einfach nicht umhin, von Franziskus und Klara zu sprechen. In der Drei-Gefährten-Legende wird der neue Weg des Franziskus wie das Morgenrot beschrieben: Leuchtend wie das Frührot, wie der Morgenstern, ja wie die aufgehende Sonne der Welt mit glühenden Strömen des Lichts überflutet zu ihrer Fruchtbarkeit, so erschien Franziskus in seinem Aufbruch gleich einem neuartigen Licht.
Franziskus wurde von dem katholischen Theologen Romano Guardini die Christus-Ikone des Mittelalters genannt. Offensichtlich konnte der Heilige Assisis durch die Betrachtung Jesu und die Verwirklichung des Evangeliums viele Züge und Charakteristika Jesu Christi erfahren und diese den Menschen vermitteln.

Anziehend. Von der Stadt sagt man, dass sie mehr einen Zustand bezeichne, als nur eine geographische Lage. Hier treffen sich Menschen, die nichts machen wollen, sie kommen zu Tausenden und werden vom Licht des Heiligen angezogen. Der Marktplatz dient als Treffpunkt der Jugend zu Spiel, Tanz, Gesang und internationaler Begegnung.
Franziskus ist eine einzigartige Persönlichkeit durch seinen schlichten Lebensstil, die Liebe zur Armut, seine Versöhnungsbereitschaft, seinen Friedensdienst, die Liebe zur Schöpfung, seine Gottbezogenheit und Christusmystik und die Liebe zur Kirche. Auch Klara liebte die Kirche und brachte die Rolle der Frau in der Kirche zur Geltung.
Der arme Heilige aus Assisi fasziniert auch heute noch Menschen jeder Konfession und jeden Alters. In Assisi wird seine Leuchtspur aus den Erdentagen sichtbar, die sehr kurz, jedoch völlig erfüllt und zielstrebig waren.

Leben für Versöhnung. Ein Ort mit viel Ausstrahlung ist die Kommunität von Taizé. Sie wurde von Frère Roger mit dem Leitgedanken Leben für die Versöhnung gegründet. Seit 1969 ist die einst evangelische Gemeinschaft auch offen für Katholiken. Die Brüder verpflichten sich zu einem Leben in Ehelosigkeit, Gütergemeinschaft und Anerkennung einer Autorität; sie leben von den Einkünften aus eigener Arbeit.
Seit Ende der 50iger Jahre bestimmt der Zustrom Jugendlicher aller Nationalitäten zu den so genannten Wochentreffen das Leben der Kommunität. Die Mitte dieser Treffen sind die gemeinsamen Gebete mit den Brüdern in der Kirche der Versöhnung. Sie stehen für eine Kirche, die jenseits derzeitiger Schwierigkeiten ein Ort der Versöhnung, des Teilens und der Einfachheit ist.
Ins Rampenlicht tritt die Gemeinschaft vor allem durch die jährlichen Jugendtreffen.
Am Jugendtreffen teilnehmen bedeutet: Grenzen überschreiten, Vielfalt und Offenheit leben, Zeit haben in Gebet und Stille, Hören auf das Wort Gottes und herausfinden wozu Gott ruft.
Das Besondere an Taizé ist sicherlich die Persönlichkeit Frère Rogers und das Beispiel der Brüdergemeinschaft mit ökumenischen Akzenten. In Taizé wird Kirche nach dem Wort Jesu verwirklicht: Wo zwei oder Drei in meinem Namen... Eine Kirche, die auf dem Weg ist. Vor allem ist es eine junge Kirche, ein Ort der Jugend, die hier geistliches Teilen und geistliche Kommunikation erlebt.

Heilung finden. Das Katholische Evangelisationszentrum Maihingen wird von der Gemeinschaft Lumen Christi getragen, die aus der charismatischen Gemeindeerneuerung entstanden ist. Es handelt sich um eine Gemeinschaft von Frauen und Männer, teilweise auch Familien.
Die Mitglieder verstehen sich als heilende Dienstgemeinschaft. Sie verstehen ihre Arbeit im Sinne des Verkündigungs- und Heilungsauftrages Jesu. Die verschiedenen Angebote zielen darauf ab, die Kursteilnehmer auf dem Weg zu einer tieferen Selbsterkenntnis, zu einer offeneren Begegnung mit anderen und zur befreienden Gottesbegegnung zu begleiten.
Das Besondere an Maihingen ist das Angebot, Menschen zu begleiten, die innere Heilung suchen, Heilung von Verletzungen und Heilung von ungesunden Beziehungen.

Stätten der Faszination. Heilige Orte wie unterschiedlich sie auch sein mögen haben eines gemeinsam: Sie geben den suchenden Menschen Impulse, den Glauben zu vertiefen und zu stärken. Der Interessierte erhält Anstöße zur Umkehr, der Frömmigkeit und des religiösen Lebens bis in den Alltag hinein zum Beispiel durch Gebet, Meditation und Gebärdensprache. Der Mensch wird vom Geist Gottes beseelt und hat die Chance, ihn wirken zu lassen bis in die einzelnen Lebensbereiche hinein. Er kann die Bewegungen seiner Seele wahrnehmen, ihnen nachspüren und Heilung erfahren. Vor allem aber ist es das Gemeinschaftserleben, das diese Orte zu Stätten der Faszination macht.

Zuletzt aktualisiert: 06. Oktober 2016