Wohin wollen wir noch wachsen?

01. Januar 1900 | von

Begegnen sich Mars und Erde im Weltraum. Du siehst aber gar nicht gut aus, Erde. Bist du krank?, beginnt Mars das Gespräch. O, mir geht es schlecht, ich leide an Homo sapiens, erwidert die Erde. Daraufhin Mars: Keine Sorge. Das vergeht wieder.

 Was hat dieser Witz mit dem Thema Grenzen des Wachstums zu schaffen, werden sich Leser fragen. Sehr viel. Da ist zum einen die Aussage, dass es dem Blauen Planeten schlecht geht. Es geht ihm schlecht, weil die erfolgreichste aller Arten, die zurzeit auf ihm lebt, maßlos wirtschaftet und wächst. Dann der gallige Trost des Mars und die Mahnung an eben diese Art: Das (sie) vergeht wieder.

 Grenzen des Wachstums. Als im Jahre 1972 das Buch Die Grenzen des Wachstums erschien, entfachte es rund um den Erdball großes Aufsehen. Mitglieder des weltweit renommierten Massachusetts Institute for Technology (MIT) an der Universität Cambridge in den Vereinigten Staaten von Nordamerika hatten im Auftrag des so genannten Club of Rome, einer internationalen Vereinigung von Politikern, Wissenschaftlern und Geschäftsleuten, eine schonungslose Analyse erstellt. Diese beschäftigte sich mit Ursachen und Folgen des Wachstums der Erdbevölkerung, des Industriepotentials, der Nahrungsmittelerzeugung, des Rohstoffverbrauchs und der Umweltverschmutzung. Dazu bedienten sich die Wissenschaftler am MIT eines rechnergestützten Weltmodells, World 3 genannt. Dieses Modell ermöglichte es, mit Hilfe der erwähnten Wachstums-Variablen hochwahrscheinliche Aussagen über die Zukunft der Menschheit zu machen. Das Fazit lautete: Wenn die Menschheit so weiter macht wie bisher, führt ihr Weg geradewegs in die Katastrophe. Die trüben Aussichten bewogen seinerzeit Zeitungen, mit Schlagzeilen wie Computer berechnet Zukunft und gerät ins Zittern, Studie erkennt Katastrophe ums Jahr 2100 oder Wissenschaftler warnen vor Welt-Katastrophe aufzumachen.

 Lage und Lehren. Der wichtigste Erfolg der Studie war, dass sie das Thema Wachstum mit allen seinen Folgen ins Bewusstsein einer breiten Öffentlichkeit verfrachtete. Die notwendigen Lehren jedoch, die eigentlich aus ihr hätten gezogen werden müssen, sind es bis auf den heutigen Tag entweder gar nicht oder nur ansatzweise gezogen worden.

Ein paar Bemerkungen noch zu den in dem Titel verwendeten Begriffen. Unter Wachstum versteht Wahrigs Deutsches Wörterbuch ganz allgemein das Wachsen, das Größerwerden beziehungsweise die Entwicklung. Im Folgenden wird unterscheiden zwischen unkontrolliertem Wachstum im Sinne von wuchern, beispielsweise eines Tumors, und organischem Wachstum, beispielsweise eines Baumes.

Unter dem Stichwort Konjunktur steht in erwähntem Wörterbuch Wirtschaftslage mit bestimmter Entwicklungstendenz. Bei einer Hochkonjunktur steht das Konjunkturbarometer auf schön. Die Wirtschaft wächst. Dies ist in aller Regel verbunden mit höherer Produktion, fallender Arbeitslosenzahl, steigender Inflations- und Zinsrate.

 Bevölkerungsexplosion. Die Atombomben-Abwürfe gegen Ende des Zweiten Weltkrieges über Hiroschima und Nagasaki haben der Menschheit verdeutlicht, dass sie in der Lage ist, sich binnen Stunden in einem atomaren Inferno selbst auszurotten. Davon abgesehen, geht die wahrscheinlichere Gefahr für die Spezies Homo sapiens von ihrer atemberaubenden Fruchtbarkeit aus. Schätzungen kommen zu dem Ergebnis, dass zur Zeit der Geburt Christi rund 160 Millionen Menschen auf der Erde lebten. Es dauerte bis zur Herrschaft der Ottonen im 10. Jahrhundert, bis sich ihre Zahl auf 320 Millionen verdoppelt hatte. Die 600-Millionen-Marke wurde um 1700 erreicht, die Milliardengrenze um 1800. 1927 betrug die Zahl der Menschen schon zwei Milliarden, 1974, trotz des verheerenden Zweiten Weltkriegs, bereits vier, und am 12. Oktober 1999 wurde, statistisch betrachtet, der 6 000 000 000. Mensch geboren. Nach einer Prognose der Vereinten Nationen wird die Erde im Jahre 2050 von knapp neun Milliarden Menschen bewohnt sein. Das Bevölkerungswachstum wird demnach auch weiterhin in einer steil ansteigenden Kurve (exponentiell) vonstatten gehen. Exponentielles Wachstum bedeutet, das es in gleich langen Zeitabständen jeweils zu einer Verdopplung, Vervierfachung, Verachtfachung und so weiter des Wachsenden kommt.

 Industrie auf Rekordniveau. Der Anstieg des Industriepotentials ist der zweite Parameter des World-3-Modells, das eingangs erwähnt wurde. Etwa zur Mitte des 19. Jahrhunderts begann in England die industrielle Revolution, in deren Folge sich eine völlig neue Gesellschaftsform bildete, die Industriegesellschaft eben. Typisch für sie sind der Rückgang der Bedeutung der Landwirtschaft als Arbeitgeber, die Landflucht, neue, genormte Produktionsformen abseits des Handwerks sowie das Entstehen einer zunächst entwurzelten Schicht von Arbeitern, die außer ihrer Arbeitskraft kaum etwas besitzen. Nur 50 Jahre später, an der Wende zum 20. Jahrhundert, hatte die Industrialisierung Westeuropa und die Vereinigten Staaten von Nordamerika erfasst. Noch einmal 100 Jahre später sind etwa mit Japan weitere große Mitspieler auf dem Industrieparkett erschienen und fordern nun ihrerseits ihren Anteil an der Produktion. So genannte Schwellenländer wie etwa China, Indien, Brasilien oder Mexiko mit ihren Menschenmassen stehen vor dem Sprung in die Industriegesellschaft. Mit ihnen steigt die Zahl der industriell entwickelten Länder auf Rekordniveau. Deren Einwohner werden über kurz oder lang die Hälfte der Weltbevölkerung ausmachen.

 Nahrung für alle? Nach einer Studie der Vereinten Nationen verhungern 25.000 Menschen weltweit Tag für Tag, unter ihnen viele Kinder. Andere kommen um, weil ihnen zu wenig oder nur verunreinigtes Trinkwasser zur Verfügung steht. Gleichzeitig gab es in den so genannten entwickelten Ländern der Erde noch nie so viele Dickleibige wie zurzeit. Noch ein paar Zahlen: Jahr für Jahr gehen durch Erosion 75 Milliarden Tonnen Boden verloren. Boden, der ausfällt für Acker- oder Waldbau oder für die Weidewirtschaft. Jährlich entstehen Wüstengebiete neu, die zusammengerechnet der Fläche der drei Bundesländer Baden-Württemberg, Bayern und des Saarlandes entsprechen. Gleichzeitig geht die Menge des verfügbaren unbelasteten Trinkwassers stetig zurück, ebenfalls ein Konfliktpunkt von morgen.

Die Nahrungsmittelproduktion nahm in den vergangenen Jahren stetig zu, so dass sie rein rechnerisch ausgereicht hätte, alle Menschen zu ernähren. Doch wuchs zum einen parallel die Weltbevölkerung um 1,5 Prozent jährlich, zum anderen fließt der Löwenanteil der Nahrungsströme noch immer in die reichen Ländern. Somit ist, nach wie vor, einer Schätzung der Vereinten Nationen zufolge von den sechs Milliarden Menschen knapp ein Sechstel chronisch unterernährt.

 Zauberlehrling Mensch. Neben dem Hunger im eigentlichen Sinn führt der ständig steigende Hunger – besser gesagt die Gier – nach Rohstoffen und nach Energie die Menschheit immer näher an den Abgrund. Auch in diesem Bereich sind die Unterschiede zwischen reichen und armen Nationen eklatant: Während 1995 ein Bürger der Vereinigten Staaten von Nordamerika 11.312 Kilogramm Steinkohleeinheiten an Energie verbrauchte, brachte es ein Einwohner des Tschad lediglich auf 7. Bei Bodenschätzen wie Gold, Silber, Eisen oder Kupfer ist die Situation ähnlich. Die reichsten Länder schneiden sich den größten Teil vom Kuchen ab.

Zum Abschluss des Zustandsberichtes werfen wir noch einen Blick auf die Lage der Umwelt. Sie ist insgesamt so schlecht, wie sie es seit Erscheinen des sich selbst weise nennenden Homo sapiens niemals zuvor war. Tag für Tag sterben 150 Tier- und Pflanzenarten aus. Viele davon, etwa in den Regenwäldern der Erde, ohne je von einem Wissenschaftler erblickt, geschweige denn erforscht worden zu sein. Der Mensch heizt die Atmosphäre seines Heimatplaneten mit klimabeeinflussenden Gasen auf, deren Auswirkungen bereits sichtbar sind. Er bringt Chemikalien in seine Umwelt und Nahrung, ohne sie vorher genügend erforscht zu haben. Er lässt genetisch verändertes Leben auf die Schöpfung los, ohne die Folgen zu bedenken. Ganz wie Goethes Zauberlehrling.

 Wege aus der Gefahr. Die Zustandsbeschreibung liest sich ernüchternd und erhebt trotz ihrer Dramatik keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit. Die Wirklichkeit ist, wie so häufig, noch viel erschreckender. Aber es gibt durchaus Hoffnung.

Neben dem bisher vorherrschenden Wuchern aller für das Überleben der Menschheit entscheidenden Parameter existieren Denkmodelle, die von deren organischem Wachstum ausgehen. Das schon seit Jahrhunderten in der Forstwirtschaft bekannte Prinzip Nachhaltigkeit, demzufolge nie mehr verbraucht werden darf als nachwächst, macht sich allmählich in den Köpfen jener Wissenschaftler und Politiker breit, die über den Tellerrand des Heute hinaus blicken. Für diese ist die Sorge um kommenden Generationen kein bloßes Lippenbekenntnis.

Zuallererst gilt es, das ungebremste (exponentielle) Wachstum der Erdbevölkerung in den Griff zu bekommen. Auf lange Sicht wäre es für den Planeten und dessen Bewohner von Vorteil, wenn die Gattung Mensch zahlenmäßig sogar schrumpfte. In einem endlichen System- dies ist der Blaue Planet nun einmal, mag es uns passen oder nicht – bedeutet weniger Platz für eine Art zwangsläufig mehr für eine andere. Wenn die jetzt Lebenden wollen, dass ihre Enkel und Urenkel dereinst noch Elefanten, Tiger, Wale oder Pinguine in freier Wildbahn und in ihrer angestammten Heimat beobachten können, so müssen die Weichen jetzt gestellt werden. Es muss Schluss sein mit der Zerstörung letzter Naturräume wie Tropenwälder, Hochgebirge oder Küsten. Schluss sein mit der Überfischung der Meere. Die Ressourcen sind knapp und müssen für immer mehr Menschen ausreichen.

Bewohner eines reichen Landes haben nicht das Recht, mit dem Finger auf einen Landsucher in Brasilien zu deuten, der aus lauter Not den Wald abfackelt. Nur, um sich und seiner Familie überhaupt die Chance auf ein Morgen zu eröffnen. Wer ums tägliche Überleben kämpft, dem sind langfristige Ziel wie Klima- oder Artenschutz egal. Weil er nicht einmal weiß, ob er den neuen Tag, geschweige denn das neue Jahr überhaupt erleben wird.

 Gerechte Güterverteilung. Die Umwelt in Europa wird immer artenärmer und eintöniger, weil eine hochsubventionierte Landwirtschaft längst jeden Bezug zur Natur verloren hat. Nur damit die EU- Bewohner, auf ihr Einkommen bezogen, den gleichen oder einen geringeren Preis für Eier oder Butter zahlen wie die Generation vor ihnen. Das Land wird von Straßen zerschnitten, von Industrieansiedlungen überbaut. Kaum ein Fluss fließt mehr so, wie vor Erscheinen des Menschen. Gelingt es nicht, die überbordende Vermehrung der Menschheit zu stoppen, sind alle weiteren Überlegungen ohnehin Makulatur.

Als Nächstes muss sich die Menschheit endlich ernsthaft über die gerechte Verteilung der Güter dieser Erde unterhalten. Geschieht dies nicht bald, wird es zu blutigen Kriegen um Land, Wasser oder Erdöl kommen, gegen die der Zweite Weltkrieg nur ein Geplänkel war. Vergessen wir nicht, dass einige der ärmsten Länder der Welt, wie etwa Nordkorea, zwar ihre Bevölkerung nicht ernähren können, nichtsdestotrotz jedoch Atomwaffen besitzen. Wer nichts mehr zu verlieren hat, wird diese auch einsetzen!

Dabei kommt den reichen Nationen der Welt eine absolute Vorbildfunktion zu. Allein die Vorstellung etwa, zwei Milliarden Chinesen und Inder wären genau so motorisiert wie die Nordamerikaner oder Westeuropäer und produzierten ähnlich viele Treibhausgase, treibt jeden Ökologen in den Wahnsinn. Der Zusammenbruch der Atmosphäre wäre wohl unvermeidlich.

Andererseits. Mit welchem Recht erwartet die Erste Welt von der Dritten, dass diese auf Errungenschaften wie Automobil, Klimaanlage, Fernseher, Kühlschrank und was auch immer, verzichtet, während sie gleichzeitig weiterhin in Saus und Braus lebt?

 Umdenken jetzt! Es führt kein Weg daran vorbei: Das gerechte Teilen des Vorhandenen wird die nördliche Welt materiell ärmer machen. Nur wenn die Habenden mit den Nichthabenden teilen, werden sie gemeinsam ihr Überleben als Art bewerkstelligen. Nur dann wird Friede herrschen auf dem Blauen Planeten.

Doch der Verzicht bedeutet beileibe nicht weniger Lebensqualität. Im Gegenteil.

Welcher Mensch zöge nicht einen klaren Fluss einem stinkenden Kanal vor, saubere Luft einer abgasgeschwängerten, gesunde Nahrungsmittel irgendwelchem Industriefraß?

Die Werkzeuge für eine Kehrtwende haben wir längstens in der Hand. Sie lauten Wirtschaften in Kreisläufen bei effizienter Vermeidung von Abfällen und Einsatz sauberer Energie aus Sonne, Wind, Wasser, Biomasse oder Gezeiten. Eine Zahl dazu: Die Sonnenstrahlen, die an einem einzigen Tag auf die Erde treffen, machen des 15.000fache des Tagesenergieverbrauchs der Menschheit aus.

Das Umdenken aber muss jetzt beginnen, das Andershandeln ihm auf dem Fuße folgen. Die Zeit drängt. Ansonsten droht dem Homo sapiens das Ende gegen Ende des Jahrhunderts.

Zuletzt aktualisiert: 06. Oktober 2016