Wunderkind zur Wunscherfüllung

01. Januar 1900 | von

 

Neuerdings gibt es Leute, die es für ein unzumutbares Risiko halten, ein Kind als Geschenk Gottes anzunehmen. Sie haben nämlich ihre eigenen Qualitätsvorstellungen einer solchen Anschaffung und möchten diese Angelegenheit lieber selbst in die Hand nehmen. Für sie gibt es jetzt verheißungsvolle bioproduktive Angebote: Wissenschaftler verkaufen ihre Samenzellen. Models versteigern ihre Eizellen. Hauptsache der Gen-Spender ist intelligent und schön (vorausgesetzt, die Gene werden nicht aus Versehen vertauscht)! Damit nicht genug. Bald kann man sich auf diesem Weg Kinder nach Wunsch bestellen, zum Beispiel ein attraktives Mädchen mit blauen Augen, lockigen Haaren, sportlicher Figur...– ganz einfach ein Vorzeigekind. Das darf dann ruhig etwas kosten. Denn welche Mutter will schon ein hässliches oder welcher Vater ein dummes Kind?

Enttäusche uns nicht! Kinder, die solchen Wunschvorstellungen nicht entsprechen, müssen sich richtig minderwertig und benachteiligt vorkommen und das Gefühl haben, eine Enttäuschung zu sein. Betrachten wir zum Beispiel das Verhalten von Herrn und Frau Huber. Vor der Geburt ihres Tommy waren sie voll freudiger Erwartung und glücklich darüber, ein Baby zu bekommen. Hauptsache gesund! sagten sie. Aber bald nach der Geburt reichte ihnen das schon nicht mehr. Ihr Wunschkind durfte auf keinen Fall nur Durchschnitt sein. Tommy musste sich auszeichnen, Erfolge haben und damit Bewunderung und Neid erregen. Es sollte das erste Kind seiner Altersgruppe sein, das laufen, mit Erfolg aufs Töpfchen gehen und Mama sagen könnte. Später in der Schule erwarteten die Eltern nur beste Zensuren. Die Lehrer sollten voll Hochachtung Begabung und Intelligenz ihres Kindes rühmen. Jahr für Jahr stellten Papa und Mama ihren Sohn unter Erwartungsdruck: Du musst am besten sein! Enttäusche uns nicht! Das konnte der neunjährige Junge schließlich nicht mehr verkraften. Er wurde krank.

Maßstab Leistung. Was nützt es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewinnt? (Mt 16,26) Vielen Menschen unserer Gesellschaft ist diese Aussage unverständlich geworden. Sie sind von einem Denken besetzt, in dem Leistung und Erfolg in der Werteskala ganz oben stehen. Daran ermessen sie Sinn und Ziel ihres Lebens. Nur der gilt etwas, der begabt, leistungsstark und durchsetzungsfähig Karriere macht. Auf diese Weise kann man angeblich alle Ziele erreichen, die im heutigen materiellen Produktionsdenken und in der täglichen Werbung den Spitzenplatz einnehmen: Macht, Ansehen, Geld, Besitz, Konsum, Schönheit, Spaß... Nichts gegen Anstrengungsbereitschaft und Fleiß! Sie sind wichtige und altbewährte Tugenden. Bedenklich wird es jedoch, wenn schon bei Kindern Leistungserfolge zum alleinigen Maßstab für ihre Wertschätzung gemacht werden. Wie segensreich ist auf dem Weg zu menschlicher Reife, dass wir Grenzen haben, die von Anlage und Umwelt gesetzt sind und auch mit größtem Leistungswillen nicht beseitigt werden können. Dürfen wir da von Kindern mehr erwarten als sie geben können, nur weil wir vielleicht unsere eigenen unerfüllt gebliebenen Lebensziele in ihnen verwirklicht sehen wollen?

Selbstwert gleich Null. Ich erinnere mich an Helen. Ein schüchternes junges Mädchen trat ins Sprechzimmer, blieb stehen und schlug die Augen nieder. Im Gesicht waren Puder und Schminke dick aufgetragen. Darunter verbarg sie ihre Pickel. Im Gespräch offenbarte sie mir ihre Hauptprobleme: schlechte Schulleistungen und ihr Aussehen, das dem herrschenden Schönheitsideal so gar nicht entsprach. Helens Selbstwertgefühl war stark angeschlagen. Ihr bisheriges Leben war geprägt von Leistungsdenken und Äußerlichkeiten, wie dem Streben nach Schönheitsidealen. Die Mutter machte ihr Vorhaltungen: Ich hatte so große Pläne für deine Zukunft! Aber mit dir muss ich mich eher schämen! Solchem Druck durch Lieblosigkeit und gleichzeitiger Versagensangst war Helen nicht gewachsen. Zunehmend fühlte sie sich immer mehr gedemütigt, minderwertig und mutlos. Ihr Leben schien ohne Hoffnung und Sinn. Wie hochbrisant ihre Not war, zeigte sich bald. Helen schwankte eines Tages in eine Arztpraxis und sagte: Ich habe Tabletten eingenommen. Ich will nicht mehr in dieser Welt leben. Im Krankenhaus wurde ihr dann sofort der Magen ausgepumpt. Sie blieb am Leben. Ihre Selbstachtung aber war am Tiefpunkt angekommen. Sie verbarg nicht einmal mehr ihre Pickel. Ich dachte: Sie sind ein Spiegelbild ihrer gequälten Psyche.

Kriterium Schönheit. Wie müssen sich Kinder fühlen, die im Begabungs- und Erfolgsvergleich mit anderen nicht mithalten können? Sind sie weniger wert als Mitschüler, die in der Bewertungsskala der Schule offensichtlich die ersten Plätze abonniert haben? Liegt es wirklich an mangelnder Anstrengungsbereitschaft? Sind sie faul, dumm oder böswillig? Nein. Meist hat ihre Umwelt sie psychisch krank gemacht. Sie fühlen sich minderwertig, sind angeschlagen und überfordert. Dazu passt die heute hochgezüchtete Wertung körperlicher Attraktivität, der auch viele Erwachsene erliegen. Ständig werden wir von einer blühenden Schönheitsindustrie aufgefordert, unser „mangelhaftes“ Aussehen für teures Geld zu verbessern. Eine andere Seite des Körperkultes:  Wir akzeptieren wie selbstverständlich, dass intime Körperteile offen zur Schau gestellt werden. Selbst Kinder werden möglichst verführerisch herausgeputzt, um an Schönheitswettbewerben für Kinder-Models teilzunehmen. All das führt zu jenem übermächtigen Anspruchsdenken hinsichtlich des äußeren Erscheinungsbildes, das in einen unsinnigen Schönheitswahn mündet. Wenn überzogener elterlicher Ehrgeiz den Wert des Kindes an Skalen wie Leistung, Erfolg, Größe und Schönheit misst, fühlen sich all jene Kinder, die da nicht mithalten können, wie Versager und nicht liebenswert. Sie fühlen sich allein gelassen, es stellen sich psychische Nöte, Verhaltensprobleme, Leistungsverweigerung oder gar Todessehnsucht ein.

Superman, Supergirl. Mein Benno soll einmal die Technische Universität besuchen, sagte mir kürzlich der Vater eines zehnjährigen Jungen. Ich will nur sein Bestes! Eine Mutter meinte: Meine Erika hat das Zeug zum Model mit Spitzenverdienst. Hinterfragt man solche dummen Erwartungen, stellt sich heraus, dass es weniger ums Kind geht als um die Erwachsenen selbst. Die meisten Kinder bringen nicht jene Spitzenbegabung mit, welche ihre ehrgeizigen Eltern sich wünschen. Sie lernen laufen und sprechen nach einem individuellen Entwicklungsplan und nicht nach dem Guinnessbuch der Rekorde. Sie sind weder Superman noch Supergirl, sondern ganz einfach Kinder mit der natürlichen Sehnsucht, geliebt zu werden, so wie sie sind. Sie alle sind Geschöpfe Gottes und daher von gleich hohem Wert, selbst wenn sie behindert sind. Jeder Einzelne von uns ist eine einmalige Liebesidee Gottes. Eine Gesellschaft, welche die von Gott geliebte individuelle Personalität eines Menschen nicht respektiert, sondern Anderssein als soziale Unzumutbarkeit einstuft, denkt und handelt ungerecht, kaltherzig, lieblos und legitimiert schließlich die Beseitigung des nicht Akzeptierten durch Töten.

Liebe ohne Vorbehalt. Jedes Kind ist eine einzigartige, unwiederholbare Liebesidee Gottes, einmalig hineingeboren in Raum und Zeit. Gott hat es in seine Existenz gebracht und einen einmaligen Plan mit ihm. Für uns ist es wertvolle Leihgabe. Gute Erziehung achtet besonders auf die Respektierung des Wertes jedes einzelnen anvertrauten Kindes, auf dessen Selbstachtung, Selbstwertgefühl und existentielle Stabilität. Wir sollten uns ernsthaft vor Augen führen, dass Leistung und Erfolg keineswegs den Wert eines Menschen ausmachen. Nehmen wir jedes Kind vorbehaltlos in seiner Individualität an. Wie gut, dass es nicht genmanipuliert ist und wir ihm gerade wegen seiner Schwächen unsere Liebe und Fürsorge schenken dürfen! Lassen wir es spüren, dass es um seiner selbst willen geliebt ist und dass unsere Liebe nicht von Leistung, Äußerlichkeiten und Verhalten abhängt.

Ein schwieriges Kind? Ich erinnere mich an meine Zeit als Dorfschullehrer. Eines Morgens stand eine Mutter vor der Türe, an der Hand ihre kleine Tochter. Ich möchte meine Toch­ter für die Schule anmel­den, begann sie. Sie heißt Monika und ist acht Jahre alt. Ich blic­kte in zwei ängstliche Augen. Herzlich will­kommen bei uns! sagte ich. Sie schlug sofort die Augen nieder. Ein schwieriges Kind, fuhr die Mutter fort. Ich wünsche mir, dass sie einmal studiert und Ärztin wird. Ich selbst wäre das so gerne geworden. Doch Monika will sich nicht anstrengen. Aber ich werde das schon noch hinkriegen. Ihre Tochter blickte weiter zu Boden.
Monika zeigte sich im Unterricht un­auf­merksam, leistungsschwach, wenig belastbar. Ich bemerkte, wie die anderen Kinder sie mieden. Monika nässte ein. Man konnte es riechen. In meinem Herzen spürte ich, wie in die­sem Kind langsam etwas kaputtzugehen drohte. Ich beschloss, ihr zu helfen. Am nächsten Morgen sagte ich im Unterricht: Jeder von uns ist anders. Keiner kann etwas dafür, dass er nicht so ist, wie er gerne sein möchte. Ich mag jeden von euch, ob er reich oder arm, begabt oder nicht begabt, schön oder nicht so schön ist. Ich mag dich, dich und dich, Monika. Nach Unterrichtsschluss sagte ich zu ihr: Ich weiß, dass du Kummer hast. Wir wollen ge­meinsam versuchen, dass alles gut wird. Willst du das auch? Sie nickte stumm und lief nach Hause.
Es wurde langsam besser mit Monika. Inzwischen erfuhr ich, dass demütigende Verletzungen ihre Gefühle quälten. Eines Tages ließ ich alle Kinder einen eigenen Brief an mich schreiben: Lieber Herr Lehrer... - Monika gab einen kleinen Zettel ab. Was darauf stand, gehört zu meinen schönsten pädagogischen Erinnerungen:

Selbstverwirklichung der Eltern. In der Erziehung geht es darum, dem Kind zu helfen, seinen persönlichen Weg zu gehen und seine nur ihm von Gott zugedachte Aufgabe zu erfüllen. Das ist keine einfache Erkenntnis. Es bedeutet, das Kind mit dem Sinn seines Lebens in Wort und Beispiel vertraut zu machen und gleichzeitig seine Individualität zu respektieren. Es geht nicht darum, mit dem Kind unsere selbstbezogenen Wunschvorstellungen zu verwirklichen. Es ist ein einmaliger und persönlich von Gott berufener Mensch und darf keinesfalls zur Prestige-Lebensausstattung oder zur Selbstverwirklichung Erwachsener missbraucht werden. Es braucht vielmehr unsere Hilfen für seine persönliche Entfaltung, die aber immer auf dessen individuelle Bedürfnisse abgestimmt sein müssen.

Autorität ohne Unterdrückung. Kinder sind von Gott der elterlichen Autorität anvertraut und überantwortet. Daher ist die Wahrnehmung dieser Autorität eine richtige, selbstverständliche und bedeutsame Erziehungshilfe. Echte Autorität ist aber nie Unterdrückung. Sie entsteht von Natur aus durch gelebtes Vorbild, liebende Führung und freigebendes Vertrauen. Wir sollten uns auch bewusst machen, dass Kinder weder unser Besitz sind, mit dem wir beliebig verfahren könnten, noch seelenlose „Objekte“ uneinsichtiger Erziehungseinschüchterung. Der Apostel Paulus stellt hierzu klar: „Ihr Väter, schüchtert euere Kinder nicht ein, damit sie nicht mutlos werden.“ (Kol 3,21) Erwachsene, welche Kinder aus ungerechtfertigten Wunschvorstellungen oder Unzufriedenheit in ihrer Persönlichkeitsentwicklung hemmen, begehen meist einen größeren Verstoß gegen das Vierte Gebot als Kinder, die aus dieser Unterdrückung in ihrem existenziell notwendigen Streben nach Loslösung ungehorsam reagieren.

Wachsen in Licht und Sonne. Wir pflanzen ein junges Bäumchen in der Hoffnung, dass es seine Wurzeln fest im Erdreich verankert, eine Krone entfaltet und bald Knospen treibt, um später einmal gute Früchte zu tragen. Niemand würde meinen, das junge Bäumchen könne sich ohne Sonne im Dunkeln, ohne Nährstoffe und belebende Wasserzufuhr entfalten und überleben. Ein erfahrener Gärtner weiß aber auch, dass ungeduldige Überzufuhr an künstlichem Dünger schließlich das Bäumchen schädigt und absterben lässt.
Auch Kinder brauchen Licht und Sonne. Pädagogisch heißt das: Liebe, Annahme, Zuwendung, Selbstwertbestätigung. Kinder brauchen auch Nährstoffe und belebende Wasserzufuhr. Pädagogisch heißt das: Ermutigung, Lob, Anerkennung, Verständnis. Alles das mobilisiert jene Kräfte, mit deren Hilfe das Kind Wurzeln ins Erdreich seines Lebens schlägt, seine Krone entfaltet, Knospen bildet und einmal gute Lebensfrüchte trägt. Fehlen diese Kräfte, entwickelt sich ein schwaches, verkrüppeltes und unsicheres Bäumchen. Wird ein Übermaß an hochdosierten Leistungserwartungen eingedrückt, sterben Lebensfreude und Entfaltungsdynamik ab.

   

Zuletzt aktualisiert: 06. Oktober 2016