Zeitzeuge beim Zweiten Vatikanischen Konzil

18. September 2012 | von

Unvergesslich der milde Herbstabend des 11. Oktober 1962 auf dem Petersplatz in Rom. Hell erstrahlt die Fassade der Peterskirche in der Dämmerung, darüber glänzt der Mond. Papst Johannes XXIII. gibt am erleuchteten Fenster seines Arbeitszimmers seiner Freude Ausdruck: „Heute ist ein neues Licht aufgestrahlt. Von heute an leuchtet das Licht des Konzils über der Welt. Seht, auch der Mond freut sich heute … und wenn ihr dann nach Hause kommt, lasst es auch eure Kinder wissen: Fate loro una carità – macht ihnen eine kleine Freude!“



In einem feierlichen Gottesdienst in St. Peter hatte der Papst am Vormittag das 21. Ökumenische Konzil eröffnet. In der Liturgie setzte Johannes XXIII. bereits da Zeichen: Er zog nicht mit der Tiara, der dreifachen Krone, dem Zeichen seiner Macht, in die Peterskirche ein, sondern mit der Mitra, dem Zeichen des Bischofs von Rom. Und mitten in der Peterskirche stieg er von der Sedia gestatoria (Tragstuhl) herab: Er wollte als Bruder unter Brüdern durch die Reihen der über 2.500 Konzilsväter (Bischöfe aus aller Welt) schreiten. Die Erwartungen (oder auch Befürchtungen) an das Konzil waren hoch gespannt.



KARDINÄLE UND WELT STAUNEN

Am 25. Januar 1959, dem Ende der Weltgebetsoktav für die Einheit der Christen, ein Vierteljahr nach seiner Wahl, hatte Papst Johannes XXIII. an bedeutungsvoller Stätte, am Grab des Völkerapostels Paulus, das Konzil angekündigt – zum großen Erstaunen der anwesenden Kardinäle und der Weltöffentlichkeit. Er selbst deutete das Vorhaben als Eingebung des Gottesgeistes und das Schweigen der Kardinäle als Ergriffenheit von diesem Geist.

Bei vielen Katholiken stellten sich hohe Erwartungen ein: Liturgische Bewegung, Bibelbewegung, Laienapostolat, Annäherung der Konfessionen. Die Wiederbelebung der Osternacht durch Papst Pius XII., der Eucharistische Weltkongress 1960 in München ließen Ausschau halten nach einem vertieften Kirche-Sein, besonders in einer erneuerten, volksnahen Feier der Liturgie, und eine positive, offene Haltung dieser Kirche zur Welt, besonders auch zu den anderen christlichen Konfessionen (Ökumene) und Religionen.

Doch da standen seit über hundert Jahren harte Abgrenzungsversuche, Mahnungen, Warnungen, Verurteilungen von Seiten der Päpste und mancher Bischöfe entgegen. Zehn Kommissionen im Vatikan bearbeiteten die in 17 Bänden gesammelten Vorschläge der Bischöfe und Hochschulen aus aller Welt und erstellten daraus über siebzig Beschlusstexte (Schemata) für das Konzil, meist in streng traditioneller (neuscholastischer) Richtung. Dazu kam ein halbes Jahr vor dem Konzil die päpstliche Enzyklika „Veterum Sapientia“, in der für die (West-) Kirche das Latein als ausschließliche Sprache für Liturgie und theologischen Betrieb (Hauptfächer) vorgeschrieben wurde.



EIN SPRUNG NACH VORNE

Alle Vorlagen der zehn Kommissionen mussten einer Vorbereitenden Zentralkommission vorgelegt werden, welche die meisten zur Neubearbeitung zurückverwies, weil sie nicht genügend den Vorgaben des Papstes entsprachen. Johannes XXIII. hatte mehrmals seine Zielvorstellungen vom Konzil formuliert: Es sollte ein „pastorales Konzil“ werden, ohne Verurteilungen. In der Eröffnungsansprache sagte er es klipp und klar: Das Konzil sollte für die Kirche „un balzo avanti“ („einen Sprung nach vorne“) bringen, indem es den Menschen „nicht die Strenge des Gerichts“, sondern „das Heilmittel der Barmherzigkeit“ bringt. Somit sollte ein „Aggiornamento“ geschehen; Papst Paul VI. interpretierte dieses Stichwort seines Vorgängers als „Heutigwerden des christlichen Glaubens“.

Zu ihrer ersten Arbeitssitzung treten die Konzilsväter am 13. Oktober 1962 zusammen. Insgesamt gibt es in den vier Jahren 168 solcher Arbeitssitzungen, „Generalkongregationen“ (Vollversammlungen) genannt. Tagungsort ist das mit Tribünen und Loggien ausgerüstete Hauptschiff der Peterskirche, die „Aula“. Jede Generalkongregation beginnt mit der heiligen Messe und der Inthronisierung des Evangelienbuches; die Zeremonie soll Christus, den Auferstandenen, als das eigentliche Haupt der Versammlung im Symbol sichtbar machen. Dann gebietet der Generalsekretär des Konzils, der die Versammlung in der ersten Periode (1962) leitete, Erzbischof Pericle Felici (später Kardinal): „Extra omnes!“ Alle Nichtbeteiligten verlassen den Raum!



DER ERSTE EKLAT

Ab der zweiten Periode 1963 wurde dann eine weitaus offenere Berichterstattung betrieben und es gab von da an – in beschränktem Umfang, d.h. mit Eintrittskarte – auch für Privatpersonen die Möglichkeit, von den Gängen aus die Arbeit des Konzils zu beobachten. Eine Besonderheit, die es noch bei keinem Konzil gab, war die Tribüne der Beobachter der anderen christlichen Konfessionen, die über das von Papst Johannes XXIII. gegründete „Sekretariat für die Einheit der Christen“ unter der Leitung von Kardinal Bea eingeladen worden waren.

Nun kommt der erste große Paukenschlag: Erzbischof Felici legt ohne weitere Diskussion den Vätern die Namenslisten der Mitglieder der Vorbereitungskommissionen zur Abstimmung vor. Aber da steht Kardinal Liénart von Lille auf, einer der Präsidenten des Konzils (diese konnten sich jederzeit zu Wort melden), und fordert eine Verlegung des Konzils um drei Tage, damit sich die Väter überlegen könnten, wen sie wählen wollen. Nach ihm steht Kardinal Frings von Köln auf, ebenfalls Mitglied des Präsidiums, und schließt sich dem an, auch ausdrücklich im Namen von Kardinal Döpfner von München und von Kardinal König von Wien. Stürmischer Beifall. Felici muss dem Antrag stattgeben.

In den drei Tagen wurde emsig telefoniert, konferiert, beraten. Schnell fanden sich die Konzilsväter in Landes- und Sprachgruppen zusammen. Die deutschsprachigen Bischöfe aus Deutschland (BRD und DDR), Österreich, der Schweiz, Luxemburg, den nordischen Ländern und den Missionsgebieten trafen sich im deutschen Kolleg der Anima und erarbeiteten gleich eine internationale Vorschlagsliste, um so den Vätern die nochmalige Auswahl aus den erstellten dreißig regionalen Listen zu ersparen – und hatten damit Erfolg.



BEI LITURGIE ZÜGIG GEARBEITET

Als erste wurde die Vorlage über die Liturgie diskutiert. Sie enthielt manche weitreichende, zum Teil umstrittene Reformvorhaben, wie z.B. reicherer Gebrauch des Gotteswortes (der Bibel), verständlichere Riten, (wenigstens teilweiser) Gebrauch der Muttersprache, Möglichkeit der Konzelebration von Priestern, Kelchkommunion auch für Laien, entsprechende Form der Sakramentenspendung. Viele Redner befürworteten in ihren 10-Minuten-Beiträgen diese Reformen. Es gab aber auch Gegenvorschläge. Die mit Spannung erwartete erste Abstimmung fand am 14. November statt. Bei dieser Abstimmung nach der ersten Lesung der Vorlage geht es um die grundsätzliche Annahme des gesamten Schemas mit Zweidrittelmehrheit; wird diese nicht erreicht, gilt die Vorlage als abgelehnt. Das Ergebnis war überwältigend: 2162 Väter stimmten mit „placet“ (Ja) für die Liturgie-konstitution, 46 mit „non placet“ (Nein), bei 7 Enthaltungen. Die Liturgiereform war damit grundsätzlich beschlossen.



KLEINER TRICK BEI DER ABSTIMMUNG

Als nächstes kam nun die dogmatische Konstitution „Über die Quellen der Offenbarung“ zur Diskussion. Es ging um Fragen des richtigen Verständnisses der Heiligen Schrift und besonders um das Verhältnis von Bibel und Tradition, eine alte Streitfrage zwischen den Christen der Reformation und den Katholiken. Das Schema lag ganz auf der traditionellen Linie: Die Tradition ist Quelle selbständiger, in der Bibel nicht enthaltener Glaubenswahrheiten. In der Diskussion wurde von vielen Bischöfen heftig Kritik an der Vorlage geübt. Es war abzusehen, dass diese bei der Abstimmung die Zweidrittelmehrheit bei weitem nicht erreichen und somit durchfallen würde. Die Konzilsleitung suchte sie zu retten durch eine Umkehrung der Abstimmungsfrage, sodass nicht die Annahme, sondern die Ablehnung einer Zweidrittelmehrheit bedurfte. Diese, so dachte sie, würde wohl doch nicht erreicht. So geschah es denn auch: Felici wollte gleich in die Einzeldiskussion einsteigen, obwohl die absolute Mehrheit (es fehlten nur 100 Stimmen zur Zweidrittelmehrheit) gegen die Vorlage war. Viel Ärger, große Verwirrung. Da griff Johannes XXIII. ein: Er zog die Vorlage zurück und beauftragte eine gemischte Kommission, nämlich die dogmatische Kommission unter Kardinal Ottaviani und das Sekretariat für die Einheit der Christen unter Kardinal Bea, mit der Erstellung einer neuen Vorlage.



DER PAPST GIBT EINEN TIPP

Unmut machte sich breit am Ende der ersten Konzilsperiode. Von den über siebzig Vorlagen waren nur fünf (an-) diskutiert, von den bedeutenden nur eine in erster Lesung verabschiedet. Auch gab es Befürchtungen über den Gesundheitszustand des Papstes. Der belgische Kardinal Suenens hatte da eine Idee. Der Papst riet ihm, sich mit den Kardinälen Döpfner von München und Montini von Mailand abzusprechen: Bis zur nächsten Sitzungsperiode im kommenden Jahr sollten die vielen Schemata radikal gekürzt und zu einigen wenigen Vorlagen zusammengefasst werden, geordnet nach zwei Hauptthemen: „Kirche nach innen“ und „Kirche nach außen“. Die Vollversammlung stimmte dem Vorschlag gerne zu. Johannes XXIII. tat noch ein Übriges: Er berief eine zunächst siebenköpfige Koordinierungskommission, die dieses Vorhaben (anstelle der nur schwerfällig arbeitenden Zentralkommission) rasch verwirklichen sollte.

Gleich nach Weihnachten begleitete ich Kardinal Döpfner, der zu den Sieben gehörte, zur ersten Sitzung nach Rom. Für die Koordinierungskommission und die bestehenden Fachkommissionen wurde die erste Jahreshälfte 1963 zu einer harten Arbeitszeit. Da starb am Pfingstmontag 1963 Papst Johannes XXIII. Wieder stag-nierten die Arbeiten. Wer wird Nachfolger? Wird er das Konzil weiterführen? Der künftige Papst müsse ja erst überlegen, ob das Volk Gottes überhaupt reif sei für ein Konzil, war in der Predigt bei einem Totengottesdienst im Vatikan zu hören.



NEUER PAPST, NEUE METHODEN

Doch dann ging am 21. Juni Kardinal Montini als Papst Paul VI. aus dem Konklave hervor. Mit ihm war sofort klar: Das Konzil geht weiter. Bald schon berief er die zweite Sitzungsperiode ein und ernannte – zum Erstaunen aller – vier Kardinäle zu „Moderatoren“, die künftig die Konzilsarbeiten leiten sollten: Lercaro, Döpfner, Suenens und von der Ostkirche Agagianian. Die Weiterführung des Konzils unter straffer Leitung war gesichert.

Es waren noch zweieinhalb höchst arbeitsreiche Jahre, bis als Ergebnis 16 Dekrete des Konzils erarbeitet, in feierlichen Sitzungen immer mit überwältigender Mehrheit – man nennt dies auch „moralische Einmütigkeit“ – angenommen und vom Papst sofort in Kraft gesetzt worden waren, die letzten in den Tagen vor der Schlussfeier am 8. Dezember 1965.

Das Konzil hat die Glaubensbotschaft für unsere Zeit erweitert und vertieft. Das neue Kirchenbild: das Volk Gottes auf seiner Wanderschaft durch die Zeiten, gestärkt durch die Gegenwart des Herrn in Wort und Sakrament; der in seiner Selbsthingabe an Gott im Glauben antwortende Mensch; die Struktur der Kirche: Bischöfe, Priester, Ordensleute, Laien, alle von gleicher Würde, aber mit unterschiedlichen Berufungen, wobei die Weihe (Ordo) den Geweihten (Priester, Bischof) zum Dienst am Gottesvolk bestimmt; dazu der Blick über die Grenzen der katholischen Kirche hinaus zu den anderen christlichen „Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften“, die uns durch die Taufe verbunden sind, und weiter zu den Gläubigen anderer Religionen, besonders den Juden, die nach Gott suchen und dank der auch ihnen gegebenen Elemente des Heils, im Fall der Juden durch die unwiderrufene Auserwählung Gottes im Alten Bund, Rettung finden. Soweit die Betrachtung der „Kirche von innen“, grundlegend dargestellt in der dogmatischen Konstitution „Lumen Gentium“ (Licht der Völker) und weiter ausgeführt in einer Reihe spezieller Dekrete.



AUSSENWIRKUNG VON KIRCHE

Besonders in der letzten (vierten) Periode konzentrierten sich dann die Arbeiten auf „die Kirche nach außen“. Es entstand die Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute, „Gaudium et Spes“ (Freude und Hoffnung): Die Kirche teilt Freud und Leid aller Menschen und will ihnen helfen durch Gestaltung des zeitlichen Daseins im Geiste Christi und seiner Heilsbotschaft. Der Mensch, unmittelbar mit Gott verbunden, der sich ihm im Gewissen offenbart, ist berufen, seinen Beitrag zum irdischen Wohl aller in den weltlichen Gemeinschaften, bes. Familie, Staat und Völkergemeinschaft, zu leisten. Das ganze Leben (Kultur, Wissenschaft, Kunst, Wirtschaft, Politik) soll vom Geist der Gerechtigkeit und Liebe durchdrungen werden.



GEIST DES KONZILS

Der 8. Dezember 1965 war ein milder, sonniger Spätherbsttag. Der Petersplatz gedrängt voll Menschen, auf der weiten Plattform vor der Peterskirche findet der feierliche Schlussgottesdienst statt. Papst Paul VI. spricht von der „neuen Flamme“, die durch das Konzil „in unseren Herzen entzündet“ werden sollte. Er meinte den Geist, der das Konzil beseelte und zu einem guten Ende führte, den Geist der Liebe, den die Konzilsväter spürten, und der sie zum gemeinsamen Beten, Denken und Handeln beflügelte. Es ist der Geist der Communio, der Verbundenheit in der Tiefe der Seele, der jeden einzelnen und alle miteinander erfasst. Keiner hat ihn für sich alleine, jeder hat Anteil, und alle müssen ihren Teil beitragen zum sichtbaren Ergebnis. Wo eine Gruppe in der Kirche den „Geist des Konzils“ gegen eine andere Gruppe in Anspruch nimmt, ist es nicht mehr „der Geist des Konzils“, sondern Ungeist. Der Geist ermöglicht das und er befähigt zum geduldigen Ringen um die Wahrheit.

Unser gegenwärtig regierender Papst Benedikt XVI. hat mit seiner ersten Enzyklika „Gott ist die Liebe“ diesen Geist wieder in Erinnerung gerufen. Er ist die Grundkraft des Christentums und jedes einzelnen Christen (und überhaupt jedes aufrichtig gläubigen Menschen) zu allen Zeiten, er hat das erste Pfingstfest in der Urkirche bewirkt, er bewirkte das Zweite Vatikanische Konzil und er kann (und wird) auch in unserer Zeit die Lösung der schwierigen anstehenden Fragen bewirken.



Zuletzt aktualisiert: 06. Oktober 2016