Zeuge unserer Zeit

12. Dezember 2007 | von

Hinter dem Eisernen Vorhang war die Kirche wieder in die Katakomben verbannt worden. Alexander Men, von dem wir im Sendboten bereits zweimal berichtet haben, entstammt einer dieser geheimen Gemeinden. Der russisch-orthodoxe Priester verwirklichte Glauben im Alltag und gab den Verfolgten Halt. Schließlich trat er aus dem Untergrund ins Licht der Öffentlichkeit. Von seinem Mörder fehlt offiziell jede Spur.

"Ich knete für Euch den Schwarzbrotteig", sagte unser Priester Alexander Men immer. „Später könnt ihr dann den Kuchen backen." Es ist Alla Dmitriovna, Ärztin und russisch-orthodoxe Christin in Moskau, die mir gemeinsam mit ihren Freunden von den Jahren der „Kirche der Katakomben" in Russland erzählt. „Vater Alexander wollte das Evangelium so erklären, dass es auch die breite Masse der Nicht-Intellektuellen versteht. Er ging also auf die Grundbedürfnisse unseres Glaubenslebens ein. Stets war er darauf bedacht, sich nicht im Elfenbeinturm seines Wissens einzuschließen."

Intellektuelle und Handwerker, Ärzte, Lehrer, Schauspieler, Musiker und Maler gehören zu den „geistlichen Kindern" dieses russisch-orthodoxen Priesters, der auch nach seinem gewaltsam verursachten Tod im Jahr 1990 in den Herzen vieler Menschen weiterlebt. Ich habe ihn, eine „Lichtgestalt" seiner Zeit, durch eben sie, seine „geistlichen Kinder" kennen und lieben gelernt. Trotz Repressionen, Verfolgung, Verletzung der Menschenrechte, die sich durch die russische und sowjetische Geschichte bis heute als schmerzliche Konstante ziehen, gibt es Menschen, die mit ihrem Leben bezeugt haben, dass der Glaube an Gott stärker ist als Hass und Vernichtung.

Engagierte Christen. Am 22. Januar 1935 wurde Alexander Men in Moskau geboren. Seine jüdische Mutter hatte bereits vor der Geburt ihres Sohnes einen tiefen geistlichen Austausch mit Persönlichkeiten der „Kirche im Untergrund". Mit ihrem Neugeborenen ließ sie sich taufen, und so wuchs der kleine Alik in der „Kirche der Katakomben" auf, die in jenen Jahren besonders mit dem Blut vieler Märtyrer bezahlt wurde. Während seine Altersgenossen sich mit Marxismus-Leninismus und den Schriften Stalins beschäftigten, lernte Alik die Heilige Schrift und die Kirchenväter kennen.

„Die Jahre im Untergrund hinterließen entscheidende Spuren im Leben unseres batjushkas", berichtet Andrei, Ingenieur, einer der ersten, der sich damals dem jungen Priester anschloss. „Wir Gläubigen waren gezwungen, die Gottesdienste heimlich in Wohnungen oder versteckten Datschas zu feiern, aber jede Begegnung wurde zu einer Kraftquelle. Für Vater Alexander", fährt Andrei fort, „war Kirche eben nicht primär ein Ort des Kultes, sondern vor allem ein Kreis engagierter Christen."

Von klein auf wollte Alexander Men Priester werden, beschloss aber, zunächst Biologie zu studieren. Er meinte, im Land des wissenschaftlichen Materialismus müsse ein Diener Gottes die Wissenschaft kennen und Bereitschaft zum Dialog entwickeln: Dialog mit sich selbst, mit der Kultur, mit dem laizistischen Gedankengut und mit der Moderne. Wissenschaft und Wirklichkeit waren für ihn Instrumente des Glaubens. Öfters erklärte er, dass die Natur sein erster theologischer Text gewesen sei. Für ihn waren „der Wald oder das paläontologische Museum Stätten der Begegnung mit Gott", wo er die Präsenz des Schöpfers spürte.

Boga njet. „Im Jahr 1958, zur Zeit der Entstalinisierung, wurde Alexander Men zum Diakon und 1960 zum Priester geweiht", weiß Vladimir Iljushenko, ein 60-jähriger Historiker, zu berichten. „Die ‚Tauwetterperiode’ verschaffte zwar uns Intellektuellen größere Bewegungsfreiheit, aber für die Kirche öffnete sich ein neues Kapitel der Verfolgung. Chruschtschow begann eine gewalttätige antireligiöse Kampagne: Priesterseminare und Klöster wurden geschlossen, Kirchen konfisziert, und es verging kein Tag ohne kirchenfeindliche Veröffentlichungen in den Medien."

Nach kurzem Zögern redet Iljushenko weiter: „Schon war der Tag festgelegt, an dem auch der letzte Priester als Ausstellungsstück ins Museum wandern sollte. Und 1961, bei seiner Rückkehr aus dem Weltall, erklärte Juri Gagarin, er habe Gott auch dort nicht gefunden („Boga njet")."

In dieser Zeit begann der junge Alexander Men sein Priesteramt, das geprägt war von der Doppelberufung zum Seelsorger und Intellektuellen. In den Dorfgemeinden, die ihm in der Umgebung Moskaus nach und nach zugewiesen wurden, rief er kleine Gruppen ins Leben, die die Kenntnisse der Heiligen Schrift vertiefen wollten und so den Grundstein zu einer ‚Urgemeinde’ legten. „Pater Alexander stimulierte uns, Alte zu besuchen und Kranke zu pflegen. Er organisierte Treffen für Familien und Jugendliche, veranstaltete Kinderfeste, rief einen Mittagstisch für Arme ins Leben", erinnert sich Ludmilla, eine heute 50-jährige Frau, deren geistlicher Vater Pater Alexander war. „Wohltätigkeit war innerhalb der russisch-orthodoxen Kirche zu jener Zeit absolut ungewöhnlich, aber unser Priester erklärte uns, das sei eben konkret gelebte Nächstenliebe."

Missionar aller. „Vater Alexander konnte mit uns über Theologie diskutieren und mit der gleichen Kompetenz über Film und Literatur sprechen", erinnert sich Volodia, Schreiner und ‚Küster’ in der kleinen Dorfgemeinde. „Deshalb gehörten zu unserer Gruppe Moskauer. Wir brachen jeden Sonntagmorgen mit dem Vorortzug zur Dorfpfarrei nach Novaja Derevnja auf, darunter auch Schriftsteller und Schauspieler. Und Vater Alexander wurde sehr schnell die entscheidende Bezugsperson für uns." Volodia schmunzelt und fügt hinzu: „Man nannte ihn damals überall den Missionar der Intellektuellen." 20 Jahre war die kleine Kirche in Novaja Derevnja Zentrum einer originellen Gemeinde, in der Moskauer aller gesellschaftlichen Schichten gemeinsam mit Bauern und den alten Frauen und Müttern, den ‚babuschkas’ aus dem Dorf, den Gottesdienst feierten, während die Welt um sie herum einen aggressiven Atheismus predigte. In dieser Gemeinschaft wurde im Konkreten sichtbar, dass Kirche Leben bedeutet. „Jeder Gläubige ist auch heute noch in eine Gruppe eingegliedert, in der er geistlich geformt wird und aktiv am Leben der anderen teilnimmt. Einmal in der Woche lesen wir zusammen in der Schrift, beten und legen unsere Talente, Erfahrungen, aber auch unsere weltlichen Güter zusammen", erklärt Oleg Michailovic, Ehemann von Ludmilla und begabter Jazz-Trompeter, der russlandweit Karriere gemacht hat.

Und so gelang es Alexander Men, in der Blütezeit des Kommunismus eine Generation russisch-orthodoxer Laien geistlich und menschlich zu formen. Er sparte in der Seelsorge nicht mit seinen Kräften und eilte von der Beerdigung im Morgengrauen zu einer heimlichen Kindestaufe in eine Moskauer Wohnung (vgl. Sendbote 5/02, S.44ff), traf sich mit zahlreichen Gruppen oder hörte einem bedrängten Menschen zu (vgl. Sendbote 2/99, S. 44ff). Zudem schrieb er unzählige Bücher über die Heilige Schrift, die Orthodoxie, die Liturgie, verfasste ein monumentales Nachschlagewerk zur Bibel (posthum in 3 Bänden im Jahre 2004 veröffentlicht). Seine Werke kursierten heimlich in maschine- oder handgeschriebenen Abschriften, wurden später unter Pseudonymen in russischer Sprache in Brüssel gedruckt und kehrten dann nach Russland zurück, versteckt in Koffern einiger Ausländer, die den verfolgten Gläubigen hinter dem Eisernen Vorhang helfen wollten.

Ort des Lichts. „Vater Alexander war überzeugt davon, dass der Christ berufen ist, im Hier und Jetzt am Aufbau des Reiches Gottes mitzuwirken", meint Sergei, Fotograf und seit den ersten Zeiten Gemeindemitglied in Novaja Derevnja. „Dies ist für ihn Teilhabe am Schöpfungsplan Gottes für die Welt und erfordert von jedem Einzelnen, sich aktiv einzubringen." Vielleicht auch deshalb war Vater Alexander stets von Künstlern umgeben. Für sie alle bedeutete Kirche nicht eine Erfahrung von Dunkelheit, sondern sie war ein Ort des Lichts, wo sich jeder Mensch mit seinen Talenten vollständig realisieren konnte. „Manchmal schienen die Übergänge vom Heiligen zum Profanen fast fließend zu sein, denn Kunst und Kultur wurden in unserer Gemeinde fast ebenso großgeschrieben wie Gottesdienst und Gebet", fährt Sergei fort. Für diese modernen Christen des 20. Jahrhunderts war ihr Glaube nicht auf die Mauern einer Kirche angewiesen, sondern realisierte sich vor allem im Alltäglichen.

Gegen Ende seines Lebens wurden für Vater Alexander konkrete Beispiele seiner Glaubensüberzeugungen immer wichtiger. 1988, einige Jahre nach der bedrückenden Breschnjew-Ära, schien das Leben der Christen in der Sowjetunion etwas erträglicher zu werden, und sofort ergriff er die Initiative, den Glauben öffentlich zu bekennen. Nun ist es noch einmal der bärtige Historiker Vladimir, der begeistert das Wort ergreift. „Vater Alexander war der erste Priester, der wieder die Schwelle eines Gymnasiums überschritt, um Religionsunterricht zu erteilen. Er richtete einen Freiwilligen-Dienst ein, der in einem Kinderkrankenhaus im Süden Moskaus die kleinen Leukämie- und Dialysepatienten aus ganz Russland religiös betreute. Er eröffnete in Moskau die Freie Orthodoxe Universität, die allen offen steht und in einem mehrjährigen Studiengang ein breitgefächertes Wissen über alle Fragen der Orthodoxie, aber auch der Ökumene vermittelt."

Wachsende Popularität. Die letzten zwei Jahre vor seinem Tod wurde Men immer häufiger zu Debatten und Konferenzen eingeladen. Er trat in Schulen, Kinosälen und im staatlichen Fernsehen auf, und jedes Mal waren seine Auftritte nicht nur sehr öffentlichkeitswirksam, sondern bezeugten auch Geist und Erfahrung eines gelebten Evangeliums. Diese wachsende Popularität und Bekanntheit rief schließlich seine Gegner auf den Plan. Am Morgen des 9. September 1990 wurde er auf dem Weg zur Liturgiefeier ganz in der Nähe seines Hauses in Semchos von einem Unbekannten mit einer Axt erschlagen.

13 Jahre sollten die Nachforschungen dauern, um den Täter ausfindig zu machen, aber weder unter Gorbatschow noch unter Eltsin konnte der Fall aufgeklärt werden. Alla Dmitriovna, die Ärztin und Frau von Volodia, dem Schreiner, schließt die Erinnerungen ihrer Freunde für heute ab: „Die am meisten verbreitete Hypothese lautete: Unglücksfall durch einen psychisch Kranken. Viele Menschen dagegen glauben, dass die Stimme Vater Alexander Mens während der ‚glasnost’ zu stark geworden war, und man so seinem Wirken ein Ende setzen wollte."

Alexander Mens Werk hat den Tod seines Gründers überdauert. Es ist eben nicht nur das Werk eines Menschen. Gott hat sich Seinen Weg gebahnt und uns in diesem Märtyrer der Moderne, einem ‚Blutzeugen’ im wahrsten Sinne des Wortes, ein Beispiel der unbeirrbaren Zuversicht des Glaubens, einer unbeirrbaren Liebe zu Gott und den Menschen gegeben, kurz: ein Beispiel, das uns gerade heute mahnt und zur Nachahmung einlädt.

Zuletzt aktualisiert: 06. Oktober 2016