Zügellose Selbstsucht

01. Januar 1900 | von

Wer egoistisch ist, bezieht sein Verhalten und das seiner Mitwelt immer vorrangig auf sich selbst. Er stellt sein Ich in den Mittelpunkt des Denkens, Fühlens und Tuns. Er strebt nach seinem Vorteil und der Erfüllung seiner Wünsche und nimmt wenig Rücksicht auf die Rechte anderer. Hat sich der Egoismus verfestigt und ist zum Maßstab des Lebens geworden, wird der Mensch süchtig nach sich selbst. Er wird geknechtet von der Gier nach Selbstbespiegelung, Besitz, Geld, Profit, Genuss und Macht.

Selbsterhaltungstrieb. Nicht jedes selbstbezogene Verhalten ist Egoismus. Gott hat im Menschen den Selbsterhaltungstrieb angelegt. Jeder braucht, um leben zu können, die Befriedigung elementarer Bedürfnisse, zum Beispiel Nahrung, Wasser, Wärme, Schutz vor Lebensbedrohung. Dafür zu sorgen, ist kein Egoismus. Ethisch bedenklich wird es, wenn die Lebensrechte anderer dafür missachtet werden. Rücksichtslose Selbstdurchsetzung auf Kosten anderer ist geradezu das Krebsgeschwür des Egoismus und der Selbstsucht.

Du kannst einem Mitmenschen nicht die Tränen trocknen, ohne dir die Hände nass zu machen, sagt ein Sprichwort. Egoismus und Selbstsucht müssen nicht immer nach außen sichtbar sein. Es gibt ein ängstliches Besorgtsein um sich selbst, die Furcht, ein Risiko einzugehen.

Getarnter Egoismus. Wer immer nur die eigene Sicherheit sucht und dem Herzen keine risikobehaftete Liebe und Hingabefähigkeit ermöglicht, verschanzt sich möglicherweise hinter getarntem Egoismus. Nach außen hin erscheint er brav, sanftmütig und genügsam. Aber sein Verhalten entspringt nicht der Demut, sondern der ängstlichen Feigheit, aus sich herausgehen zu müssen, sich einer Konfrontation, einer Aufgabe oder kritischen Angriffen stellen zu müssen, zum Beispiel wenn es um Glaubensüberzeugung geht oder den Einsatz für einen Mitmenschen, der mit Unannehmlichkeiten und Opfern verbunden wäre. Sicherlich ist dies kein Egoismus, der aus Ichbezogenheit andere Menschen auf die Seite drückt. Es handelt sich dennoch um Egozentrik. Und eine solche Art des Besorgtseins um die eigene Unversehrheit in einer heilen Welt steht nicht im Einklang mit Christi Worten: Geht hinaus in die ganze Welt ...! (Mk 16,15) und Wer sich nun vor den Menschen zu mir bekennt, zu dem werde auch ich mich vor meinem Vater im Himmel bekennen. (Mt 10,32)

Rastlos und gehetzt. Egoismus tritt häufig zusammen mit existentieller Rastlosigkeit und Torschlusspanik angesichts der Begrenztheit des Lebens auf. Menschen, für die das Wissen um die Unerbittlichkeit des Todes unerträglich ist, werden gedrängt und gehetzt, das Leben auszukosten, bevor es endgültig zu Ende ist. Sie sagen: Ich lebe nur einmal. Da will ich etwas vom Leben haben. Wenn ich mich nicht beeile, Güter und Freuden zu genießen, ist es zu spät. Eine solche Mentalität hat ihre Wurzeln in Ideologien des Materialismus, Hedonismus und Liberalismus.

Unschätzbar wertvoll. Gott schenkte jedem von uns eine einmalige Existenz. Diese beinhaltet als zentrale Substanz das Ich des Menschen, seine Geistseele. Gott macht damit jeden Menschen Ihm ähnlich und unsterblich. Daher ist sie so unermesslich wertvoll. Die Seele wird niemals ausgelöscht. Gott will jeden im Leben liebend begleiten und ihn am Ende in die Tiefe seiner barmherzigen Güte aufnehmen, sofern ersich in frei antwortender und im Handeln sichtbarer Liebe ihm zuwendet. Jeder ist von Gott geliebt. Daher besitzt er unschätzbar hohen Wert und benötigt keinen äußeren Wertanstrich durch Ansehen der Person, durch Titel, Beruf, Reichtum, Macht und Schönheit. Was der Mensch braucht, ist das Hineinwachsen in die Liebe Gottes, das Aufgehen in seiner Güte, das Vertrauen auf Geborgenheit in seiner Fürsorge.

Lieblos da gottlos. In seinem Innern ist der Egoist dem zweifachen Liebesangebot gegenüber misstrauisch und erstickt entsprechende Regungen seines Herzens. Er ist nicht überzeugt davon, dass Gott ihn liebt. Sein Glaube ist verkümmert oder erstickt. Daher meint er, ohne den schmückenden Glanz dieser Welt keinen Selbstwert zu haben. Daher muss er sich mit allen Mitteln aus der Masse der Menschen abheben und sein Ich durch Macht, Genuss, Schönheit oder irgendwelche Erlebnisse bereichern. Niederhalten anderer und rücksichtslose Selbstdurchsetzung werden da in Kauf genommen werden. Ein solches Verhalten offenbart die Wurzeln des Egoismus: Liebesdefizit durch Gottlosigkeit. Die existenzielle Gefährdung ist akut. Der Egoist ersetzt Gott durch sein eigenes Ich. Er will nicht wahrhaben, dass Gott ihm dieses Ich gab. Die alte Kampfansage des gefallenen Engels blitzt auf: Ich will sein wie Gott. Mein Ich ist Gott. Ich bin Gott.

Heilsame Demut. Gott ist das personale Ich der nie endenden Liebe. Seine unerforschbare Größe zeigt sich im unendlichen Verströmen von Liebe. Dies sollte dem Menschen als Gottes Ebenbild im Hinblick auf den Sinn seines Lebens zu denken geben. Der Egoist bemüht sich krampfhaft um lieblose Selbstverwirklichung durch eine scheinbare Stärkung seines Ichs. Heilung des an Egoismus erkrankten Lebens fängt dort an, wo Demut und Bescheidenheit die selbstsüchtigen Wünsche immer mehr aus Liebe zu Gott und zum Nächsten zurückdrängen. So nähern wir uns unserer ewigen Bestimmung im Wachsen zur wahren Größe christlichen Menschseins bis hin zur Vollkommenheit durch Gottes Gnade.

 

Egoismus und Selbstsucht sind Dornen,

die stechen, wenn man sie zu durchbrechen sucht.

Sie sind ein Joch, das die Seele

auf die Niedrigkeit des Bodens zwingt.

(Altes Sprichwort)

Zuletzt aktualisiert: 06. Oktober 2016