Zurück zur heilenden Botschaft

23. Dezember 2004 | von

“Gott hat mich nie losgelassen…“, so fasst Michael rückblickend seine Erfahrungen nach zwanzig Jahren Kirchenabstinenz zusammen. Zwanzig Jahre Fragen, zweifeln, hassen, weiterfragen, langsam neu annähern, Verletzungen heilen, aussöhnen und dann seine umwerfende Erkenntnis: “In all den Jahren war ich nie allein.“ Vor drei Jahren entschloss sich der 61-jährige Richter, wieder in die Kirche einzutreten.

Leere Kirchen. In den letzten Jahrzehnten haben viele Menschen der Kirche den Rücken gekehrt, und die elterliche Mahnung zur Eile auf dem Weg zum sonntäglichen Gottesdienst – in den sechziger Jahren noch üblich – mutet heute fast exotisch an. Denn zu spät kommen, hieß damals noch, nur noch einen Stehplatz zu bekommen.
In den letzten vierzig Jahren hat sich zumindest dieses kirchliche “Problem“ gelöst: Jeder noch so späte Gottesdienstbesucher fände mit Sicherheit eine reiche Auswahl an Sitzplätzen vor. Spärlich besuchte Gottesdienste sind auch kein “Markenzeichen“ einer städtischen Gemeinde mehr, die abnehmende Zahl der Gottesdienstbesucher hat längst auch ländliche Bezirke erreicht. Leere Kirchen und leere Gottesdienste, die jährlichen Statistiken über die Kirchenaustritte, mehr Beerdigungen als Taufen und so unterm Strich immer weniger Gläubige... der Blick auf die Zahlen löst bei Seelsorgern und engagierten Christen unterschiedliche Reaktionen aus: Frust und Resignation, Durchhalteparolen à la “Jetzt erst recht“, soziologische Erklärungsversuche, psychologische Deutungen oder “Gesundschrumpfungstheorien“ mit der vermeintlichen Gewissheit zum “heiligen Rest“ zu gehören. Der Blick auf Zahlen sei gefährlich, so klingt es aus anderer Ecke, denn sie sagten nur die halbe Wahrheit. Wer heute zur Kirche ginge, der tue dies anders als in früheren Zeiten, aus freier Entscheidung und ohne Sozialdruck, ihm ginge es wirklich um den Glauben.

Dem Glauben entfremdet. Allen unterschiedlichen Einschätzungen liegt allerdings eine gemeinsame Erkenntnis zugrunde: Die Zeiten der Volkskirche in der Form der letzten Jahrhunderte ist vorbei. Die gesellschaftlichen Bedingungen haben sich derart gewandelt, dass die Kirche in Deutschland – egal ob evangelisch oder katholisch – nicht mehr die “Deutungshoheit“ für das menschliche Leben hat, oder anders gesagt: im Reigen der vielfältigen “Sinnanbieter“ ist die christliche Religion zunehmend nur eine unter vielen. Mögen auch manche Kirchenaustritte mit Sparabsichten begründet werden, kann das doch nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Ziel der Kirchensteuerersparnis letztlich nur noch ein Auslöser war. Die Ursachen liegen tiefer, die Entfremdung zur je eigenen Kirche und/oder zum Glauben ist längst weit fortgeschritten. Beide Haltungen umfassen dann jeweils eine Vielzahl an Argumenten und Erklärungen: Dem einen ist die Kirche zu undemokratisch, der andere ärgert sich über den Papst, der nächste findet sie seit den Kreuzzügen schon unglaubwürdig und wieder ein anderer ist ganz persönlich verletzt worden durch einzelne Menschen in der Kirche. Die Frauenfrage, Fragen der Moral oder die Behauptung, die Kirchen hätten vor allem finanzielle Interessen und lebten darum wenig evangeliumsgemäß... Für viele wird der Glaube selbst irgendwann fragwürdig, weil er mit ihrem Leben nichts mehr zu tun zu haben scheint - und kommt ihnen oft gänzlich abhanden. Diese Menschen sind oft wenig aggressiv in ihrer Kritik, eher stehen sie der Kirche gleichgültig oder achselzuckend und im Grunde verständnislos gegenüber.
Aber selbst christliche Eltern klagen zunehmend über Schwierigkeiten, ihren Kindern den Glauben zu vermitteln. Angesichts der Komplexität der Welt und einer oftmals recht hohen Erwartung an sich selbst, immer ehrlich und authentisch von Gott zu sprechen, und der Sorge, nur “fromme Phrasen“ von sich zu geben, bleibt für viele nur die religiöse Sprachlosigkeit. Hilflos erleben sie dann, dass diese Sprachlosigkeit auch zur Glaubenslosigkeit ihrer Kinder führt. Andere lassen ihre Kinder erst gar nicht mehr als Säuglinge taufen, möchten vielmehr, dass sie sich später selbst, vermeintlich freier, entscheiden.
Damit deutet sich eine Entwicklung an, die weit über die bisherige hinausgeht. Die nachfolgende Generation wird in großen Teilen areligiös aufwachsen, mit noch weniger Berührungspunkten zum christlichen Glauben als ihre Eltern. Ist damit der Anfang vom Ende der Kirche in Deutschland eingeläutet? So pessimistisch mag es wohl niemand formulieren, aber wenn Glaubensvermittlung an die nachfolgende Generation kaum mehr geschieht, wenn die christliche Sozialisation gesellschaftlich nicht mehr gestützt ist, dann bedarf es wohl eines radikalen Umdenkens, will die Kirche sich nicht ins völlige Abseits stellen.

Erwachsene im Blickpunkt. “Katechese in veränderter Zeit“, so titelten die deutschen Bischöfe im Jahre 2004 eine Publikation, die genau dieses Umdenken zum Anliegen hat. Die Erwachsenenkatechese rückt immer stärker in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Dabei liegt die Erfahrung zu Grunde, dass – allen Negativtrends zum Trotz – sich Erwachsene für den Glauben interessieren, einen ungeheuren Nachholbedarf an Glaubenswissen aber auch an Glaubenserfahrung haben. Biographisch orientierte Katechese ist dabei das Zauberwort –  ohne allerdings damit so ganz neu zu sein. Denn die eigene Lebensgeschichte mit dem Glauben zu  verknüpfen, um ihn so zu “erden“, ihn für Menschen wieder bedeutungsvoll zu machen, ist ein Ansatz, der doch schon einige Jahre besteht. Konsequenterweise wird damit auch die Fragestellung relevant, was kirchenferne Menschen heutzutage überhaupt noch bei dem vielfach bestehenden Image der Kirche bewegt, sich für Glaubensthemen zu interessieren. Immer wieder kommt es zu Anfragen von einzelnen, die sich erst im Erwachsenenalter taufen lassen oder in die Kirche zurückkehren, aus der sie vor Jahren ausgetreten sind. Ebenso entstehen zunehmend in den Gemeinden Glaubenskurse, also Weggemeinschaften von Menschen, die sich intensiver mit dem – manchmal verloren gegangenen – Glauben auseinandersetzen wollen. So vielfältig die Gründe für die Kirchenaustritte sind, so verschieden sind im Einzelfall auch die Gründe, wieder Kontakt aufnehmen zu wollen. Ganz ähnliches gilt für Menschen, die erstmals im Erwachsenenalter mit dem christlichen Glauben in Berührung kommen, und für die sich die Frage nach der Taufe stellt.

Konkrete Antworten gefragt. Gemeinsam ist aber allen, dass sie Sinnsucher sind, Menschen mit oftmals “krummen“ und schwierigen Lebenswegen, die trotzdem oder gerade deshalb nicht aufgehört haben zu fragen. Sie suchen Antworten auf Krisen, auf Leiderfahrungen, sie fragen nach dem Grund menschlicher Lebenshoffnung. In der Regel bewegt sie nicht ein abstraktes religionswissenschaftliches Interesse, etwa in dem Sinne: Was denn ein Christ so alles glaubt. Sie suchen konkrete Antworten auf ihre ebenso konkreten Lebensfragen und Erfahrungen. “Was sagt der christliche Glaube mir und meinem Leben?“, so fragen die Menschen, und dieser erfahrungsbetonte Ansatz zielt damit letztlich auf die Frage nach dem Heilenden in der Botschaft Jesu Christi. Das Evangelium, also die frohe Botschaft für ihr Leben, zu hören und zu begreifen ist damit Hoffnung und Ziel ihres Weges.
Dabei verstehen sich “Wiedereintrittswillige“ heute durchaus nicht mehr als Sünder, die nach Jahren der Kirchenabstinenz reumütig zurückkehren. Sie begreifen gerade in der seelsorglichen Begleitung, dass solche scheinbar “fernen“ Wege oftmals lebensnotwendig waren. Diese Lebenswege im Licht des Glaubens anzuschauen und in ihnen selbst Gottes Spuren zu entdecken, kann wie eine erlösende und heilende Kraft im Menschen wirken. Wenn es diesen Menschen gelingt, ihre eigenen Grenzerfahrungen spirituell zu deuten, ihre eventuellen Verletzungen heilen zu lassen, dann kann Umkehr geschehen, die Menschen ganz erfassen kann. Umkehr als Hinwendung zu Gott als dem (bisher oft unerkannten) unermesslich treuen Gott ihres Lebens.

Glaubwürdiges Zeugnis. Eine weitere wichtige Dimension bei Wiedereintritt in die Kirche oder Taufe eines Erwachsenen ist unabdingbar die Beziehungsebene. So gut und hilfreich Bücher sein mögen, so sehr sie Anstoß sein können, sich auseinanderzusetzen, niemand findet zum Glauben nur mit einem Katechismus in der Hand. Es braucht Menschen an seiner Seite, den lebendigen Austausch mit Glaubenszeugen. Die durchaus alte Wahrheit, dass christlicher Glaube immer auch Gemeinschaftscharakter hat, bewahrheitet sich in der Erwachsenenkatechese noch einmal deutlich. Durch und mit anderen kommt der Einzelne zum Glauben, sei es als Kind durch seine Eltern oder andere Vorbilder, sei es als Erwachsener durch das glaubwürdige Zeugnis anderer Christen und ihr Mitgehen. Dies bedeutet zugleich eine hohe Verantwortung jedes einzelnen Christen – denn sein Leben, seine Fähigkeit zuzuhören, barmherzig zu sein und Menschen anzunehmen, seine eigene Glaubenshaltung ist für den Glaubensweg anderer von entscheidender Bedeutung. “Ich hatte da jemand, der war so ganz anders, der hat mir zugehört“ oder aber “Meine Fragen und Zweifel durften alle sein. Ich habe mich angenommen gefühlt.“ So oder ähnlich lauten Aussagen von Menschen, die einen neuen Zugang zum Glauben gefunden haben. Auch Michael kam mit einzelnen Menschen in Kontakt, die ihm mit ihrer Lebensart imponierten. Sie haben sich mit den ihn drängenden Fragen auseinandergesetzt und ihm neue Wege aufgezeigt. Wie er können viele andere auch durch persönliche Begegnungen ihr manchmal auch verzerrtes Bild von der Kirche korrigieren oder auch relativieren. Durch solche konkreten guten Erfahrungen können sie mit einem Mal aushalten, dass Kirche natürlich auch die andere, die “sündige“ Seite hat: selbsternannte Moralapostel, Machtmenschen oder schlicht unangenehme Zeitgenossen. Die oft schlimmen unmenschlichen und unchristlichen Auswüchse im Laufe der Kirchengeschichte sind damit zwar nicht aus dem Bewusstsein der Menschen getilgt, aber sie stellen keine unüberwindbare Mauer mehr dar, die Glauben unmöglich macht. 

Geistliche Heimat. Eng verknüpft mit dem Gemeinschafts- und Beziehungsgedanken steht die Suche nach einer geistlichen Heimat. In einer Zeit, in der Flexibilität und Mobilität zu den positiven Eigenschaften des Menschen gerechnet werden, entsteht auf der anderen Seite häufig auch das Gefühl der Vereinsamung, Heimatlosigkeit. “Gemeinde soll ein Ort sein, an dem ich zuhause bin, wo ich die anderen kenne“, diese Beschreibung drückt die Sehnsucht der Menschen nach Heimat und Bindung aus. Jedoch gehen sie heute dabei andere Wege, als sie kirchenstrukturell vorgesehen sind. Gemeinde definiert sich in Deutschland kirchenrechtlich gesehen durch das so genannte Territorialprinzip, das heißt zur Gemeinde gehört, wer in ihrem Territorium wohnt. Menschen, die einen Weg zum Glauben und zur Kirche suchen, folgen allerdings anderen Regeln, sie tun dies nicht zwangsläufig bei “ihrem“ Pfarramt vor der Haustür. Sie wählen aus, sie suchen den passenden Gesprächspartner, die Gemeinde, die ihnen ansprechend erscheint. Dieses grundsätzliche Lebensgefühl heutiger Menschen – auswählen zu können, ja sogar zu müssen – muss in der Erwachsenenkatechese sehr ernst genommen werden.
Damit spiegelt sich auch innerhalb der Kirche die bereits eingangs erwähnte gesellschaftliche Wirklichkeit: Kirche ist nicht nur ein religiöses Angebot unter vielen anderen, auch innerhalb der kirchlichen Institution erleben die Menschen unterschiedlichste “Angebote“, verschiedenste Gemeindemodelle und Zugangsweisen zum christlichen Glauben. Damit stehen die Menschen wiederum vor der Aufgabe auszuwählen und das für sie Richtige zu finden. In der Regel erleben sie dies als positiv, weil es ihrem Gefühl der Selbstbestimmung entspricht. Die manchmal innerkirchlich zu hörenden Klagen über eine zu große Vielfalt, die die Konturen christlichen Glaubens undeutlich mache, sind ihnen eher fremd.

Ausstrahlung. Die Wirklichkeit der Kirche heute in Deutschland ist in einem umfassenden Sinn also vielfältig: Abbruch, Abschied und Resignation neben Aufbruch, Neubeginn und Hoffnung. Die Anfragen erwachsener Taufbewerber oder Wiedereintrittswilliger sind jedoch in erster Linie nicht Hoffnungszeichen für die Kirche im Sinne einer besseren Zahlenbilanz – dafür sind sie viel zu gering. Das Hoffnungspotential besteht wohl eher in der Erfahrung, dass das Evangelium gerade heute, gerade für Menschen ohne kirchliche Sozialisation Ausstrahlungskraft haben kann. Wenn die innerkirchliche Frustration mal wieder um sich greift, dann scheint ihre Botschaft ein wirklicher Schatz für die Kirche zu sein: die Erfahrung, Gott ist gegenwärtig in dieser Welt – jenseits von Trends, Zahlen und Statistiken.

Zuletzt aktualisiert: 06. Oktober 2016