Alle*s durchgegendert?

06. April 2020 | von

Mit unserem „Thema des Monats“ wagen wir uns an den seit einigen Jahren viel diskutierten und in katholischen Kreisen oft umstrittenen „Gender-Begriff“.

 

In einer komplexen, oft unübersichtlichen Welt sehnen sich Menschen nach Eindeutigkeit und Klarheit, nach Überschaubarkeit und der Fähigkeit, diese Welt zu erfassen und zu bewältigen. Dafür gibt es Ordnungen, Regeln, Definitionen, Festlegungen – ebenso gibt es aber wohl immer auch Grenzen, die sich allmählich verschieben, Situationen, die sich plötzlich neu ergeben und Versuche, diese wiederum irgendwie zu erfassen und zu strukturieren. Im Bereich von Ehe und Familie, Geschlecht und Identität haben sich in den letzten Jahren und Jahrzehnten Verschiebungen ergeben, die für einige befreiend wirken, andere wiederum befürchten lassen, alles, was ihnen wichtig und klar geworden war, würde bald verschwunden sein. 

 

Weg mit allen Unterschieden?

Am Beginn meiner Gender-Recherche steht ein Internet-Video, produziert von „Demo für alle“, in dem angekündigt wird, in drei Minuten die komplette Problematik erklärt zu haben. Der Grundtenor: Man würde heute in der Gesellschaft sagen, dass Mädchen und Jungs nicht aus biologischen Gründen unterschiedlich sind, sondern weil ihnen Unterschiede von der Gesellschaft zugeschrieben werden – Mädchen machen dies und denken so, Jungs machen das und denken anders. Diese Zuschreibungen seien gewissermaßen willkürlich und stünden in jedem Fall im Kontrast zur Gleichheit von Frau und Mann. Deshalb seien sie abzuschaffen, so jedenfalls die Forderung der vermeintlich modernen Gesellschaft. Weil man dabei nicht auf Eltern und Familie vertrauen dürfe, falle diese Aufgabe der Schule zu. Die Schule, so wird von den Video-Machern mitgeteilt, würde also instrumentalisiert, die Geschlechtsunterschiede zu nivellieren und am Ende würde keiner mehr wissen, was er denn nun wirklich ist. Und schließlich die eindringliche Forderung „Lasst Mädchen Mädchen sein – und Jungs Jungs!“

Vor allem Christen dürften sich angesichts solcher „Gleichmacherei“ in ihrem Weltbild tatsächlich erschüttert fühlen. Sind wir nicht biblisch mit größtmöglicher Klarheit aufgewachsen? Im Schöpfungsbericht heißt es schlicht und ergreifend: „Gott erschuf den Menschen als sein Bild, als Bild Gottes erschuf er ihn. Männlich und weiblich erschuf er sie.“ (Gen 1,27) Eigentlich alles klar, oder? Mann und Frau, nicht neutral. 

 

Der Mensch als neutrales Wesen?

Doch nun stellt die vatikanische Bildungskongregation in ihrem Dokument „Als Mann und Frau schuf er sie“ vom Februar 2019, Papst Benedikt XVI. zitierend, in Nr. 1 sogar fest: „Das Bewusstsein, dass wir vor einem regelrechten Bildungsnotstand stehen, insbesondere hinsichtlich der Fragen der Affektivität und der Sexualität, verbreitet sich immer mehr. In vielen Fällen werden Bildungsprozesse entwickelt und angeboten, ‚bei denen ein angeblich neutrales Bild des Menschen und des Lebens vermittelt wird, das aber in Wirklichkeit eine dem Glauben und der rechten Vernunft gegensätzliche Anthropologie widerspiegelt‘.“ Und schon 2016 hatte Papst Franziskus im nachsynodalen Schreiben „Amoris Laetitia“ (Nr. 56) festgestellt: „Eine weitere Herausforderung ergibt sich aus verschiedenen Formen einer Ideologie, die gemeinhin Gender genannt wird und die den Unterschied und die natürliche Aufeinander-Verwiesenheit von Mann und Frau leugnet. Sie stellt eine Gesellschaft ohne Geschlechterdifferenz in Aussicht und höhlt die anthropologische Grundlage der Familie aus. Diese Ideologie fördert Erziehungspläne und eine Ausrichtung der Gesetzgebung, welche eine persönliche Identität und affektive Intimität fördern, die von der biologischen Verschiedenheit zwischen Mann und Frau radikal abgekoppelt sind. Die menschliche Identität wird einer individualistischen Wahlfreiheit ausgeliefert, die sich im Laufe der Zeit auch ändern kann.“

 

Heute so und morgen anders... 

Die Befürchtung also: Jede/r wählt – gewissermaßen nach Lust und Laune – welches Geschlecht er/sie denn gerne wäre. Und damit einher geht eine Vermischung von Lebensformen und allem, was bislang eindeutig und klar war. Das Dokument der Bildungskongregation skizziert: „In einer zunehmenden Entgegensetzung von Natur und Kultur münden die Gender-Vorschläge im Queer, das heißt, in einer fluiden, flexiblen, nomadischen Dimension, und kulminiert darin, dass die vollständige Emanzipation des Individuums von jeder a priori gegebenen geschlechtlichen Definition vertreten wird, mit dem folgerichtigen Verschwinden von als rigide betrachteten Klassifikationen.“ (Nr. 12) – Vereinfacht gesagt: Ich entscheide selbst, wer und was und wie lange ich es bin. 

Um zu illustrieren, wie befremdlich eine solche Entwicklung unter Umständen sein mag, zitiert die katholische Publizistin Gabriele Kuby in einem Beitrag für „Die Tagespost“ (Juli 2016) einen (später teilweise vom Gesetzgeber umformulierten) Entwurf für das neue Mutterschutzgesetz. Dort wird definiert: „Eine Frau im Sinne dieses Gesetzes ist jede Person, die schwanger ist oder ein Kind geboren hat oder stillt, unabhängig von dem in ihrem Geburtseintrag angegebenen Geschlecht.“

Wenn sie dann noch auf Länder verweist, in denen man ab einem bestimmten Alter selbst entscheiden dürfe, ob man nun Mann oder Frau sein wolle, nimmt es nicht wunder, dass sie schließlich fragt: „Hat der Mensch die grenzenlose Freiheit des Selbstentwurfs, oder ist dies ein satanischer Freiheitsbegriff, welcher nichts als Chaos und Zerstörung nach sich zieht?“ Im stattfindenden „Umprogrammierungsprozess“ sieht sie nicht die Rechte von Minderheiten gestärkt, sondern es gehe „um die Abschaffung des Geschlechts als fundamentaler Matrix der menschlichen Existenz.“ Das Ergebnis: „entwurzelte, manipulierbare, zum Widerstand unfähige Individuen.“ Einige Gruppierungen sprechen dann schnell von der Gender-Ideologie, vom Gender-Gaga und in Polen zeichnen sich mittlerweile einige Kindergärten sogar mit einem ausdrücklichen „Anti-Gender-Zertifikat“ aus. 

 

Kampf um Gleichberechtigung

Aber ist das tatsächlich die erwünschte oder zumindest zu erwartende Perspektive: neutrale, widerstandslose Wesen, verschwundene Differenzen zwischen den Geschlechtern? Blickt man nach Südkorea, wo etwas ausgebrochen ist, das seit einiger Zeit als „gender war“ (Gender-Krieg) bezeichnet wird, lässt sich dieser Eindruck vom Menschen als wehrloses Wesen kaum bestätigen. In einer Gesellschaft, in der Frauen – statistisch überprüfbar – in zahlreichen Feldern massiv benachteiligt werden, sind viele von ihnen in einen „Gebärstreik“ getreten und damit offensichtlich zum Widerstand fähig. Das ostasiatische Land hat mit einer Reproduktionsrate von 0,92 die niedrigste Anzahl von Kindern pro Frau in der ganzen Welt. Die Bevölkerung schrumpft dramatisch, was auch daran liegt, dass Frauen schlicht und ergreifend kein Interesse an Beziehung und Kindern haben. Einer der Hauptgründe: Sie wehren sich gegen die Benachteiligung am Arbeitsplatz, gegen die finanzielle Schlechterstellung und zahlreiche Fälle von sexuellem Missbrauch. Die Folge: Deutlich über die Hälfte aller 30- bis 34-jährigen Frauen ist ledig. 

Man wird einen solchen „Gebärstreik“ durchaus kritisch betrachten müssen, er öffnet aber eine Perspektive auf die Geschichte der Gender-Thematik. 

Für den deutschen Kontext liegt eine der Wurzeln in der Frauenbewegung des 19. Jahrhunderts, genauer gesagt im Jahr 1865 mit der ersten großen deutschen Frauenkonferenz. Regina Ammicht Quinn, Direktorin  des Zentrums für Gender- und Diversitätsforschung in Tübingen, nennt als das große Thema dieser ersten Phase der Frauenbewegung den Wunsch nach Gleichheit. In diesem Kampf geht es um „Gleichberechtigung, um gleichen Zugang zu Bildung, zu politischer Mitbestimmung, zu Ämtern aller Art.“ Die zweite Phase beginnt in den 1970er Jahren: „Frauenidentifizierte Räume werden geschaffen und Frauengeschichte wird geschrieben; dies ermöglicht es, das Eigene als Eigenes wahrzunehmen und schätzen zu können.“ In dieser Phase wird vor allem die Unterscheidung, die Differenz, betont. Weder das Streben nach Gleichheit noch Differenz sind gesellschaftlich, politisch oder kirchlich erschöpfend erreicht, münden nun aber in eine dritte Phase, eben die der Genderforschung und Genderpraxis. 

 

Unterscheidung sex und gender

Hier sind dann schließlich zwei Begriffe zentral, nämlich sex und gender. Mit ersterem wird das biologische Geschlecht des Menschen bezeichnet, mit letzterem das soziale Geschlecht, also die geschlechtsspezifischen Klischees, Rollen und Attribute – die gesellschaftlichen Zuschreibungen, von denen bereits weiter oben die Rede war.

Die Forschung stellt fest, dass „Geschlechterzuschreibungen, Geschlechterrollen und Hierarchisierungen historisch entstanden sind und durch gesellschaftliche Strukturierungen, Aushandlungen und Bedeutungszuschreibungen zustande kommen“ (Carolin Küppers); Zuständigkeitsbereiche wie „Kinder, Küche, Kirche“ (Frau) oder Broterwerb (Mann) sind also keineswegs gottgegeben oder naturrechtlich bedingt, sondern Entwicklungen und Konzeptionen im Lauf der Zeit. Das soziale Geschlecht (gender) ist damit oft weniger eindeutig, als man es vielleicht zunächst annimmt.

Hinzu kommt die Beobachtung, dass auch die Biologie oft weniger eindeutig ist als gemeinhin angenommen. Hier ist die Rede vom chromosomalen Geschlecht (XX bzw. XY), vom gonadalen Geschlecht (innere Fortpflanzungsorgane), vom hormonellen Geschlecht (Hormonkonzentrationen) und vom morphologischen Geschlecht (Genitalien, sekundäre Geschlechtsmerkmale). Und unter all diesen Blickwinkeln kann es zu Uneindeutigkeiten kommen, zum Beispiel dann, wenn die Geschlechtschromosomen vom XX- bzw. XY-Schema abweichen. So können unter Umständen die äußeren und inneren Geschlechtsorgane zwar weiblich ausgebildet werden, die Geschlechtsreife aber tritt nicht ein (Turner-Syndrom). Die Zahl derer, die in Deutschland in der Folge als „intersexuell“ (mit uneindeutigem Genital bei der Geburt) bezeichnet werden, wird auf ca. 0,2 Prozent der Bevölkerung geschätzt. 

In der Differenzierung von sex und gender sind „Transgender“ dann Menschen, die sich mit ihrem zugewiesenen Geschlecht falsch oder unzureichend beschrieben fühlen oder eine Geschlechtskategorisierung grundsätzlich ablehnen. 

 

Komplex und uneindeutig

Noch weitaus komplexer definierten drei US-Sozialpsychologen im Jahr 2018 mögliche denkbare Konstellationen: 

Genderqueer: Beschreibt Personen, die sich als weder/noch identifizieren, oder als beides oder als Kombination von Mann und Frau.

Genderfluid: Beschreibt Personen, deren Geschlechtsidentität sich verschiebt oder flexibel verändert, statt anhaltend gleich zu bleiben.

Bigender: Beschreibt Personen, die zwischen den Geschlechts-identitäten Frau und Mann wechseln.

Trigender: Beschreibt Personen, die zwischen Frau, Mann und einer dritten Geschlechtsidentität wechseln.

Agender: Beschreibt Personen, die sich innerlich als ungeschlechtlich empfinden.

Die Uneindeutigkeit fängt der Gesetzgeber in Deutschland und Österreich seit einiger Zeit durch die Möglichkeit einer dritten Geschlechtsoption neben weiblich und männlich ein. Seit Dezember 2018 kann im deutschen Personenstandsregister die Angabe „divers“ eingetragen werden. In Österreich kann, sofern das Geburtsgeschlecht unklar ist, eine Entscheidung für das rechtliche Geschlecht auch erst später erfolgen. Solche Regelungen – wie auch das „Gendersternchen“, welches in geschlechtergerechter Sprache zunehmend Verwendung findet – sorgen nicht selten für Aufregung und tun die komplette Gender-Diskussion schnell als Irrweg oder gar „Spinnerei“ ab. 

Sachlichkeit lässt sich mit Blick auf Zahlenmaterial vielleicht wiedergewinnen: Nach dem ersten Halbjahr der Möglichkeit, sein Geschlecht als „divers“ eintragen zu lassen, nahmen nur 69 Personen in Deutschland davon Gebrauch; etwa 250 Personen ließen ihr eingetragenes Geschlecht von „männlich“ zu „weiblich“ ändern bzw. umgekehrt. 

 

Weniger Aufregung, mehr Dialog

Was so „gefährlich“ klingt wie „Gender-Mainstreaming“ meint dann so viel wie etwa: ein Thema, ein Anliegen alltäglich zu machen und in den „Hauptstrom“ (mainstream) des politischen und kirchlichen Handelns einzubringen. Wie selbstverständlich soll dieses dann bei sämtlichen Entscheidungen berücksichtigt werden. Es geht dabei nicht vor allem um die vermeintlich willkürliche und ständig änderbare Wahl des Geschlechts, sondern insgesamt um Chancengerechtigkeit zwischen Frau und Mann. Das reicht von Bedingungen am Arbeitsplatz über spezielle Fördermaßnahmen im Bildungs- und Erziehungsbereich bis hin zu einer größeren Sensibilität im Gebrauch der Sprache. 

Das oben bereits zitierte Schreiben der vatikanischen Bildungskommission spricht denn auch von „Berührungspunkten“ zwischen Gender-Forschung und christlichen Anliegen, nicht zuletzt die gleiche Würde von Frau und Mann und der gegenseitige Respekt. Bei aller berechtigten und notwendigen Gender-Kritik wird deshalb zum Dialog gemahnt – und vielleicht ist ein erster Schritt dazu die Einsicht, dass nicht immer alles so eindeutig und klar ist, wie wir das gerne hätten und vielleicht lange geglaubt haben. 

Zuletzt aktualisiert: 06. April 2020
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