Auf der Suche nach Herkunft und Heimat
Unser Beitrag rückt – rund um Weihnachten, dem „Fest der Familie“ – die Not von Kindern in den Mittelpunkt, die als Kleinkinder aus dem Ausland adoptiert wurden.
Es gibt Themen, die längst Themen sind, aber eben nicht die eigenen. Vielleicht weil eine Sache einen selbst nicht berührt, weil etwas mich selbst nicht betrifft, weil es weit weg von mir ist – oder aber weil man schlicht und ergreifend von vielen Themen noch nie etwas gehört, gelesen oder gesehen hat. Und immer wieder kommt es vor, dass es dann „plötzlich“ so weit ist: Per scheinbarem Zufall stößt man auf etwas, das einen nicht mehr loslässt, das einen beschäftigt. So ging es mir Ende August. Spätabends im Fernsehen sah ich den Film „Umstrittene Auslandsadoption“. Beim Durchzappen war ich hängengeblieben, weil da jemand im schönsten Schwyzerdütsch sprach und seine Lebensgeschichte erzählte – eine Lebensgeschichte, die mich irgendwie neugierig machte, so dass ich mir kurz darauf das Buch „Importkind“ kaufte, verfasst von Hanbekks. Der Name ist das Pseudonym einer Frau, die 1972 in Südkorea geboren und 1976 in die Schweiz adoptiert wurde.
Als Kleinkind in die Schweiz
Auf fast 200 Seiten erzählt Hanbekks ihre Geschichte, die sie selbst erst nach und nach herausfindet. In der ersten Schweizer Familie, wo man sie Martina nennt, kommt es vermutlich zu Übergriffen. Sie ist dort jedenfalls nur kurz; bald darauf wird sie in einem Kinderheim untergebracht. Die neue Familie mit drei eigenen Kindern will eigentlich ein „Peruanerkind“: „Aber Peruanerkinder waren eben leider nicht zu haben, also haben sie halt mich, kein Peruanerkind. (…) Was für ein Pech.“ (S. 26) Sie wird auf den Namen Rebekka getauft, ist eigentlich ganz gut integriert, musikalisch, sportlich begabt; doch in der Familie wird sie kurzgehalten. Und überhaupt: „Aufwachsen in der Schweiz in den 70ern und 80ern ist ein Albtraum. Nicht für Schweizer, nicht für Weiße. Denen geht es super, trotz kaltem Krieg und Waldsterben. Für ein adoptiertes Mädchen aus Korea ist es schwierig – und zwar jeden Tag aufs Neue. Rassismus wird noch gar nicht als solcher erkannt. Stattdessen werde ich einfach täglich ausgelacht und vermöbelt. Ich habe eine Kindheit lang Angst, bin aggressiv, jeden Tag ein bisschen mehr.“ (S. 41) Eine Lehre bricht sie ab. Sie hat mehrere Beziehungen mit Männern, heiratet, bringt zwei Töchter zur Welt – das Auf und Ab des Lebens, immer aber begleitet von der Frage nach Herkunft und Heimat.
Zwischen Daheim und Fremde
Als sie sich entschließt, 2004 für einen Besuch nach Südkorea „zurückzukehren“, um sich auf die Suche nach ihrer Ursprungsfamilie zu machen, denkt sie an jeder Straßenecke „Könnte das meine Mutter sein?“ (S. 67) Nach und nach muss sie begreifen, dass sie als Kind zur Adoption auch deshalb freigegeben wurde, weil Mädchen in Südkorea damals wirtschaftlich als eine „Investition ohne langfristigen Nutzen“ (S. 68) gelten. Drei Jahre nach ihr wird ihren leiblichen Eltern der ersehnte Sohn geboren. Begegnungen mit ihren Verwandten fühlen sich surreal, ja oft beklemmend an – schon allein deshalb, weil sie nur mühsam Koreanisch lernt. Ihrer Familie erscheint sie als völlige Fremde. Ernüchtert stellt sie fest: „Junge Adoptierte, viele von ihnen bereits in ihrer neuen Heimat diskriminiert, kommen voller Hoffnung nach Korea zurück und stellen fest, dass niemand auf sie gewartet hat. Sie sprechen die Sprache nicht, kennen die Kultur nicht und haben kein Netzwerk, auf das sie sich verlassen können. Mit der Zeit wird deutlich, dass viele hoffen, in Korea, also unter ihresgleichen, endlich mehr Akzeptanz und Erfolg zu finden. Doch die bittere Wahrheit ist, dass sie hier genauso fremd sind. Sie sind in einem anderen Land aufgewachsen, anders sozialisiert und wissen, wie ich, oft nicht einmal, wie tief sie sich bei welcher Begegnung verbeugen sollen.“ (S. 132)
Zum Wohl des Kindes?
Hanbekks Geschichte macht mich auf ein Phänomen aufmerksam, das mir bis dahin kaum bewusst war: Auslandsadoptionen. Das Familienportal der deutschen Bundesregierung definiert dazu: „Von einer Auslandsadoption spricht man dann, wenn das Kind vor der Adoption in einem anderen Staat lebt und aufgrund der Adoption nach Deutschland zieht.“ Die Staatsangehörigkeit von Kind und Adoptionseltern spielt dabei keine Rolle. Eine Adoption kann im Ausland, aber auch in Deutschland stattfinden. Wenn das Kind unter 18 ist und bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind, bekommt es mit der Adoption die deutsche Staatsbürgerschaft. Die Zahl der Adoptionen in Deutschland ist jedoch historisch tief. 2024 wurden 3.662 Kinder adoptiert, wobei 74% aller Adoptionen durch Stiefmütter und -väter geschahen. Aus dem Ausland wurden nur 2% der Kinder angenommen, am häufigsten aus Thailand, Südafrika und Sri Lanka. In solchen Fällen ist das „Haager Übereinkommen“ vom 29. Mai 1993 „über den Schutz von Kindern und die Zusammenarbeit auf dem Gebiet der internationalen Adoption“ zu beachten. Dieses wurde geschlossen, weil man es – siehe Präambel – als notwendig erkannt hat, „Maßnahmen zu treffen, um sicherzustellen, dass internationale Adoptionen zum Wohl des Kindes und unter Wahrung seiner Grundrechte stattfinden, und die Entführung und den Verkauf von Kindern sowie den Handel mit Kindern zu verhindern“.
Von Missbräuchen und Kinderdieben
Wie notwendig solche Sicherungsmaßnahmen sind (oder wären) haben Enthüllungen der letzten Jahre gezeigt. Der Schweizer Bundesrat musste beispielsweise im Januar dieses Jahres einräumen, dass es bei internationalen Adoptionen zwischen den 1970er und 1990er Jahren zu erheblichen Verfehlungen gekommen ist. Zahlreiche Studien belegen mittlerweile, dass es im Rahmen von Auslandsadoptionen weltweit zu systematischen Menschenrechtsverletzungen kam: Papiere wurden gefälscht, mit Kindern wurde gehandelt, Staaten organisierten Zwangsadoptionen. Die Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften hat auf mehreren hundert Seiten in einer 2023 veröffentlichten Untersuchung massive Verstöße dokumentiert, wenn Kinder aus Bangladesch, Chile, Indien und Rumänien adoptiert wurden. Eine genaue Zahl von Betroffenen ist aufgrund der Aktenlage nicht zu ermitteln; die Zahl der erteilten Einreisebewilligungen im untersuchten Zeitraum legt aber nahe, dass mehrere tausend Adoptivkinder von den Unregelmäßigkeiten betroffen sein könnten.
Hinter solchen enormen Zahlen stehen Lebensgeschichten und Schicksale – wie das von Hanbekks. Die Süddeutsche Zeitung spricht in einem Beitrag zu Auslandsadoptionen in Schweden denn auch ganz ungeschminkt von „Kinderdieben“, die über Jahrzehnte am Werk waren.
Geplantes Verbot
Nach in den Niederlanden publik gewordenen Skandalen hat man dort Auslandsadoptionen mit sofortiger Wirkung gestoppt, später wieder aufgenommen, mittlerweile aber – wie in anderen europäischen Ländern auch – final beendet. Der Schweizer Bundesrat hat nach den oben geschilderten Enthüllungen am 29. Januar 2025 den Grundsatzentscheid getroffen, internationale Adoptionen für die Zukunft zu beenden. Dazu wurde erklärt: „Dieser Entscheid beruht auf der Feststellung einer Expertengruppe, dass selbst eine grundlegende Revision des aktuellen Systems nicht ausreichen würde, um jegliche irreguläre Praktiken zu verhindern. Ein Verbot ist somit die einzige Möglichkeit, alle Betroffenen, insbesondere die Kinder, vor diesen irregulären Praktiken ausreichend zu schützen.“ Um des einzelnen Kindes willen hat man sich dazu entschlossen, auch wenn es in der Schweiz längst keine mehrere hundert Auslandsadoptionen mehr pro Jahr gibt, sondern „nur“ noch rund 30.
Widerstand und Protest
Gegen den Beschluss hat sich rasch Widerstand formiert. Die Petition „Auslandsadoptionen retten!“, verfasst von EVP-Nationalrat Nik Gugger, selbst in Indien geboren und von einem Schweizer Ehepaar adoptiert, wird unter anderem von Mitte-Nationalrat Stefan Müller-Altermatt unterstützt. Er hat einen an Trisomie21 leidenden Jungen aus Armenien adoptiert und ist überzeugt, diese Adoption sei „das Beste, was ich in meinem Leben getan habe!“ Im April wurde die Petition mit über 10.000 Unterstützer-Unterschriften übergeben. Auslandsadoptionen sollen erhalten bleiben, weil sie „Waisen und verlassenen Kindern Zugang zu Bildung, medizinischer Versorgung und einer liebevollen Familie“ bieten. Die Unterzeichner sind überzeugt: „Mit strengen gesetzlichen Kontrollen lassen sich Missbrauch und Kinderhandel wirksam eindämmen, sodass Adoptionen transparent und im Sinne des Kindeswohls erfolgen. Das ist die bessere Option, statt wegen vermeidbaren Missbräuchen zahlreichen Kindern und Adoptiveltern das Familienglück zu verwehren und bestehende Adoptivfamilien mit einem Verbot zu stigmatisieren.“
Mehr Kontrolle und Transparenz
Ob das angestrebte Familienglück der Adoptiveltern tatsächlich ein hinreichendes Argument sein kann, Auslandsadoptionen zu unterstützen, das wird man wohl durchaus bezweifeln können. Doch der Schweizer Nationalrat hat im Herbst bekanntgegeben, Einwände und Bedenken gegen das vom Bundesrat angestrebte Verbot ernst zu nehmen. Statt eines Verbots strebe man nur an, Kontrolle und Transparenz weiter zu verstärken, um Missbrauch bei Adoptionen möglichst zu verhindern. Das Anliegen solle in der Breite der Gesellschaft diskutiert werden.
Dass grundsätzlich – und über die Schweiz hinaus – Diskussions- und Handlungsbedarf besteht, zeigt der Blick in einen UN-Bericht für Peru: Dieser stellt fest, dass selbst noch im Jahr 2024 zwischen 700 und 800 Kinder im Alter von 12 bis 17 Jahren „verschwunden“ sind. Experten halten es für höchst plausibel, dass auch sie zum Opfer des internationalen Kinderhandels geworden sind.
Den Einzelnen im Blick behalten
Es dürfte außer Frage stehen, dass Adoptionen durch Familien ein großer Gewinn sein können. Allerdings können Menschen damit auch Zeit ihres Lebens vor große Herausforderungen und Schwierigkeiten gestellt sein: Fast jeder beschäftigt sich im Lauf des Lebens mit den eigenen Wurzeln und seiner Herkunft. Wer adoptiert wurde, vermag oft nicht zu verstehen, warum er von seiner Mutter getrennt wurde. Und selbst wenn Adoptierten das Recht auf Kenntnis der eigenen Herkunft gesetzlich zusteht, werden Betroffene in der Praxis bei der mühsamen Recherche zu ihrer Herkunft oft alleingelassen – gerade im internationalen Kontext. Solche Gefahren muss der Gesetzgeber in den Blick nehmen. Betroffene wie Hanbekks berichten von einem bedrängenden Gefühl der Nichtzugehörigkeit, das Zuhause ist weder hier noch da. Somit ist die Suche nach Herkunft, Identität und Heimat nicht selten eine große Last. Hanbekks hat sich zur Schweizer Debatte und der Petition „Auslandsadoptionen retten!“ in einem Leserbrief geäußert und ist überzeugt: „Wer Kindern wirklich helfen will, sorgt für medizinische Versorgung, Bildung und soziale Sicherheit in ihrem Herkunftsland. Es gibt wirksame Formen der Unterstützung, ohne dass Kinder entwurzelt und an das andere Ende der Welt verpflanzt werden müssen.“
Hilfe direkt vor Ort
Wer das Kindeswohl wirklich in den Mittelpunkt stellen will, muss auch über Alternativen zur internationalen Adoption sprechen. Vielerorts hat sich gezeigt, dass gezielte Hilfsprogramme im Herkunftsland Kindern langfristig besser helfen können, als sie aus ihrem kulturellen Umfeld zu reißen. Dazu gehören der Ausbau von Pflegefamilienstrukturen, lokalen Adoptionsmöglichkeiten, finanzieller Familienhilfe und Bildungs- sowie Gesundheitsprojekten, wie sie unter anderem auch von der Caritas Antoniana unterstützt werden. Wenn Armut oder gesellschaftlicher Druck der Hauptgrund für eine Abgabe sind, können schon kleine Unterstützungsmaßnahmen verhindern, dass Kinder von ihren Eltern getrennt werden. Auch internationale Partnerschaften zwischen Sozialdiensten und Hilfsorganisationen können dazu beitragen, Familien zu stärken und Kindern ein Aufwachsen in vertrauter Umgebung zu ermöglichen. Damit würde Hilfe dort ansetzen, wo sie am meisten bewirkt – beim Erhalt der familiären Bindung, nicht erst bei ihrer Wiederherstellung.
Lesetipp
zur Vertiefung
Hanbekks: Importkind. Voima-Verlag, 186 Seiten, kartoniert, € 22,80 (D), € 24,50 (A), CHF 20,25.