Das Vaterunser

09. September 2024 | von

Immer wieder hören wir in Eucharistiefeiern die Aufforderung: „Lasst uns beten wie der Herr uns zu beten gelehrt hat.“ Dann beten wir es – dieses Gebet, das uns vielleicht durch ein ganzes Leben hindurch begleitet hat und begleitet: Das Vaterunser.

Ein ganz zentrales Gebet war es schon zu den Anfängen der christlichen Gemeinde – das Vaterunser, das sich aus dem Evangelium ableitet. Man kann wohl sagen, dass das Vaterunser ein Grundtext unseres Glaubens und in der Verkündigung ist, zusammen mit dem Glaubensbekenntnis, um das in den ersten christlichen Jahrhunderten intensiv gerungen wurde, und den Zehn Geboten. Ein Grundtext auch des persönlichen Betens, des gemeinsamen Betens, des gelebten Glaubens: Auch im Alltagssprachlichen reden wir ja häufig vom „täglichen Brot“. 

Gebrauchstext des Glaubens
Das Vaterunser ist uns an drei Stellen überliefert: im Lukas-Evangelium, im Matthäus-Evangelium und dann auch, was viele nicht wissen, in der sogenannten Zwölf-Apostel-Lehre. Das ist ein sehr früher Text aus dem 1. Jahrhundert. Er kommt aus Syrien und zeigt damit deutlich, wie verbreitet und wie lebendig er wahrscheinlich auch als Gebet war, als Gebrauchstext des Glaubens. 
Drei Schlaglichter möchte ich darauf werfen: einmal die Anrede „Vater unser im Himmel“, zum zweiten die Bitte „Dein Reich komme“ und dann schließlich „Unser tägliches Brot gib uns heute“. 

Vertrauensvolle Nähe
Zunächst also: „Vater unser im Himmel“. Die Vater-Anrede drückt ja zunächst etwas aus, was Jesus Christus selbst betrifft, nämlich seine Beziehung zu Gott. Eigentlich unverschämt, was hier gesagt wird: zu Gott „Vater“ zu sagen. Etwas so Nahes. Vater unser, du bist unser Vater. Jesus sagt das als Gottes Sohn und Menschensohn, lädt uns aber ein, dies genauso zu tun, als Gottes Kinder und Menschenkinder: zu Gott „Papa“, „Vater“ zu sagen. So nah, so zärtlich, so vertraut ist unser Gott. 
Aber da steht ja nicht nur „Vater“, sondern „Vater unser im Himmel“. Himmel – eine ganz natürliche Reaktion vielleicht von Menschen, die glauben, dass der Blick zunächst einmal nach oben geht. So sind ja auch zumindest alte und ältere Kirchen gebaut: Sie streben in die Höhe. Gott ist irgendwie oben, aber zugleich ist er eben auch unten. Ein zutiefst franziskanischer Gedanke. Gott ist hinabgekommen, hinabgestiegen, er ist Mensch geworden in Jesus Christus. Gott, der Allerhöchste, der oben im Himmel ist, er ist zugleich der, der hinabgekommen ist in all unsere Nöte, der mit uns ist in unseren Krankheiten, in dem, was uns Mühe macht im Leben, im täglichen Kreuz, das er ja auf sich genommen hat und das auch wir auf unsere Weise auf uns nehmen müssen. Gott, der Vater im Himmel, ist zugleich der, der uns als vertrauter Vater ganz nah ist. 

Bild mit Grenzen
Gewiss ist es nicht unproblematisch, von Gott zu sagen, dass er Vater ist. Denn die Vater-Beziehung zum biologischen Vater des Menschen ist ja nicht immer spannungsfrei. Wir sagen von Gott: Er ist der Barmherzige. Wer den eigenen Vater aber eben nicht als barmherzig erlebt hat, für den mag es schwierig sein, zu sagen: Gott ist wie ein Vater. 
Franziskus von Assisi hatte dieses Problem ebenfalls. Es gibt eine spektakuläre Szene, als er auf der Suche nach seiner Berufung war und immer mehr spürte: Sein Platz ist nicht in der Oberstadt, sondern unten bei den Armen, an der Seite derer, die ausgegrenzt sind. Er will das Evangelium leben und entdeckt es dort besonders bei den Aussätzigen. So gerät er in Streit mit seinem Vater, der doch ein reicher Tuchhändler war und große Pläne hatte mit seinem erstgeborenen Sohn. Es kommt schließlich zu einer spektakulären Gerichtsszene vor dem Bischof. Weil Franziskus sich als Büßer bezeichnet hat, ist der Bischof für ihn zuständig. Der Vater möchte all das zurückhaben, was Franziskus verschenkt hat an Geld, Stoffen, weichen Tüchern vom Tuchhandel. Und natürlich will er seinen Sohn wieder zur Besinnung bringen. Da passiert es, dass sich Franziskus nackt auszieht, seine Kleider dem Vater übergibt und sagt: „Von nun an will ich nicht mehr sagen Vater Pietro Bernardone, sondern Vater unser im Himmel.“ Ob das wirklich so radikal gemeint war? Franziskus folgt Gott nach, dem gütigen, dem barmherzigen Vater, vertraut sich ihm ganz an, was in diesem Fall sogar zur Abgrenzung vom leiblichen Vater führt. 
Vermerken wir: Gottesbilder können auch begrenzt sein, und natürlich ist das Bild vom Vater eben doch auch nur ein Bild mit all den Chancen, der Nähe der Vertrautheit, des Schutzes, der Geborgenheit, aber vielleicht auch mit allen Grenzen. 
Die Sinnmitte von alledem ist die Gottesnähe. Gott ist uns nah. Dies will „Vater unser im Himmel“ sagen. Der ferne Gott, der große Gott ist uns doch so demütig nahe, mit uns: Immanuel, Gott mit uns. 

Traum vom Besseren
Ein zweiter Aspekt: „Dein Reich komme“ – gerade im Deutschen auch wieder nicht so einfach, denn bei „Reich“ klingt für viele noch etwas mit aus der deutschen Geschichte. Wir können vielleicht auch ein anderes Wort dafür verwenden, nämlich: die neue Welt Gottes. Jesus Christus hatte ganz offensichtlich eine Vision, einen Traum, eine Inspiration, wie Gott sich die Welt, unsere Welt, eigentlich gedacht hat, die neue Welt Gottes: „Seht, ich mache alles neu.“ (Offb 21,5) Das Reich Gottes ist also so etwas wie das Programm Jesu, etwas, das Wirklichkeit werden soll, etwas, das uns als Christinnen und Christen mitgegeben ist. Daran dürfen, können, sollen wir mitarbeiten. Wir kennen das auch heute. Viele Organisationen fragen sich im Rahmen von Entwicklungsprozessen: Was ist eigentlich unsere Vision? Wo wollen wir hin? Wovon träumen wir? Und dann ganz konkret: Was ist unsere Mission, woran arbeiten wir jetzt konkret? Eine Vision – oder eine Art Idealbild – das braucht es im Leben. Wir dürfen, ja, wir müssen träumen. Träumen dürfen wir auch von einer besseren Welt. Gott tut das auch, nämlich von seiner neuen Welt. Und er träumt nicht nur…

Vom Träumen zum Konkreten
Wir kennen das berühmte Wort von Martin Luther King: „I have a dream“, „Ich habe einen Traum.“ Und dann träumt er zusammen mit den Menschen, die damals versammelt waren und ihm zuhörten, von dieser Welt der Gleichheit und Geschwisterlichkeit, wo es keine Diskriminierung gibt. Martin Luther King hat das nicht mehr erlebt; wie so viele, die solche Träume träumen, ja, wie Jesus Christus selbst das nicht mehr erlebt hat. Aber es ist trotzdem wichtig, diesen Traum zu haben. Denn das kann dann zur Mission führen, zur Sendung, zum konkreten Auftrag. So, wie Jesus Christus uns das vorgemacht hat: zu heilen in den Begegnungen des Alltags, Menschen aufzurichten, zu trösten, ihnen ein gutes Wort mitzugeben, hilfreich zur Seite zu stehen. Damit kommen wir an kein Ende, und wir werden diese neue Welt so vermutlich auch nicht mehr erleben. Und doch ist sie uns mitgegeben. 

Propheten der Zukunft
Erzbischof Oscar Romero, mittlerweile heiliggesprochen, hat das einmal sehr schön in einer seiner letzten Ansprachen zum Ausdruck gebracht – kurz vor seiner Ermordung im Jahr 1980. Er sagte: „Wir können nicht alles tun. Es ist ein befreiendes Gefühl, wenn uns dies zu Bewusstsein kommt. Es macht uns fähig, etwas zu tun und es sehr gut zu tun. Es mag unvollkommen sein, aber es ist ein Beginn, ein Schritt auf dem Weg, eine Gelegenheit für Gottes Gnade, ins Spiel zu kommen und den Rest zu tun. Wir mögen nie das Endergebnis zu sehen bekommen, doch das ist der Unterschied zwischen Baumeister und Arbeiter. Wir sind Arbeiter, keine Baumeister. Wir sind Diener, keine Erlöser. Wir sind Propheten einer Zukunft, die nicht allein uns gehört.“ 
An diesem großartigen Zitat wird deutlich: Da träumt auch einer den Traum Jesu, den Traum vom Reich Gottes, von Gottes neuer Welt. Von dieser Welt dürfen wir künden, von dieser Welt sind wir Zeuginnen und Zeugen, Prophetinnen und Propheten. Wir bauen daran, auch wenn wir die Realisierung vielleicht noch nicht erleben. Damit wird deutlich: In unserem Leben geht es letztlich nicht um uns. Wir müssen nicht um uns selbst kreisen, auch wenn die Versuchung immer wieder groß ist. Wir dürfen kreisen um das Projekt von Gottes neuer Welt. Das ist unsere Vision als Christinnen und Christen, daran dürfen wir arbeiten. 

Bitte um das Lebensnotwendige
Ein dritter Aspekt: „Unser tägliches Brot gib uns heute“. Das ist etwas ganz Klassisches. Brot ist in unseren Breiten ein Grundnahrungsmittel. 
Die Bitten in diesem Teil des Vaterunsers sind sehr konkret. Sie wenden sich irdischen Belangen zu. Die Brot-Bitte ist ja auch sehr konkret. Tägliches Brot: Es ist notwendig, dass wir Nahrung haben. Das zeigt unsere Bedürftigkeit als Geschöpfe, auch unsere Bedürftigkeit gegenüber Gott. Tägliches Brot – gib uns das, was wir zum Leben brauchen – das steckt in dieser Bitte. Jeder und jede von uns kann ergänzen, was tägliches Brot sein kann. Vielleicht ein liebes Wort, ein Stück mehr Gesundheit, alles das, was mich aufrichtet und nährt. 
Aber Brot ist mehr, auch das klingt hier schon an. Das Volk Israel hatte eine besondere Beziehung zum Brot: „Brot vom Himmel hast du uns gegeben“, Manna, Himmelsbrot, welches das Volk Israel auf dem Weg durch die Wüste nährte – das klingt mit. Brot ist immer auch ein Zeichen für mehr. 

Zeichen göttlicher Nähe
Auch ich habe meine ganz persönliche Brotgeschichte – eine Geschichte, die davon erzählt, dass Brot auch noch mehr sein kann als nur die Nahrung für den Körper. Ich denke an Addi, einen polnischen Punk in Köln, den ich einmal bei einer Suppenausgabe für Bedürftige kennengelernt habe. Ich war einige Jahre Wohnungslosen-Seelsorger in Köln und so immer wieder mit Obdachlosen, Punks und Menschen auf der Straße zusammen. Regelmäßig war ich mit einer Franziskanerin unterwegs und traf auf der Straße Menschen mit Lebensunfällen. Es ging dann darum, ihnen Mut zu machen zum nächsten notwendigen Schritt. Addi, den polnischen Punk, traf ich bei der Suppenausgabe am Appellhofplatz. Dort erzählte er mir von seinem chaotischen Alltag, von sehr lauter Musik, von seiner Sehnsucht nach einem anderen Leben. Auch von seinem Suchen und Scheitern und seinen immer neuen Anfängen. Von seinem Elternhaus, von dem er weggelaufen war, in der polnischen Heimat. 
Eines Abends im Sommer saßen wir also wieder am Appellhofplatz beisammen auf dem Bordstein, und er schlürfte Suppe, kaute an einem Stück Brot und erzählte. Und während er erzählte und quasi mit mir sehr vertrauensvoll sein Leben teilte, drehte er sich zu mir um und meinte: „Du hast ja gar nichts zu essen!“ Stimmt, ich habe mir dort nie eine Suppe geholt, ich wollte ja zuhören und nicht selber mit irgendwas beschäftigt sein. Da nahm Addi sein Brot, brach es und reichte es mir. Sie können sich vielleicht vorstellen, was in diesem Moment in mir geschah, was mir da durch Herz und Sinn ging, als jemandem, der eben immer wieder selbst Eucharistie feiert oder mitfeiert. In diesem Moment, als Addi mit mir das Brot teilte, so ganz spontan, war das für mich ein heiliger Moment, ein eucharistischer Moment. Ohne es zu wissen, hat Addi mir die Augen geöffnet für Gottes verborgene Gegenwart dort auf der Straße mitten im Alltag. Gewiss waren das meine Empfindungen und mein Denken, und bestimmt nicht Addis Denken. Aber für mich wurde das Brot in diesem Augenblick mehr als nur Nahrung: Es wurde ein Zeichen der Nähe Gottes, ein Sakrament für Gottes Nähe unter uns. Ein Grund, Danke zu sagen. Eucharistie. Ja. 

Persönlicher Bezug
Das Vaterunser. Das Vaterunser und ich, das Vaterunser und Sie. Mit welcher Bitte sind Sie unterwegs durch Ihr Leben? Welche Bitte, welcher Gedanke, welches Wort spricht Sie im Vaterunser besonders an? Ist das Vaterunser auch für Sie ein Lebensgebet? 
Vielleicht nehmen Sie diese Frage mit in diesen Monat. Und beim nächsten Beten des Vaterunsers, vielleicht auch gleich jetzt schon, spüren Sie einmal nach, was Ihnen gerade die liebste, die wichtigste Bitte ist, das wichtigste Wort, das nährt, Kraft gibt, Mut macht zum nächsten Schritt, uns durch ein Leben gehen lässt mit Gott. 
 

Zuletzt aktualisiert: 09. September 2024
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